URI: 
       # taz.de -- Fontane-Biograf über 200. Geburtstag: „Besonderes Gespür für Heuchelei“
       
       > Theodor Fontanes Romane sind immer noch beliebt. Ein Gespräch mit seinem
       > Biografen Iwan-Michelangelo D’Aprile über Revolution und Realismus.
       
   IMG Bild: Theodor Fontane hat zeitlebens einen Wust an Texten verfasst
       
       taz am wochenende: Herr D’Aprile, an Büchern über Theodor Fontane besteht
       kein Mangel. Warum haben auch Sie eine Biografie über Fontane geschrieben? 
       
       Iwan-Michelangelo D’Aprile: Klassikerbiografien sind natürlich eine
       problematische Gattung mit hohem Ideologie- oder mindestens Gähn-Risiko.
       Und seit der 2010 erschienenen fünfbändigen Fontane-Chronik von Roland
       Berbig wissen wir auch ziemlich genau, was Fontane so von Tag zu Tag
       gemacht hat. Das muss man nicht noch einmal nacherzählen. Andererseits hat
       mich Fontane schon interessiert und gereizt, aber eben als ein Typus von
       Autor, der sich in diesem 19. Jahrhundert mit seinen politischen, seinen
       Beschleunigungs- und Medienrevolutionen als Journalist bewegt, der den
       Oberflächendiskurs seiner Zeit abbildet.
       
       Fontane selbst nennt sich „Tagelöhner mit dem Geiste“. Ist Fontane,
       insofern er Journalist ist, der erste moderne deutsche Schriftsteller? 
       
       Nein. Viele der Schriftsteller im 19. Jahrhundert, die wir heute noch
       kennen, haben als Journalisten gearbeitet: Ludwig Börne, Heine, auch Marx,
       von dem zu Lebzeiten nur journalistische Arbeiten erschienen sind. Der
       Beruf des Schriftstellers und der des Journalisten lassen sich in der Zeit
       kaum trennen, weil auch die Romane zuerst in Zeitschriften erscheinen. Man
       muss das 19. Jahrhundert viel stärker von den neuen Medien, von den
       Zeitungen und Zeitschriften her denken als vom Buch.
       
       Fontane war fast sein ganzes Lebens als Journalist tätig. Hat er damit auch
       sein hauptsächliches Einkommen erwirtschaftet? 
       
       Kann man sagen. Nach der väterlichen Pleite und dem Abbruch der
       Apothekerlaufbahn hat Fontane nicht nur vierzig Jahre hauptberuflich als
       Journalist gearbeitet, sondern immer irgendwie in Regierungsabhängigkeiten.
       Er war ab 1850 für die „Centralstelle für Preßangelegenheiten“ tätig. In
       den 1860er Jahren war er zehn Jahre Redakteur bei der reaktionären,
       antisemitischen Kreuzzeitung/Neue Preußische Zeitung.
       
       Und auch zwischen 1870 und 1889, als Theaterkritiker für die Vossische
       Zeitung, hat er nur das offizielle Theater am Königlichen Schauspielhaus
       besprechen dürfen, wo die interessanten zeitgenössischen Stücke nicht
       aufgeführt werden durften. Bis an sein Lebensende hat Fontane von der
       regierungsamtlichen Pressestelle eine Art Grundsicherung bekommen. Freier
       Journalist war Fontane nur als nebenberuflich schreibender Apotheker im
       Vormärz sowie in der 1848er Revolution – und, mit Einschränkungen, nach der
       Pensionierung im Alter von 70.
       
       Ein Revolutionär auf den Berliner Barrikaden von 1848, der womöglich auch
       geschossen hat? 
       
