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       # taz.de -- Buch „Afrotopia“: „Der“ afrikanische Mensch
       
       > Felwine Sarr ist eine wichtige Stimme im Streit um koloniale Raubobjekte.
       > Doch sein Buch ist ein Pamphlet für ahnungslose Kulturalisten.
       
   IMG Bild: Felwine Sarr (links) und Bénédicte Savoy über die Rückführung von afrikanischer Kunst
       
       Im Namen von europäischen Kolonialregimen wurden schwere Verbrechen gegen
       die Menschlichkeit begangen. Wie etwa von Deutschen 1904 bis 1908 im
       heutigen [1][Namibia], als die dortigen kaiserlichen „Schutztruppen“ den
       Genozid an Nama und Herero begingen. Doch sollten moralisierende
       Täter-Opfer-Formeln nicht den Blick auf die Details der Geschichte
       verstellen.
       
       Der europäische Kolonialismus hat sehr unterschiedliche Modelle
       hervorgebracht. Und er war in seiner Gesamtheit seit der um 1500
       einsetzenden Phase der Globalisierung kein im biologistischen Sinne rein
       europäisches Konstrukt. Seine Durchsetzungsfähigkeit verdankte er auch den
       internen Widersprüchen und Konkurrenzen vorgefundener indigener
       Herrschaftssysteme.
       
       Genauer zurückzuschauen ist heute eine große Chance. Zumindest die
       Demokratien wollen mehrheitlich ohne patriotischen Überlegenheitskult
       agieren. Das macht sich auch in der aktuellen [2][Debatte] um teilweise
       geraubte koloniale Güter in den Museen bemerkbar. Lange zögerte man in der
       westlichen Welt, sich mit deren [3][Erwerbskontext] zu beschäftigen.
       
       So ist man größtenteils aus eigenem Versäumnis in eine Situation geraten,
       in der nun viele den ethnologischen Sammlungen insgesamt misstrauen. Neben
       der überfälligen Kritik schlägt so auch die Stunde postkolonialer
       Populisten. Sie legen wie die französische Kunsthistorikerin Bénédicte
       Savoy und ihr senegalesischer Mitstreiter Felwine Sarr nahe, alles in den
       europäischen Sammlungen sei geraubt und solle daher am besten gleich an die
       früheren Herkunftsländer zurückgehen.
       
       ## Völkisch-afrozentristisches Gegenmodell
       
       Doch mit formelhaften Schwarz-Weiß-Behauptungen würde man die Türen für
       einen nachhaltigen Austausch eher zuschlagen als für die Zukunft öffnen.
       Man würde, wie Felwine Sarrs Schrift „Afrotopia“ zeigt, überkommenen
       Abgrenzungen und Nationalismen verhaftet bleiben. Der 1972 geborene Sarr
       lehnt als einer der Stichwortgeber Savoys nicht nur Begriffe wie
       „Entwicklungshilfe“ ab (was noch nachvollziehbar ist, da sie ideologisch
       imprägniert sind). Er propagiert gleich ein völkisch-afrozentristisches
       Gegenmodell.
       
       „Jedes weitertreibende Nachdenken über den afrikanischen Kontinent muss dem
       Anspruch einer absoluten intellektuellen Souveränität genügen“, schreibt
       er. Die „absolute Souveränität“ sucht er in „Afrotopia“ in kulturellen
       Praktiken vor 1500. Denn nur vor der damals einsetzenden Globalisierung
       lägen Wissenstraditionen, die frei vom Denken des Westen sein sollen.
       
