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       # taz.de -- Roman „Blauwal der Erinnerung“: Auf den Spuren des Verschwundenen
       
       > Geglücktes Wagnis: Tanja Maljartschuk verbindet die Geschichte eines
       > ukrainischen Volkshelden mit dem traurigen Liebesleben einer
       > Schriftstellerin.
       
   IMG Bild: Tanja Maljartschuk gewann 2018 mit „Frösche im Meer“ den Ingeborg-Bachmann-Preis
       
       Der Einstieg des Romans ist eigentlich sein Ende. Eine namenlose
       Schriftstellerin, die bereits sechs Bücher geschrieben hat, „Bücher, die
       kaum jemand braucht“, besucht in einem kleinen Dorf im Nordwesten der
       Ukraine ein Museum, das einem einst bekannten Philosophen und Politiker
       gewidmet ist, von dem wir zunächst auch nicht erfahren, wie er heißt. Wir
       ahnen, dass es sich um Wjatscheslaw Lypynskyi handelt, weil der Name schon
       auf dem Klappentext erwähnt wird, aber wer kennt hierzulande schon diesen
       Mann? Vielleicht ein paar Spezialisten für osteuropäische Geschichte.
       
       Eingeführt wird Lypynskyi mit der Zeitungsschlagzeile von seinem Tod. Die
       Ich-Erzählerin, die in alten ukrainischen Presseerzeugnissen stöbert, hat
       nämlich einen ausführliche Nachruf auf den konservativen, aber keinesfalls
       nationalistischen Gelehrten und Freiheitskämpfer entdeckt, der seine
       letzten Tage im österreichischen Lungensanatorium „Wienerwald“ verbracht
       hatte.
       
       Mit 49 Jahren starb Lypynskyi an Tuberkulose in jener Heilanstalt, in der,
       wie es im Text lapidar heißt, „ein paar Jahre zuvor der damals unbekannte
       Schriftsteller Franz Kafka erfolglos behandelt worden war“. Die Leserinnen
       und Leser der Swoboda, einer ukrainischen Zeitung, die seit 1893 in New
       York herausgegeben wird, müssen die Wichtigkeit der Nachricht im Juni 1931
       ermessen haben, die Erzählerin in [1][Tanja Maljartschuks] neuem Roman
       „Blauwal der Erinnerung“ weiß mit dem einst prominenten Politiker und
       Historiker allerdings auch nicht viel anzufangen.
       
       Es kommt ihr vor, als habe ein riesiger Blauwal, der kein Plankton frisst,
       sondern die Erinnerung, all die Bezüge zur historischen Person, quasi jeden
       einzelnen Biografiepartikel, der auf Lypynskyi verweisen könnte,
       verschlungen und vernichtet. So beginnt die Erzählstimme schon bald über
       die gefräßige Zeit nachzudenken, über das kollektive Erinnern und vor allem
       das Vergessen, über die „Spurlosigkeit des Verschwindens“. Hoher Ton und
       romantische Lakonie wechseln sich ab in dem Text, der zu Beginn schwer
       einzuordnen ist.
       
       ## Mischung aus Pointe, Wehmut und Gesellschaftskritik
       
       Bevor man sich allerdings die Frage stellen kann, ob die Lebensgeschichte
       eines ukrainischen Volkshelden nun wirklich hier und heute von großem
       Interesse oder ob Lypynskyi nicht völlig zu Recht vergessen ist, befindet
       man sich auch schon im „Wienerwald“, begleitet die Kranken in ihre
       „Luftkur“. Ein Ruf hallt durch die Räume im legendären Sanatorium:
       „Einatmen, ausatmen.“ Aber bitte schön langsam.
       
       Gerade hat man sich auf die historische Szenerie eingelassen, wird man
       allerdings erneut ins Leben der Erzählerin, nämlich ins Jahr 2000
       katapultiert, die sich in einer schweren Krise zu befinden scheint. Sie
       blickt zurück auf ihr Liebesleben, von dem auf skurrile Weise berichtet
       wird: „Sie, die Männer – wobei ich nicht nur Männer geliebt habe – sind aus
       irgendeinem Grund ähnlich. Alle drei haben helles Haar und einen runden
       Kopf, was seltsam klingt, denn üblicherweise, so nimmt man an, sind alle
       Köpfe rund. Ich bin anderer Meinung. Es gibt Köpfe, die derart spitz,
       rechteckig oder sonst irgendwie falsch geformt sind, dass man sie einfach
       nicht als rund bezeichnen kann.“
       
       Da ist er wieder, dieser leichte, der witzig-melancholische Tonfall, den
       man beim Klagenfurter [2][Ingeborg-Bachmann-Wettlesen] im vergangenen Jahr
       bewundert hatte, als Maljartschuk mit der auf Deutsch verfassten Geschichte
       „Frösche im Meer“ Publikum und Jury überzeugte.
       
       „Blauwal der Erinnerung“ ist von Maria Weissenböck aus dem Ukrainischen
       übersetzt worden, wobei man hier besser von einer Nachdichtung sprechen
       sollte, um die literarische Leistung der Übersetzung zu betonen.
       Weissenböck schleift die Eigenheiten in Maljartschuks Prosapoesie nicht.
       Die Mischung aus Pointe und Wehmut, Lakonie und Gesellschaftskritik, wie
       man sie auch von Maljartschuks anderen deutschen Texten kennt, kommt hier
       so überzeugend zur Geltung, dass die gewagte Konstruktion, Lypynskyis
       Lebensgeschichte mit den Liebeskrisen einer zeitgenössischen
       Schriftstellerin zu verbinden, allein aus sprachlichen Gründen aufgeht.
       
