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       # taz.de -- Roman „Die Geschichte der Frau“: Breitbeiniger Anspruch
       
       > In „Die Geschichte der Frau“ will Feridun Zaimoglu weiblicher Wut eine
       > Stimme geben, von Antigone bis Valerie Solanas. Der Autor scheitert.
       
   IMG Bild: Auch bei den Nibelungenfestspielen in Worms hat sich Zaimoglu in Frauenwut hineingedacht: Brunhild am Boden
       
       Wer es sich zur Aufgabe macht, politisch marginalisierten Menschen eine
       Stimme zu geben, muss sich mit dem Problem auseinandersetzen, dass diese
       Menschen meistens schon eine eigene Stimme haben. Wenn etwa Feridun
       Zaimoglu in seinem neuen Roman, „Die Geschichte der Frau“, ein historisches
       Tableau aus der Perspektive von zehn Frauen entwirft, das als
       Gegenerzählung zu der männlich dominierten Historie dienen soll, dann
       erscheint die Frage naheliegend, was ausgerechnet ihn – einen männlichen
       Autor – zum Barden der vergessenen Frau autorisiert.
       
       Immerhin tritt dieses Buch mit einem gewaltigen Anspruch auf, der bereits
       in den Versen des Vorspruchs zum Ausdruck kommt: „Nach ihren Siegen“, heißt
       es dort, „lernten die Männer, / Ruhmestaten zu erdichten. / Sie schrieben,
       sich erlügend, ihre Sagen. / Dies ist der Große Gesang, der ihre Lügen
       tilgt. / Es spricht die Frau.“ Ähnlich wie in Bertolt Brechts Gedicht
       „Fragen eines lesenden Arbeiters“, an das dieser Vorspruch angelehnt ist,
       soll auch hier einer Lügenhistorie der Herrschenden ein revisionistisches
       Geschichtsbild aus der Perspektive der Unterdrückten entgegengestellt
       werden.
       
       Dazu lässt Zaimoglu Frauen aus Mythologie und Geschichte zu Wort kommen,
       darunter Figuren, die direkt dem Who’s who der Literaturgeschichte
       entstiegen sind, wie etwa Antigone, Brunhild oder Lore Lay, aber auch
       weniger bekannte historische Figuren wie Prista Frühbottin, ein Opfer der
       frühneuzeitlichen Hexenverfolgung. Der Roman endet mit der Stimme Valerie
       Solanas’, die 1968 ein Attentat auf Andy Warhol verübte. [1][Solanas’
       physische und verbale Raserei] bildet den Höhepunkt einer weiblichen
       Menschheitsgeschichte der Wut.
       
       „Die Geschichte der Frau“ erscheint in einer Zeit, in der die Debatte
       darüber, wem eine Geschichte gehört und wer sie erzählen darf, mit großer
       Intensität geführt wird.
       
       In den meisten Fällen geht es um die Frage, ob die Erfahrungen
       marginalisierter Gruppen von Menschen literarisch verarbeitet werden
       dürfen, die diese Erfahrungen selbst nicht gemacht haben. Gibt es so etwas
       wie ein narratives Eigentumsrecht, das die Wahlmöglichkeit literarischer
       Stoffe einschränkt? Oder handelt es sich dabei um einen unerträglichen
       Eingriff in die Freiheit der Kunst?
       
       ## Intellektuelle Nebelkerze
       
       Zweifel, ob er diesen Roman hätte schreiben dürfen, hat Zaimoglu selbst
       [2][in einem denkwürdigen Interview auf Spiegel Online ] vorsorglich als
       „Fundamentalismus“ bezeichnet, der zu „Selbstzensur“ führe. Man möchte
       intuitiv gerne zustimmen. Ein Verbot, aus weiblicher Perspektive zu
       erzählen, nur weil der Autor ein Mann ist, wäre tatsächlich Ausdruck eines
       kunstfeindlichen Fundamentalismus.
       
       Es handelt sich allerdings um eine intellektuelle Nebelkerze, die dazu
       dient, sich den naheliegenden politischen und ästhetischen Problemen, die
       mit dem Projekt einer „Geschichte der Frau“ einhergehen, nicht stellen zu
       müssen. Die Rede vom „Fundamentalismus“ klingt, als würde der Autor seinen
       Kritiker*innen entgegenrufen: Unterbrecht mich nicht dabei, wie ich euch
       eine Stimme gebe!
       
       Um es deutlich zu sagen: Niemand verbietet Zaimoglu, einen Roman aus der
       Perspektive von Frauen zu schreiben. Allerdings geht ein solches, explizit
       politisches Vorhaben mit einem besonderen Anspruch einher, sich mit den
       machtpolitischen Fragen, die das Thema „Stimme“ betreffen, besonders
       reflektiert auseinanderzusetzen. Wer hier von „Fundamentalismus“ spricht,
       übersieht, dass sich politische Zweifel an einem literarischen Projekt
       selten an der Frage nach dem Was und viel eher an dem Wie eines
       literarischen Textes entfalten. Es handelt sich um eine Frage des Könnens,
       nicht des Dürfens.
       
       Zaimoglus „Geschichte der Frau“ scheitert an diesen Ansprüchen, gerade weil
       er sich den theoretischen Problemen seines Projekts nicht stellt. Ein
       Mangel an politischer Reflexion führt dazu, dass der Roman als Roman nicht
       funktioniert.
       
