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       # taz.de -- Prozess um Messerstiche gegen Daniel H.: Brüchiger Frieden in Chemnitz
       
       > Der Prozess um den tödlichen Angriff auf Daniel H. könnte Chemnitz wieder
       > aufwühlen. Ein Freispruch ist nicht ausgeschlossen.
       
   IMG Bild: Mit dem Tod von Daniel H. begann letzten Sommer der Ausnahmezustand in Chemnitz
       
       Chemnitz taz | Es ist dunkel geworden auf dem Neumarkt, als Barbara Ludwig
       die Bühne betritt. Die Luft ist feucht und kalt, die Bürgermeisterin hat
       ihren grauen Mantel mit Leopardenkragen zusammengezogen. Nun blickt die
       SPD-Frau in die Gesichter von mehreren hundert Chemnitzern, viele von ihnen
       halten Kerzen in den Händen. Gerade noch spielten Bläser, oben auf der
       Empore von Ludwigs Rathaus. Nun ist es ganz still auf dem Platz, ja
       andächtig.
       
       Chemnitz feiert an diesem Dienstagabend im März sein jährliches
       Friedensfest, in Gedenken an die Bombardierung der Stadt am Ende des
       Zweiten Weltkriegs. Redner erinnern an die Millionen von Kriegstoten der
       jüngeren Geschichte, halten Plädoyers für die EU, sprechen über Versöhnung
       und Vergebung.
       
       Dann nimmt sich Barbara Ludwig das Mikrofon. Die Bürgermeisterin spricht
       über einen anderen Wunsch nach Frieden: den in ihrer Stadt. „Frieden in
       dieser Stadt heißt für mich, dass wir es sind, die Frieden machen, alle
       Bürger“, sagt Ludwig. Dass Menschen unterschiedlicher Einstellungen
       miteinander auskämen, sich zuhörten, „mit Respekt, ohne Angst, ohne
       Gewalt“. „Wir entscheiden“, schließt Ludwig, „ob es die Liebe ist, die uns
       antreibt, oder der Hass.“
       
       Die Worte der Bürgermeisterin sind ein Appell, nach all dem, was in den
       letzten Monaten passiert ist. Und diesmal applaudieren die Chemnitzer.
       Ludwig tritt mit einem Lächeln ab. Nur eine Handvoll Polizisten begleitet
       entspannt am Rande das Gedenken, es gibt keine Störungen. Es bleibt an
       diesem Abend, an diesem Friedenstag, ruhig in Chemnitz. Endlich.
       
       ## Rechte dominieren Chemnitz noch immer
       
       Aber der Frieden in Chemnitz ist brüchig. Und er wird ab Montag auf eine
       neue Probe gestellt. Dann, wenn der Prozess um den Tod von Daniel H.
       beginnt. Zwei Geflüchtete sollen den 35-jährigen Chemnitzer in der Nacht
       des 26. August 2018 erstochen haben, nach einem Stadtfest. Es war die Tat,
       die in Chemnitz alles veränderte und der Stadt Wochen des Aufruhrs
       bescherte.
       
       Rechte aus dem ganzen Bundesgebiet zogen nach dem Tod von Daniel H. durch
       Chemnitz, zu Tausenden, immer wieder. Am Rande wurden Migranten
       angegriffen, [1][wurde ein jüdisches Restaurant attackiert]. Der damalige
       Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen bestritt, dass es Hetzjagden gab,
       verstieg sich in wilde Theorien – und wurde am Ende in den Ruhestand
       versetzt. Die Bundesregierung verschärfte Gesetze zu Abschiebungen. Und die
       Bundesanwaltschaft hob eine mutmaßliche rechtsextreme Terrorzelle aus,
       „Revolution Chemnitz“.
       