       ## Wie Fehlentscheidungen in der Liebe des Leben prägen
       
       Zum Gelingen der anspruchsvollen Romankonzeption trägt bei, dass
       Maljartschuk, die 1983 im ukrainischen Iwano-Frankiwsk geboren wurde und
       seit 2011 in Wien lebt, nicht nur von den politischen Kämpfen des
       Wjatscheslaw Lypynskyi erzählt, sondern auch von seiner
       radikal-selbstzerstörerischen Liebe zu einer selbstbewussten Dame namens
       Kazimiera Szumińska.
       
       Während er als ältester Sohn einer polnischen Adelsfamilie zur Welt kam und
       in wohlhabend-konservativen Verhältnissen aufwuchs, war das familiäre
       Umfeld der Szumińskas von Armut und gleichzeitigem Hochmut geprägt: Sie
       verhöhnte den jungen Mann bei den ersten Treffen, was ihn nicht davon
       abhielt, sie noch mehr zu verehren, zumal sie durchaus interessante
       Ansichten zum Frauenwahlrecht vertrat. Sie heirateten, obwohl ihre Familien
       gegen die Vermählung waren.
       
       Die Ehe aber war wie die Anbahnung, eine Aneinanderreihung von
       Missverständnissen. Er hatte nicht den Mut, in einer entscheidenden
       Situation, die geliebte Frau auch körperlich zu erobern, woraufhin sich
       Kazimiera zurückzog, „gekränkt und beschämt“. Wie Fehlentscheidungen in der
       Liebe nicht nur die beruflichen Ambitionen, sondern das Leben überhaupt
       prägen können, ist auch das Schicksalsthema der unglücklichen
       Schriftstellerin, die sich auf persönliche und historische Spurensuche
       begibt.
       
       Ihr erster Schwarm mit blondem Haar ist dummerweise ein verheirateter
       Universitätsdozent, sodass diese Liebe in schwerstem Kummer endet. Wie
       Lypynskyi den Ausgang seiner Ehe geahnt haben mochte und doch niemals von
       Kazimiera ablassen konnte, so geht auch die Erzählerin durch die
       vorgezeichneten Stadien der emotionalen Zerrüttung.
       
       Wjatscheslaw Lypynskyi allerdings, so sehr er unter den Eskapaden seiner
       Frau und dem eigenen emotionalen Unvermögen leidet, verliert seine
       politischen Ziele nie aus den Augen. Er nimmt am ukrainischen
       Befreiungskampf teil, schreibt Abhandlungen über Geschichte und Kultur der
       Ukraine, er darf die Gründung „seiner“ Nation miterleben, wird sogar
       Botschafter des neuen Staates in Wien und bleibt nach dem jähen Ende des
       politischen Traums, nämlich nach dem Einmarsch der Roten Armee in Kiew,
       einsam bis zum Lebensende im österreichischen Exil.
       
       ## Ein Roman, der wagt und gewinnt
       
       Ein Kind hat er gezeugt, es aber nicht wirklich kennengelernt. Kazimiera
       warf dem Mann deshalb auch vor: „Du hast politische Überzeugungen über die
       Liebe zu deiner Frau und deiner Tochter gestellt. Hast du jemals etwas
       anderes geliebt als diese beängstigende Ausgeburt deiner Vorstellung, ein
       Land, das nicht existiert?“ Der Mann, der sich eine neue Nation ausdachte,
       wollte zwar auch der Gattin ein großes Haus bauen, hatte aber keine Idee
       davon, was diese Frau wirklich von ihm wollte, nämlich Nähe. Lypynskyi war
       ständig unterwegs, vor allem im Geiste.
       
       Ganz anders die leidenssüchtige Autorin hundert Jahre später: „Ich
       bevorzugte die Liebe und vernachlässigte die große Kunst des klaren
       Denkens.“ Aber das scheint auch nur die halbe Wahrheit zu sein, denn die
       empathischen Kapitel über das Leben Lypynskyis sind wohl aus ihrer Feder.
       Indem sie sich im Leben Lypinskyis vergräbt, kommt sie ihm auch in puncto
       Weltabgewandtheit erschreckend nahe.
       
       So entwickelt sich „Blauwal der Erinnerung“ zu einem unterhaltsamen Abriss,
       fast könnte man sagen: zu einer Pathologie der frühen Geschichte der
       Ukraine. Denn die Zeitläufte waren für das Land wahrlich niederschmetternd.
       So stemmt sich der Roman, der die „Spurlosigkeit des Verschwindens“
       beklagt, äußerst kunstvoll gegen das Vergessen.
       
       Bevor die ukrainische Vergangenheit anhand der Leidenswege Lypynskis
       rekonstruiert werden kann, muss die Schriftstellerin noch zwei weitere
       Blondschöpfe hinter sich lassen. Dem einen gibt sie sogar ihr Ja-Wort: „Ich
       heiratete einen Mann, den ich zufällig im Zug kennenlernte.“ Mit der
       Zugbekanntschaft – man ahnt es schon – wird es auch nichts, Depression und
       Panik verstärken sich gegenseitig, die Anfälle, „bei denen ich glaube, dass
       mein Herz zerspringt oder einfach ersticke“, nehmen zu, sie fühlt sich im
       Grunde wie Lypynskyi am Lebensende, der ständig Atemübungen machen muss.
       Nur dass die Erzählerin eine bessere Medizin findet, nämlich die
       historische Erinnerungsarbeit, das Schreiben über das Vergangene.
       
       Ein Roman, der wagt und gewinnt: Wie Tanja Maljartschuk die kleinen und
       großen Geschichten ihrer Figuren miteinander verschränkt, wie sie die
       Geschichte ihrer Heimat erzählt, in sehr unterschiedlichen literarischen
       Formen und doch immer ihrem Stil treu bleibend, ist so überzeugend wie
       beeindruckend.
       
       11 Mar 2019
       
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