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       # taz.de -- Buch über jüdische Greiferin neuaufgelegt: Überleben in Berlin
       
       > Stella Goldschlag meldete der Gestapo Verstecke anderer jüdischer
       > Menschen. Peter Wyden lernte sie in der Schule kennen und beschreibt sie.
       
   IMG Bild: Stella Goldschlag im Juni 1957
       
       Die unvorstellbar hohen Opferzahlen des Holocausts stellen eine
       Auseinandersetzung mit diesem Thema vor ein grundlegendes Problem: Möchte
       man den Prozess der Entmenschlichung, der Menschen zu Zahlen reduzierte und
       ihre organisierte Ermordung wie einen gewöhnlichen Verwaltungsakt
       behandelte, durchbrechen, so muss man die Einzelschicksale hinter den
       abstrakten Zahlen betrachten.
       
       Statistiken mit individuellen Erlebnissen zu konkretisieren, die Opfer in
       den Fokus zu rücken, war und ist daher eine Kernforderung von Überlebenden
       wie [1][dem Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel] oder [2][dem Historiker
       Saul Friedländer]. Eine rein mikrohistorische Perspektive auf den Holocaust
       kann jedoch im Gegenzug den schieren Umfang des Völkermords aus dem Blick
       drängen und so ein Verständnis für den politischen und administrativen
       Prozess der Entmenschlichung erschweren.
       
       Eine Auseinandersetzung mit der Situation der in Berlin untergetauchten
       Juden, sogenannten U-Booten, die die politischen und gesellschaftlichen
       Zusammenhänge mit konkreten Einzelschicksalen erfolgreich verbindet, ist
       dem US-amerikanischen Journalisten Peter Wyden in seinem Buch „Stella
       Goldschlag. Eine wahre Geschichte“ gelungen. Diese mit vielfältigen
       autobiografischen Bezügen verknüpfte Spurensuche des Autors nach seiner
       Jugendbekanntschaft Stella Goldschlag war bereits in den frühen 90er Jahren
       ein Verkaufserfolg und erschien 1993 in Übersetzung von Ilse Strasmann im
       Steidl Verlag.
       
       In den letzten Jahren hat es eine Vielfalt von Büchern zum Thema der
       jüdischen U-Boote im Berlin der Kriegsjahre gegeben, zum Beispiel die von
       Cioma Schönhaus verfasste Autobiografie „Der Passfälscher“, Marie Jalowicz
       Simons Erinnerungen mit dem Titel „Untergetaucht“ oder die Bücher von
       Margot Friedlander und Eugen Herman-Friede. Auch filmisch wurde das Thema
       behandelt. So widmet sich unter anderem das Doku-Drama „Die Unsichtbaren“
       von 2017 den „U-Booten“. Das Interesse an der spannungsreichen Doppelebene
       von Tätern und Opfern, die unter völlig gegensätzlichen Vorzeichen in der
       kriegsgeplagten Stadt koexistieren, mischt sich mit einer Faszination für
       das vibrierende jüdische Leben der Stadt, das so brutal beendet wurde und
       dessen letzte Repräsentanten die „U-Boote“ sind. Dieses beinahe
       nostalgische Interesse für die letzten Spuren von Vorkriegsglamour in einer
       auf den Untergang zusteuernden Stadt zeichnet auch Takis Würgers Roman
       „Stella“ aus, der sich an die Biografie der historischen Person Stella
       Goldschlag anlehnt.
       
       ## Repressive Realität des Alltags
       
       Man wird keine Rezension der Neuauflage des Buchs von Peter Wyden schreiben
       können, ohne Würgers Roman zu erwähnen, denn Wydens Buch wurde 16 Jahre
       nach der Erstausgabe der deutschen Übersetzung neu aufgelegt, weil der
       Feuilletonskandal um den im Hanser Verlag erschienenen Roman „Stella“ bei
       vielen Lesern das Bedürfnis geweckt hat, mehr über das Leben Stella
       Goldschlags zu erfahren.
       
       Im Gegenzug zu der fiktionalen Bearbeitung der historischen Figur Stella
       Goldschlag durch Takis Würger, deren Geschichte von ihm grob verändert und
       umfunktioniert wurde, nähert sich Peter Wyden der historischen Stella in
       den fünf Abschnitten seines Buches mit persönlichem Bezug. Er selbst wurde
       als Peter Weidenreich 1923 in Berlin geboren und schaffte es 1937 gemeinsam
       mit seinen Eltern, in die USA zu flüchten. Stella hatte er zuvor an der
       jüdischen Goldschmidt-Schule kennengelernt, die als Privatschule aufgrund
       der Schikane jüdischer Schüler in den staatlichen Schulen von der Pädagogin
       Leonore Goldschmidt 1935 gegründet wurde.
       
       Während sich der Druck auf die jüdische Bevölkerung permanent verschärfte,
       konnten die Jugendlichen hier für eine Zeit der repressiven Realität ihres
       Alltags entfliehen. Peter Weidenreich und Stella Goldschlag sangen
       gemeinsam im Chor, und das schöne blonde Mädchen wurde zur
       Projektionsfläche für die adoleszenten Fantasien des jungen Peter.
       
       Im Gegenzug zu Peters Mutter Helen erlagen die Eltern von Stella dem
       fatalen Missverständnis zahlreicher assimilierter Juden, die den radikalen
       Antisemitismus der Nazis zunächst unterschätzten und deswegen zu spät die
       notwendigen Schritte zur Emigration einleiteten. Peter Wyden zeigt an
       zahlreichen Einzelschicksalen, die er immer wieder in einen übergeordneten
       politischen Kontext einordnet, warum manchen privilegierten Juden die
       Flucht aus Deutschland gelang, während andere in der Lotterie um Visa und
       Ausreiseerlaubnisse kein Glück hatten. Wyden illustriert, wie die
       Verfolgung und der ständig zunehmende Terror niemanden unverändert lassen,
       und schildert zudem die perfide Strategie Adolf Eichmanns, die Juden zu den
       Verwaltern ihrer eigenen Vernichtung zu machen.
       