       Wie sehr die Rechten die Stadt weiter dominieren, zeigte sich erst am
       vergangenen Wochenende: Da huldigten Hooligans im Stadion des Chemnitzer FC
       einem stadtbekannten, verstorbenen Neonazi, auch ein Stadionsprecher und
       ein Torschütze machten mit, das Porträt des Rechten wurde auf der Videowand
       eingeblendet. Wieder folgten [2][Tage der Negativschlagzeilen].
       
       Und nun beginnt der Prozess zu der Tat, mit der im letzten Sommer der
       Ausnahmezustand begann.
       
       ## Anklage mit Widersprüchen
       
       Es ist Alaa S., der ab Montag vor Gericht steht. Ein Syrer, 23 Jahre alt,
       drei Geschwister in Syrien. Im Frühjahr 2015 reiste er nach Deutschland.
       Fotos zeigen ihn mit hochgegelten Haaren, posend, sportlich gekleidet.
       Zuletzt arbeitete er in einem Friseursalon. Vorstrafen hat er keine.
       „Gemeinschaftlichen Totschlag“ wirft ihm die Anklage vor. Ein weiterer
       Tatverdächtiger, der Iraker Farhad R., ist bis heute flüchtig. Wird Alaa S.
       verurteilt, drohen ihm viele Jahre Haft. Und Chemnitz könnte vielleicht
       etwas abschließen.
       
       Das aber ist längst nicht sicher. Denn die Anklage gegen Alaa S. ist nicht
       ohne Widersprüche. Und Alaa S. bestreitet, etwas mit der Tat zu tun zu
       haben. Seine zwei Anwälte wollen auf Freispruch verteidigen. Zwischendrin
       waren es mal vier Verteidiger, die sich um den Syrer kümmerten. Weil die
       Aufmerksamkeit für diesen Prozess enorm sein wird und der Druck auf das
       Gericht ebenso.
       
       Schon jetzt droht Protest. Dresden ist Pegida-Hochburg, die Bewegung
       marschierte in Chemnitz mit, über Wochen skandalisierte sie den Todesfall.
       Auch Martin Kohlmann, Anführer des rechtsextremen „Pro Chemnitz“, kündigt
       an, dass einige Chemnitzer nach Dresden fahren werden. „Der Fall ist nicht
       abgehakt“, sagt Kohlmann. „Weil keine Konsequenzen gezogen wurden.“ Gebe es
       tatsächlich einen Freispruch, „würde das die Leute arg wütend machen“.
       
       Die Verteidiger von Alaa S. hatten bereits vor Wochen beantragt, den
       Prozess weder in Chemnitz noch überhaupt in Sachsen zu verhandeln. Dort sei
       mit Ausschreitungen zu rechnen. Die Richter und Schöffen könnten nicht
       angstfrei urteilen, auch sei nicht ausgeschlossen, dass sie selbst rechtes
       Gedankengut teilten.
       
       ## Freispruch wäre schwierig für Chemnitz
       
       Das Landgericht Chemnitz entschied darauf, [3][in Dresden zu verhandeln],
       in einem Hochsicherheitssaal. Kohlmann, der Rechtsaußen, schimpft darüber:
       „Man scheut den Kontakt mit der Chemnitzer Bevölkerung, die Öffentlichkeit
       wird abgewürgt. Das sind Vorzeichen, wie das hier laufen soll.“
       
       Barbara Ludwig, die Bürgermeisterin, blickt angespannt auf den Prozess. Vor
       der Friedenskundgebung sitzt sie in ihrem Büro, ein fast steriler Raum, das
       einzige Bild ein Plakat der Chemnitzer Rockband Kraftklub. „Ich hoffe, dass
       mit dem Prozess die Umstände der Tat öffentlich werden“, sagt Ludwig. „Ich
       hoffe aber noch mehr, für die Familie des Opfers, dass es eine Verurteilung
       gibt, damit die Angehörigen Ruhe finden können.“ Und wenn es einen
       Freispruch gibt? Ludwig schweigt einen Moment. „Dann würde es schwierig für
       Chemnitz. Aber so wäre der Rechtsstaat.“
       
