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       # taz.de -- Die Carretera Austral im Süden Chiles: Chiles längste Sackgasse
       
       > Staub, Gletscher und einsame Dörfer in der Wildnis. Nach 1.247 KM
       > verhindern der Lago O’Higgins und Patagoniens südliches Eisfeld die
       > Weiterfahrt.
       
   IMG Bild: Die Carretera Austral durchquert im Süden Chiles grandiose Landschaften
       
       Splitt spritzt auf. Der Motor röhrt. Die Farben explodieren. Die Bilder der
       Natur stürzen in einen Rausch. Tiefblaue Seen und milchtürkise Flüsse
       verschmelzen mit dem Weiß von Gletschern. Zwei rumpelige Fahrstunden führt
       die Natur zwischen Cochrane und Puerto Yungay ihr Schaulaufen vor, dann
       geschieht es auf Chiles legendärer „Südlandstraße“, der Carretera Austral:
       Gegenverkehr! Ein Auto rüttelt über die Waschbrettpiste und hält vor Augen,
       dass kein Reiseanspruch auf Einsamkeit besteht.
       
       Es gibt auch andere, die sich aus dem Staub machen, obgleich es nicht allzu
       lange her ist, als hier lediglich zwei, drei Fahrzeuge pro Tag ihre Reifen
       durch den Schotter frästen. Und ganz früher, womit die Zeit vor den 1990er
       Jahren gemeint ist, gab es die südlichsten Streckenabschnitte der Carretera
       Austral überhaupt noch nicht. Erst dann bekam Villa O’Higgins, der letzte
       Ort vor Patagoniens südlichem Eisfeld, seinen Straßenanschluss.
       
       Je südlicher, desto urwüchsiger und authentischer. So lautet die Formel auf
       der Carretera Austral. Die „Südlandstraße“ anzugehen, steht für eines der
       letzten großen Abenteuer in Chile. Sich auf sie einzulassen, das heißt,
       über viele Tage ihr Aroma schlucken zu wollen, den Staub. Sie zu spüren,
       das bedeutet, willens zu sein, sich von ihrem Erd- und Schotterbelag bis
       ins Tiefinnerste des Gedärms durchschütteln zu lassen und im Wageninnern
       der Klaviatur von Steinschlägen gegen den Unterboden und einem dauerhaften
       Klappern, Rattern, Rappeln und Scheppern zu lauschen.
       
       Es sind vibrierende Anstöße wie diese, die Reisende in Gang bringen,
       begleitet von der Aussicht auf Traumkulissen der Wildnis in der Región
       Aysén und irgendwann an den Seeweiten des Lago O’Higgins vor jener
       Holztafel zu stehen, die nach 1.247 Kilometern das Ende der Carretera
       Austral markiert. Dort ist Endstation und Wendemarke in Chiles längster
       Sackgasse. Dort schiebt die Geografie einen Riegel vor.
       
       Dagegen rückt vom hohen Norden her langsam, aber unaufhaltsam die Grenze
       der Straßenpflasterung heran. „Ich schätze, dass heute schon etwa 30
       Prozent der Carretera Austral asphaltiert sind“, sagt Sebastián Barceló
       Veas von der regionalen Tourismusbehörde Aysén. Und es gebe sogar Pläne,
       die Südlandstraße im Laufe der kommenden zwei Jahrzehnte durchgehend zu
       asphaltieren, was langwierig und kostspielig sei.
       
       ## Keine Ampeln, keinen Stau, keine Radarfallen
       
       Eine Fahrstunde südwestlich von Balmaceda endet hinter Villa Cerro Castillo
       derzeit der Asphalt. Die Carretera Austral zieht von der Überholspur des
       Lebens weg, das Tempo drosselt sich automatisch. Die Piste erlaubt oft kaum
       mehr als 40 Stundenkilometer. Es gibt keine Ampeln, keinen Stau, keine
       Radarfallen.
       
       Die Entwöhnung von eingefahrenen Routen der Zivilisation treibt vorwärts.
       Kurve um Kurve, Tal um Tal, Panoramablick um Panoramablick auf eine
       unbändig wilde Natur. Der Gebirgsriese des Cerro Castillo, der mit seiner
       Bizarrerie aus Zacken und Spitzen so wirkt, als hätten ihn überirdische
       Kräften zersägt, macht den Anfang. In Aussichtstrassen legt sich die
       Straße um die Westausläufer des Lago General Carrera, Südamerikas
       zweitgrößten See.
       