       Sarr sieht sämtliche der (so unterschiedlichen) Probleme heutiger
       afrikanischer Staaten durch äußere Einflussnahme und Fremdbestimmung
       bedingt. „Anstelle einer Stärkung des Originellen, der charakterlichen
       Besonderheiten der Völker“ sei es „zur Verordnung eines einheitlichen
       Modells“ gekommen, schreibt er, inklusive „monströser Strukturen einer
       erbarmungslosen globalen Wirtschaftsordnung.“
       
       ## Anspruch für 50 Nationen zu sprechen
       
       Mit solch antikapitalistisch klingender Rhetorik täuscht er links an, um
       rechts abzubiegen: „Der afrikanische Mensch der Gegenwart ist hin- und
       hergerissen zwischen einer Tradition, mit der er nicht mehr vertraut ist,
       und einer Moderne, die ihn von außen befallen hat wie eine zerstörerische,
       entmenschlichende Gewalt.“ So formulieren das in Europa die
       Rechtspopulisten, nur in Abwehr von Einflüssen aus den Migrationen des
       Südens. Ersetzte man in Sarrs Wortlaut das Wörtchen „afrikanische“ durch
       „sächsische“, der AfD würde es gefallen.
       
       All die historischen Widersprüche und Konkurrenzen, die vor Ankunft der
       Europäer unter den afrikanischen Nationen und Gruppen herrschten,
       interessieren Sarr nicht. Sie passen nicht in das Muster der
       panafrikanischen Erweckungslehre, nach der alles Böse aus „dem“ Westen kam,
       man folglich nur zu den paradiesischen Urzuständen zurückkehren müsse.
       
       Unbescheiden beansprucht er, für über 50 Nationen auf dem Kontinent zu
       sprechen: „Der afrikanische Mensch spürt, dass man ihn mit Haut und Haar
       unvermittelt in eine Weltordnung gestürzt hat, die sein Schicksal
       erschüttert. Er muss dieses Schicksal neu erfinden und auf eine Höhe
       führen, die jenem Einsatz angemessen ist, den er selbst bestimmt hat.“ Sarr
       zitiert auch Frantz Fanon von 1961. Doch wo stünde Fanon heute? Bei den
       neuen „Verdammten dieser Erde“ auf den Straßen Algiers oder bei jenen, die
       seit der Unabhängigkeit von Frankreich dort durchregieren und auf das
       „Volk“ schießen lassen?
       
       ## Die heile Welt der Urahnen
       
       Das wäre eine Überlegung wert gewesen. Stattdessen pures Ressentiment: „Die
       Verwestlichung Afrikas ist seit seiner Kolonisierung im Gange:
       Amtssprachen, Bildungssysteme, Verwaltung, Wirtschaftsordnung und
       Institutionen haben auf dem afrikanischen Kontinent allesamt westliche
       Formen angenommen.“ Will Sarr tatsächlich die Qualität demokratischer
       Gesellschaftsformen etwa danach beurteilen, ob sie ein Grieche, Römer oder
       Senegalese formuliert hat? „Der Homo africanus ist kein Homo oeconomicus im
       strengen Sinn“, sagt Sarr weiter.
       
       „Die Motive seiner Entscheidungen sind geprägt von Logiken der Ehre, der
       Umverteilung, der Subsistenz und der Gabe beziehungsweise Gegengabe.“ Die
       heile Welt der Urahnen, sie ist eine kitschige Vorstellung trotz des
       europäischen Kolonialismus. „Die traditionellen afrikanischen
       Gesellschaften zeichneten sich dadurch aus, dass Produktion, Verteilung und
       Güterbesitz von einer Sozialethik bestimmt waren, deren Ziel darin bestand,
       allen die Grundlagen des Lebens zu garantieren.“ Würde er anfügen, „allen,
       bis auf jene, mit denen man verfeindet war“, käme er der Sache deutlich
       näher. Denn nicht einmal der – verbrecherische – Sklavenhandel wäre ohne
       Mitwirkung von Afrikanern möglich gewesen.
       
       Sich der Verantwortung und Schuld kolonialer Verbrechen zu stellen, heißt
       noch lange nicht, die globalisierten und gemischten Realitäten rückgängig
       machen oder ignorieren zu wollen. Der Karneval im namibischen Windhoek
       gehört heute ebenso zum Straßenbild wie der von Notting Hill in London. Es
       sind die zwei Seiten einer kosmopolitischen Medaille, die jedoch bei
       europäischen Populisten wie afrozentrischen Chef-Intellektuellen
       gleichermaßen schlecht im Kurs stehen.
       
       22 Mar 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Fanizadeh
       
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