       Es sind die Mutter von Daniel H. und seine Schwester, die als Nebenkläger
       im Prozess sitzen werden. Daniel H. wurde in Chemnitz geboren, sein
       kubanischer Vater musste noch vor dessen Geburt die DDR verlassen. Mit
       seiner Herkunft habe es der 35-Jährige in Chemnitz nicht immer leicht
       gehabt, erzählt ein Jugendfreund. Sanftmütig sei er gewesen, umgänglich,
       stets gut gelaunt. Daniel H. wurde schließlich Tischler, arbeitete zuletzt
       bei einer Hausmeisterfirma – und führte seit acht Jahren eine Beziehung mit
       einer Frau, deren Sohn er mit großzog.
       
       Daniel H.s Familie will nicht mit Medien reden. Für sie ist der Tod des
       Sohns und Bruders immer noch unbegreiflich, heißt es von ihren Anwälten.
       Der politischen Instrumentalisierung der Tat aber könnten sie nichts
       abgewinnen. „Sie wollen nur die Wahrheit wissen, was in dieser Nacht
       passierte“, sagt ein Anwalt. „Auch, damit sie irgendwie abschließen
       können.“
       
       ## Tathergang immer noch unklar
       
       Auch Daniel H.s Lebensgefährtin spricht nicht mit der Presse, auch sie
       trauert. Liest man, was sie im Internet schreibt, klingt aber auch Wut mit.
       Medien nennt sie eine „Schande“, die über den Tod von Daniel H.
       Unwahrheiten berichteten. Politiker seien „Puppenspieler“. Sie teilt ein
       Video, in dem die Messerstiche auf Daniel H. als „Staatsversagen“ angeklagt
       werden. „Steht auf, aber friedlich“, schrieb sie kurz nach der Tat.
       
       Was indes in der Nacht des 26. August geschah, ist bis heute nicht ganz
       klar. Mehr als 100 Zeugen befragten die Ermittler. Aus ihrer Anklage, die
       die taz einsehen konnte, ergibt sich folgendes Bild: Daniel H. hatte damals
       mit Bekannten ein Stadtfest besucht. In der Nähe eines Döner-Imbisses sei
       gegen 3.15 Uhr der heute flüchtige Farhad R. auf ihn zugekommen, habe ihn
       nach einer „Karte“ gefragt, offenbar um damit Kokain zu schnupfen.
       
       Auch der Iraker war schon länger an diesem Abend unterwegs – und als
       aggressiv aufgefallen. Einen Mann hatte er laut Zeugen mit einem Messer
       bedroht, andere als Nazis beschimpft, die er „ficken“ werde. Nun spricht
       Farhad R. kurz mit Daniel H., der weist ihn ab: Er solle sich „verpissen“.
       Der Iraker soll darauf mit einer Ohrfeige geantwortet, H. ihn zu Boden
       geschubst haben. Beide hätten sich angeschrien.
       
       Wegen des Gebrülls sei nun Alaa S. mit zwei Männern aus dem Döner-Laden
       geeilt. Er habe mit Farhad R. gesprochen, beide seien auf Daniel H.
       zugegangen, in Angriffshaltung. Daniel H. habe Alaa S. einen Faustschlag
       verpasst. Darauf habe dieser den Nacken von H. umfasst und mit einem Messer
       auf ihn eingestochen. Auch Farhad R. habe zugestochen. Auch H.s Bekannter
       Dimitri M. wird schwer verletzt. Dann rennen Alaa S. und Farhad R. davon.
       
       So lautet jedenfalls die Rekonstruktion der Ermittler.
       
       ## Alaa S. weist Anklage von sich
       
       Klar ist: Daniel H. stirbt noch am Tatort. Fünf Messerstiche hatten ihn
       getroffen, einer davon ins Herz, einer in die Lunge. Alaa S. wird nur zehn
       Minuten nach der Tat von einer Polizeistreife festgenommen. Farhad R. ist
       bis heute verschwunden. Er soll sich vier Tage nach der Tat mit seinem
       Bruder aus Chemnitz abgesetzt haben, offenbar ins Ausland. Alaa S. indes
       weist die Anklage von sich.
       