       Wer am Straßenrand stehen bleibt und den Motor ausschaltet, atmet glasklare
       Luft und erlebt eine Stille, durch die von Ferne das Rauschen des nächsten
       Flüsschens heranströmt. Gelegentlich taucht ein einsamer Reiter auf, setzen
       Gehöfte Rauchzeichen aus Kaminen. Im Schnitt verliert sich in der Region
       Aysén ein Einwohner auf einen Quadratkilometer. Erst Anfang des letzten
       Jahrhunderts setzte eine zögerliche Besiedlung ein, um die Territorien mit
       Viehwirtschaft und Holzeinschlag zu unterwerfen. Aber viele hielten es auf
       Dauer nicht aus. Dazu waren die Winter zu lang und hart, die Entfernungen
       zu weit, die Entbehrungen in den menschenfeindlichen Gegenden zu groß.
       
       „Entweder du gewöhnst dich dran oder du stirbst“, bringt es Carlos Benés
       Pérez, 45, auf den Punkt. Er ist ein Pionier der Moderne, der in den
       neunziger Jahren aus der spanischen Weinregion La Region zuwanderte nach
       Cochrane, dem größten Ort an der südlichen Carretera Austral.
       
       ## Das „Letzte Paradies“
       
       Carlos’ Passion für den Forellenfang gab den Ausschlag zu bleiben, dann
       eröffnete er mit seiner Frau María Nela das „Letzte Paradies“, Último
       Paraíso, so der Name ihres kleinen Hotels im Holzbaustil. Ein visionärer
       Glücksgriff, denn die Besucherkurve auf dem „Süd-Highway“ zeigt nach oben –
       und damit auch die in der Unterkunft.
       
       Das Hotelierspaar schätzt das Landleben, das ähnlich beschaulich verlaufe
       wie andernorts. „Nur mit dem Unterschied, dass das nächste Dorf 80 oder 100
       Kilometer entfernt liegt“, fügt María Nela hinzu. Für kulturelle Events
       haben beide nichts übrig. Zum Glück, denn im 5.000 Einwohner großen
       Cochrane gibt es keine. Ein Ortsspaziergang führt über die Rosenpromenade
       an der Avenida Bernardo O’Higgins, im Blick die spartanischen Domizile im
       Blockhausstil, weshalb sich Carlos „hier noch immer irgendwie in den Wilden
       Westen zurückversetzt“ fühlt.
       
       Die zentrale Plaza de Armas ist ein Mix aus Platz und Park mit
       Wiesenflächen, Birken, duftenden Kiefern, einem Supermarkt und Spielsalon
       an den Seiten – und einem architektonischen Kuriosum. Die Pfarrkirche San
       José Obrero überrascht mit ihrer oktogonalen Struktur. Der kleine
       Glockenturm steht separat. Über dem Altar hängt ein bescheidenes Holzkreuz.
       Das Einzige, was Cochranes Pfarrkirche fehlt, ist ein Pfarrer.
       
       Juvenal Francisco San Martín, 70, hält als letzter Aufrechter vor den
       patagonischen Eisfeldern die Stellung als Diakon „mit allen pfarrlichen
       Vollmachten“, wie er im Gespräch unterstreicht. Niemand sonst war bereit,
       sich der Herausforderung in den gottverlassenen Gegenden zu stellen.
       
       ## Indian Summer
       
       Hahnenschreie erklingen als Weckmusik in Cochrane, dann spielt der
       Rumpelbelag der Carretera Austral hinter den gepflasterten Ortsstraßen aufs
       Neue seine Melodie. Unablässig südlich geht es durch Korridore aus Seen,
       Tälern und Bergen. Besonders schön ist der Herbst, wenn sich die Ñires, die
       Antarktischen Scheinbuchen, rostbraun und rötlich verfärben und ihren
       Indian Summer zelebrieren. All die Namen der zahllosen Bäche, Seen und
       Flüsse zerfließen rasch in der Erinnerung, bis der Fiordo Mitchell einen
       markanten Einschnitt setzt.
       