       Wissen wir nicht, aber er war zumindest dabei und hat für demokratische
       Zeitungen berichtet. Seine Korrespondenzberichte aus Berlin für die
       Dresdener Zeitung über die Machenschaften der Konterrevolution sind
       durchaus gut geschriebener politischer Journalismus auf der Höhe der Zeit,
       etwa wenn er über die vermeintliche Ordnungsmacht feststellt: „Nicht die
       kleinste Ruhestörung ist den Anstrengungen der Polizei gestern gelungen.“
       
       Ein revolutionärer Autor, der dann bis zu seinem Tod in die Dienste jenes
       Staates tritt, der die Revolution blutig niederschlägt. „Wie ich’s drehen
       und deuteln mag – es ist und bleibt Lüge, Verrath, Gemeinheit“, zitieren
       Sie Fontane, der selbst von „Prostitution“ spricht. Kann man diesen
       radikalen Seitenwechsel rein mit den Umständen erklären? 
       
       Natürlich nicht. Zugleich ist der Wendehals, Seitenwechsler und Doppelagent
       ein Strukturphänomen der Nachrevolutionszeit. Wie die Zitate, viel mehr
       noch aber seine journalistischen Praktiken und Texte zeigen, hat Fontane
       nicht als bloßer Opportunist und mit fliegenden Fahnen die Seiten
       gewechselt.
       
       Für das Verständnis Fontanes ist es aber schon entscheidend, dass er sein
       ganzes Erwerbsleben lang eben auch einen Wust an Texten in allen Gattungen
       der Propagandaliteratur vom Lobgedicht auf den General Manteuffel bis zum
       Hetzartikel gegen polnische Aufständische verfasst hat, worüber dann
       Generationen von Germanistik-Professoren je nach Standpunkt entweder
       verstört hinweggesehen oder sich einen politisch reaktionären Fontane als
       „Sänger Preußens“ konstruiert haben.
       
       Die [1][„Wanderungen durch die Mark Brandenburg“] gehören zu Fontanes
       populärsten Werken. Ihre Entstehungsgeschichte ist dabei deutlich
       unromantischer als ihr Ruf. Könnten Sie die Voraussetzungen, Absichten und
       Methoden skizzieren? 
       
       Fontane nutzte seine Großbritannien-Erfahrungen als preußischer
       Nachrichtenagentur-Betreiber sowie die Netzwerke der Kreuzzeitung für eine
       ganz eigene Art der feuilletonistischen Reiseliteratur. Die auf dem
       britischen literarischen Markt bereits gut eingeführte Gattung der
       „Hometour“ in das touristisch und verkehrstechnisch erschlossene „wilde“
       Schottland nimmt er als Modell.
       
       Die „Wanderungen“ erscheinen immer fortsetzbar und aktualisierbar als
       Zeitungsartikel und sind danach erst für die Bücher zusammengestellt
       worden. Für die Informationssammlung versandte er Fragebögen und
       Schreibanleitungen. Im Schlusswort des vierten Bandes bedankt er sich bei
       seinen über 100 Mitarbeitern. Die Wanderungen sind Resultat einer Art
       Schwarmintelligenz.
       
       Neben dem Regierungspropagandisten gibt es den Kriegsjournalisten Fontane.
       Ist da was drin, was heute noch interessiert? 
       
       Fontanes Widerspenstigkeit zeigt sich schon auch in den Kriegsbüchern. Im
       Auftrag des Innenministeriums und der Hofdruckerei sollte er in populärer
       Form die preußischen Triumphe feiern. Hat er auch gemacht, aber wie in den
       Wanderungen möglichst vielstimmig und auch von Krieg zu Krieg skeptischer.
       
       Vor allem sein letztes und umfangreichstes Buch, der „Krieg gegen
       Frankreich“, wurde vom Hof überhaupt nicht mehr goutiert und führte dann
       auch zum Bruch, unter anderem weil Fontane zu verständnisvoll über den
       republikanisch-französischen Widerstand geschrieben hat. Nicht zufällig ist
       Fontanes Buch eines der ganz wenigen der unzähligen preußischen
       Kriegsbücher, das unmittelbar auch ins Französische übersetzt wurde.
       
       Und dann kommen, im letzten Drittel seines Lebens, die Romane. Verwirklicht
       er da den Journalismus, den er sein Leben lang hätte machen wollen? 
       