       ## Wie hätte man sich verhalten?
       
       Er berichtet detailliert von dem Leben der Berliner Juden, die zunächst
       verzweifelt auf die Emigration gewartet hatten und, nachdem diese
       Möglichkeit verschlossen war, versuchten, in der Stadt so gut es ging zu
       überleben. Schwere Arbeit in Rüstungsfabriken und kriegswichtiger Industrie
       schützten zumindest für eine Zeit vor der Deportation in die im Osten
       Europas entstehenden Vernichtungslager. Stella Goldschlag arbeitete in
       einer solchen Fabrik, sang in einer Jazz-Band, heiratete einen jüdischen
       Musiker und hörte nicht auf, von einer Zukunft in den USA zu träumen. Als
       im Februar 1943 schließlich die letzten jüdischen Arbeiter der
       Rüstungsindustrie abgeholt wurden, rettete sich Stella Goldschlag gemeinsam
       mit ihren Eltern in den Untergrund. Ihr erster Ehemann wurde deportiert und
       ermordet.
       
       Bereits im Sommer 1943, nach nur wenigen Monaten im Untergrund, wurde
       Stella von einer Freundin verraten, die mit der Gestapo zusammenarbeitete.
       „Greifer“ nannten die Juden im Untergrund solche Kollaborateure. Diese
       bekamen für ihre Tätigkeit nicht nur Essen und Bezahlung, sondern konnten
       sich mit offiziellen Papieren ohne Judenstern in der Stadt bewegen und
       jagten dort die untergetauchten „U-Boote“. Nach ihrer Festnahme wurde
       Stella tagelang von der Gestapo gefoltert, schaffte es jedoch zu fliehen,
       nur um kurz darauf gemeinsam mit ihren Eltern wieder festgenommen zu
       werden. Unter Androhung der Deportation der geliebten Eltern und schwer
       traumatisiert von Folter und Gefangenschaft, begann Stella Goldschlag als
       Greiferin tätig zu werden. Mit ihrem männlichen Partner Rolf Isaaksohn
       bildete Stella ein gefährliches und effizientes Team.
       
       Selbst als ihre Eltern im Frühjahr 1944 doch deportiert wurden, war Stellas
       Überlebenswillen so groß, dass sie ihre Tätigkeit noch mehrere Monate
       fortsetzte. Peter Wyden verliert nie Stellas Zwangssituation und Notlage
       aus den Augen, in seiner Schilderung der „unbeschreiblichen Verbrechen, die
       Stella begangen hatte, um zu überleben“. Er bringt Empathie auf, ohne
       Stella Goldschlag, deren Handlungen mörderische Konsequenzen hatten, zu
       entschuldigen. Wieder und wieder stellt Wyden die Frage in den Raum, wie
       man sich selbst verhalten hätte. So bleibt der Fokus im gesamten Buch auch
       auf die Täter gerichtet, die Nazis und ihren Terror, die Stella Goldschlags
       Handlungen bedingten.
       
       ## Lehrstück in sauberer Recherchearbeit
       
       Einziger Wermutstropfen ist, dass man dem Buch in Bezug auf seine
       Auseinandersetzung mit der patriarchalen und sexualisierten Gewalt, der
       Stella ausgesetzt war, das Alter anmerkt. So wird Stella in Teilen, auch
       von Peter Wyden, eine größere Handlungsmacht zugesprochen, als sie
       sicherlich haben konnte. Es mangelt zum Teil auch an Sensibilität für die
       sexistischen Dynamiken, welche die Bewertung Stella Goldschlags prägen.
       Eine Vielzahl an Erinnerungen und Schilderungen unterliegen klar der
       Dynamik eines Femme-fatale-Narrativs, thematisieren Stellas erotische
       Anziehungskraft und außerordentliche Schönheit, bezeichnen sie als
       gewissenlos und unmoralisch und kritisieren ihre angebliche sexuelle
       Verfügbarkeit.
       
       Wyden hinterfragt nicht, wieso gerade Stella Goldschlags Ruf als blondes
       Gift und gewissenloses Monster derartig legendär wurde. Manchmal tappt er
       sogar selbst in die Falle dieser Erzählstruktur, wenn er etwa nach seinem
       Besuch bei Stella schreibt: „Sie war einsam, hatte Langeweile und Heimweh
       nach Berlin und den alten Zeiten, und ich muss ihr wie eine leichte
       männliche Beute erschienen sein.“
       
       Abgesehen von dieser Kritik gelingt Peter Wyden in seinem detailliert und
       ausführlich recherchierten Buch jedoch eine Schilderung der Geschichte
       Stella Goldschlags, die sich der historischen Komplexität nicht
       verschließt. Die Gründlichkeit, Feinfühligkeit und der Respekt, mit der
       sich Wyden Stellas Geschichte nähert, bilden ein Lehrstück in sauberer
       Recherchearbeit. Jeder Abschnitt ist am Ende mit Verweisen auf die
       interviewten Gesprächspartner und zahlreiche andere Quellen belegt.
       
       Wenn es eine ethische Verpflichtung gibt, an den verschiedenen Punkten der
       langen Verwertungskette des Literaturbetriebs zu prüfen, ob ein Buch seinem
       Gegenstand gerecht wird, dann sind Peter Wyden, seine Übersetzerin und die
       beteiligten Verlage dieser Pflicht offensichtlich nachgekommen.
       
       10 Mar 2019
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Berit Glanz
       
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