       Im Hafen- und Militärstützpunkt Puerto Yungay lädt eine Fähre regelmäßig
       Passagiere und Fahrzeuge zu einer halbstündigen Fjordpassage auf. Ein
       Schild unweit der Anlegestelle rühmt den unter General Augusto Pinochet
       vorangetriebenen Bau der Carretera Austral. Hintergrund des pharaonischen
       Projektes war nicht nur, die entlegensten Orte anzubinden. Militärische
       Überlegungen spielten ebenso eine Rolle wie dem Rest der Welt zu zeigen, zu
       welchen planerischen Heldentaten Chiles Diktator fähig war.
       
       Zurück mit festem Pistenboden unter den Füßen, geben Geraden durch
       Waldstücke Zeit zum Luftholen, bis auf dem kurvigen Endstück vor Villa
       O’Higgins der „Schwanensee“, Lago de Cisnes, den Atem raubt. Spiegelbilder
       von Bergen mit Eisplatten stehen im Wasser und zeigen, dass die Schönheit
       von Wildnis niemand ermüden kann.
       
       Villa O’Higgins empfängt mit ungewohnten Bildern einer Tankstelle und eines
       Flugfelds, Hinweistafeln auf Unterkünfte, ein paar Längs- und Querstraßen
       mit farbigen Holzhäuschen sowie einem bevölkerungsstatistischen
       Ungleichgewicht. In dem 600-Einwohner-Ort gibt es einen deutlichen Überhang
       an Männern.
       
       ## Das Ende der Carretera Austral
       
       In feste Hände hat es Mario Villagrande, 23, geschafft, obwohl das keine
       Selbstverständlichkeit ist. „In meiner Altersklasse gibt es nur einige
       wenige im Ort“, sagt Mario, der seine Pesos als Besatzungsmitglied auf
       einem Ausflugsschiff zum Gletscher O’Higgins verdient. Bahía Bahamóndez
       heißt die nahe Bucht am Lago O’Higgins, wo das viel fotografierte
       Holzschild beim Pier den Schluss der Carretera Austral verkündet und das
       Boot mehrmals pro Woche ablegt.
       
       Routiniert bringt Marios Onkel, Daniel Muñoz, 47, den Sightseeing-Dampfer
       am Morgen des Ganztagesausflugs über Chiles tiefsten See auf Kurs und nimmt
       sich auf der Brücke Zeit für einen Plausch. Seit sechs Jahren lebt er in
       Villa O’Higgins. Größter Nachteil sei die fehlende weiterführende Schule.
       Dadurch seien junge Leute gezwungen, den Ort früh zu verlassen. Dagegen
       schätzt er die „absolute Sicherheit“. Die Fenster seien nicht vergittert.
       Er schließe die Haustür nicht ab, auch das Auto bleibe immer offen.
       
       Brisen kräuseln die Weiten des Wassers. Die Ausläufer des Campo de Hielo
       Sur geraten in Sicht, des Südpatagonischen Eisfelds, in seiner Gesamtheit
       knapp ein Drittel so groß wie die Schweiz, 13.000 Quadratkilometer.
       
       Der Himmel ist wolkenfrei, für Kapitän Daniel ist die Navigation heute
       erstaunlich einfach. Er drosselt das Tempo von zehn Knoten, hält winzige
       Eisberge und den Glaciar O’Higgins auf Abstand, der um die Mittagszeit
       näher rückt, ein kilometerlanges, weißblaues Band, das Erde und Himmel
       verbindet. Die Frontwand des Gletschers zeigt Zähne aus Spalten und
       Spitzen. Gelegentlich krachen Stücke heraus und zerreißen die Stille.
       
       Nach einem „Whisky on the rocks“ mit frisch gefischtem Gletschereis stehen
       alle Zeichen auf Umkehr. Zurück auf dem Seeweg. Zurück über Land nach
       Balmaceda. Tage später erlischt kurz vor Villa Cerro Castillo die Magie der
       Carretera Austral. Die letzte Staubfahne verweht, der Asphalt kehrt zurück.
       
       Weitere Infos [1][www.recorreaysen.cl]
       
       17 Mar 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://recorreaysen.cl/en/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Drouve
       
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