       Vielleicht, ja. Fontanes Romane sind Zeitungsromane, die von der
       Veröffentlichungspraxis und Stoffsammlung bis zur narrativen Gestaltung als
       Mimesis an dieses Medium gelesen werden können. Er bildet in den unzähligen
       Gesprächen das Allerlei der Zeitungsmeldungen vom Wetterbericht bis zur
       Weltnachricht ab und literarisiert nicht zuletzt das neu aufkommende
       Phänomen der Reklamesprache. Alles das gehört zu seinem
       Realismusverständnis einer Literatur auf der Höhe der Zeit.
       
       In der fiktionalen Gattung des Romans dokumentiert Fontane auch Positionen,
       die sich in nichtfiktionalen journalistischen Texten bei ihm sonst nicht
       finden: etwa zur Frauenemanzipation, zur Sozialdemokratie oder auch zum
       Antisemitismus des Kaiserreichs. Die Duell-Kritik in „Effi Briest“ wurde
       wiederum schon zu seinen Lebzeiten zum politischen Argument in den Debatten
       um die Abschaffung der von Kaiser und Militär konservierten archaischen
       „Ehrengerichtsbarkeit“.
       
       Fontane, in seinen Beschränkungen, ist das ein typisches deutsches
       Intellektuellenleben im 19. Jahrhundert? 
       
       Ja. Alle seine Romane sind nicht zuletzt Variationen über das Thema „Das
       gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein“. Für die strukturelle
       Heuchelei der Bourgeoisie hatte er, nicht zuletzt wegen seiner eigenen
       biografischen Brüche und Selbstverkaufsgeschichte, ein besonderes Gespür.
       Und von den „Angstapparaten aus Kalkül“ und dem großmannssüchtigen
       „Deutschkaisertum“ bis zum allgegenwärtigen „Knacks“, den bei ihm
       eigentlich alle Figuren haben, hat er die Widersprüche seiner Zeit
       literarisch auf den Punkt gebracht.
       
       19 Mar 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Theodor-Fontane-und-Brandenburg/!5564067
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
       
       ## TAGS
       
   DIR Theodor Fontane
   DIR Biografie
   DIR 19. Jahrhundert
   DIR Theodor Fontane
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Theodor Fontane
   DIR Theodor Fontane
   DIR George Simenon
   DIR Brandenburg
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Fontane mal anders: Effie Briest bricht aus
       
       In comichafter Überspitzung zeigt das Theater Lübeck Moritz Franz Beichls
       Effi-Briest-Überschreibung: eher frei von als nach Theodor Fontane.
       
   DIR Freiheitskämpfe im März 1848: Die große Hoffnung
       
       Im revolutionären März 1848 kommt der polnische Freiheitskämpfer Ludwik
       Mierosławski in Berlin frei. Zum Jubel der Bevölkerung. Er dauert nicht
       lang.
       
   DIR Fontane wird 200: Danke, Theodor!
       
       Das Fontanejahr war ein Erfolg, sagt Kulturland-Chefin Brigitte
       Faber-Schmidt. Es habe das gespaltene Brandenburg wieder mit sich selbst
       versöhnt.
       
   DIR 200. Geburtstag von Fontane in Berlin: Bei Douglas nach links
       
       Theodor Fontane durchwanderte die Mark Brandenburg? Wir wandern mit Fontane
       durch Berlin! Auch hier lässt sich der Dichter (wieder)entdecken.
       
   DIR Kommissar-Maigret-Autor neu übersetzt: Ein Jedermann im Trenchcoat
       
       Der Vielschreiber George Simenon, der mit einfachsten Mitteln magische
       Wirkungen erzeugen konnte, ist nun als Klassiker ganz neu zu entdecken.
       
   DIR Theodor Fontane und Brandenburg: Fast unverfälscht
       
       Mit seiner spezifischen Art hat Theodor Fontane dem Tourismus in
       Brandenburg den Weg geebnet. Eine Wanderung um den Stechlinsee.