       ## Unverdaute Recherche
       
       Misstrauisch macht bereits der breitbeinige Anspruch, jetzt endlich einmal
       eine Revision der Geschichte aus weiblicher Perspektive vorzunehmen, als
       habe es solche literarischen Revisionen nicht bereits vorher gegeben, wie
       etwa in Christa Wolfs „Kassandra“ und „Medea“. Während Wolfs mythologische
       Romane allerdings um die Frage kreisen, ob es eigentlich ganz anders
       gewesen sein könnte, beschränkt sich Zaimoglus Revisionismus in den meisten
       Fällen auf einen reinen Perspektivwechsel.
       
       Gerade in der ersten Hälfte des Buches, das sich auf überlieferte
       Geschichten bezieht, führt das dazu, dass die erzählenden Frauen nur als
       Chronistinnen männlicher Kämpfe erscheinen. Die Frauen sprechen zwar,
       allerdings vor allem über die Männer, die sie umgeben. Zippora spricht über
       ihren Mann Moses, Antigone über Kreon und Ödipus, Judith widmet sich den
       Problemen ihres Gefährten Judas.
       
       Das liest sich oft wie das zähe Resultat einer unverdauten Recherche, die
       sich in einer Flut von Namen über die Leser*in ergießt, etwa, wenn die
       Frauen im Gefolge Jesu in einer glanzlosen Liste am Ende der Judith-Episode
       nachgereicht werden: „es rufen seine Schwestern Merab und Atara, es rufen
       die Jüngerinnen Asnath und Ara und Hadassa und Saron …“
       
       Der Roman zeigt ein großes Interesse an der Materialität der mythologischen
       und historischen Welten, ist aber seltsam uninteressiert am Innenleben der
       Frauen, die sie bewohnen. Diese Frauen wirken dann auch nicht besonders
       wütend. Ihr angeblicher Zorn wird selten dargestellt, nur immer wieder
       behauptet. Brunhild: „Ich habe eine Mordswut in mir.“ Die Trümmerfrau: „Was
       bin ich wütend.“ Das liegt an der eigentümlichen Indifferenz für die
       systemischen Gründe der weiblichen Wut. So ist etwa die reale Person
       Valerie Solanas mit ihrer realen Leidensgeschichte für Zaimoglu kaum mehr
       als ein Instrument, um seinen poetischen Furor auszustellen.
       
       ## Politisches und literarisches Scheitern
       
       Dieser Furor schließlich ist auch das größte Problem des Romans, der vor
       allem auf der Ebene des Stils scheitert. Es handelt sich um eine Prosa, die
       berauscht ist vom Weihrauch der eigenen Wortmächtigkeit. Das klingt im
       besten Fall wie liebenswürdig altmodischer Modernismus („Er spricht
       mahlend, als brannte die glühende Kohle in seinem Mund“), im schlimmsten
       Fall wie historische Fanfiction, die durch eine veränderte Wortstellung
       versucht, den Anschein von Andersartigkeit zu erzeugen. So erzeugt dieser
       Stil vor allem unfreiwillige Komik, wenn der unbedingte Wille zum
       Dichterischen wieder übers Ziel hinausschießt: „Der Mond schält sich wie
       Schorf vom Himmel und fällt.“
       
       Es ist eine Prosa, die besessen ist von der Sinnlichkeit der Gewalt – eine
       Prosa, die vor lauter Blut und Schweiß und Fleisch regelrecht dampft. Über
       den toten Siegfried heißt es in der Brunhild-Episode: „Blutdunst über
       nassem schmatzenden Fleisch, die Wunde lebt im Leichnam.“ Und zwei Seiten
       weiter: „sein Fleisch schmatzt im Tod“. So schmatzt sich dieser Roman von
       Wunde zu Wunde, wobei es kaum noch als überraschende Ironie erscheint, dass
       die versehrten Körper, die durch die Handlung paradiert werden, vor allem
       männliche Körper sind.
       
       Vor allem aber bemerkt man beim Lesen mit steigernder Beklommenheit, dass
       die alttestamentarische Überspanntheit der Sprache sich über den Verlauf
       der entworfenen Menschheitsgeschichte kaum verändert. Zwar lockert sich die
       Prosa zu Beginn der Moderne leicht auf, allerdings klingen die Frauen auch
       im 19. und 20. Jahrhundert wie die Puppen des immer gleichen poetisch
       vernebelten Bauchredners. Da tropfen einem Schmeichler seine Komplimente
       „wie schwarzer Seim von den Lippen“ oder ein Traum ist „das Gespei meiner
       geschlossenen Augen“. Anstatt den historischen Stationen durch sprachliche
       Variation gerecht zu werden, werden alle Unterschiede von der Planierraupe
       einer bemühten Kunstsprache eingeebnet.
       
       Hier liegt auch die gespenstische Pointe des politischen und literarischen
       Scheiterns des Romans. Denn in dem repetitiven Stil werden die Stimmen der
       unterschiedlichen Frauen vereinheitlicht und so ihre Individualität
       geleugnet. Am Ende spricht doch wieder nur der Autor, dessen viriler Stil
       sich den Objekten seines historischen Gerechtigkeitssinns nicht unterwerfen
       kann, weswegen sie auch Objekte bleiben und nie zu Subjekten werden. Der
       Roman wird von einer einzigen Stimme beherrscht, und das ist sicher nicht
       die Stimme „der Frau“.
       
       10 Mar 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://blogs.taz.de/schroederkalender/2009/03/09/manifest_der_gesellschaft_zur_vernichtung_der_maenner_2/
   DIR [2] http://www.spiegel.de/kultur/literatur/feridun-zaimoglu-ich-verstehe-die-feministische-militanz-nun-sehr-gut-a-1254620.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Johannes Franzen
       
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