       Er behauptet, er habe, nachdem er aus dem Döner-Laden gekommen sei, das
       Geschehen nur aus der Ferne beobachtet. Verletzte habe er keine gesehen.
       Dann habe er sich mit seinem Bekannten Yousif A. entfernt. Als die Polizei
       kam, sei er aus Angst davongelaufen.
       
       Tatsächlich gibt es nur einen Zeugen, der direkt gesehen haben will, dass
       Alaa S. Messerstiche ausführte: ein Mitarbeiter des Döner-Imbisses. Der
       aber beobachtete die Tat nur aus einiger Entfernung. Sprach er anfangs von
       Stichbewegungen von Alaa S., sagte er später, es seien Schläge gewesen.
       
       Auch fanden sich auf einem gefundenen Messer Blutspuren von Daniel H., aber
       keine DNA von Alaa S. Der Hauptbelastungszeuge schilderte zudem, dass Alaa
       S. blutverschmierte Hände gehabt habe. Zeugen, die den Syrer wegrennen
       sahen, berichteten davon nichts.
       
       ## Stimmung ist aufgeladen
       
       Dennoch sitzt Alaa S. bis heute in Haft. Die Angaben des
       Hauptbelastungszeugen deckten sich mit den Stichverletzungen im Körper von
       Daniel H., betonen die Ankläger. Zudem hätten auch andere Zeugen ausgesagt,
       Alaa S. sei an der Auseinandersetzung mit Daniel H. beteiligt gewesen –
       wenn auch sie keine Messerstiche sahen. Und Bekannte des Syrers hätten den
       Hauptzeugen bedroht, seine Aussage zurückzuziehen. Alaa S. soll dagegen
       überzeugt sein, freigesprochen zu werden. Er nehme die Situation gefasst,
       heißt es.
       
       Aber unter Rechten, in Chemnitz und weit darüber hinaus, ist das Urteil
       längst gefallen. Im Internet veröffentlichten sie Alaa S.’ vollen Namen,
       posteten Fotos von ihm. Als „Invasionsmoslem“ wird er dort bezeichnet, als
       „Killer“. „So ein Arsch hat gleich vier Anwälte“, schrieb ein Nutzer
       kürzlich. „Bitte holt mich ab und steckt mich mit ihm in eine Zelle.“
       
       Die Kommentare zeigen, wie aufgeladen die Stimmung in Chemnitz weiter ist.
       Zwar endeten Mitte Dezember die rechten Aufzüge, nach Monaten des
       allfreitäglichen Protests mit bis zu 8.000 Teilnehmern. Nun aber zeigten
       die Rechten im Stadion des Chemnitzer FC, dass sie nie weg waren. Und schon
       Anfang März rief „Pro Chemnitz“ wieder zu einem Aufzug auf, rund 100
       Anhänger kamen.
       
       Zudem sind im Mai Kommunalwahlen in der Stadt, im Herbst dann
       Landtagswahlen. Vieles spricht dafür, dass die Rechten davor wieder
       aufdrehen. „Wir werden uns bemerkbar machen“, kündigt „Pro Chemnitz“-Chef
       Martin Kohlmann bereits an.
       
       Im dritten Stock eines Backsteinhauses am Rande der Chemnitzer Innenstadt
       hört man das mit Sorge. Anna Pöhl und André Löscher sitzen hier an einem
       kleinen Holztisch in ihrem Büro, Mitarbeiter der sächsischen Opferberatung.
       Zuletzt habe sich die Lage etwas beruhigt, sagt Löscher, raspelkurze Haare,
       Tattoos. „Aber es gibt keine Entwarnung. Das Klima in der Stadt ist
       vergiftet.“
       
       ## Vergiftetes Klima
       
       Vor wenigen Tagen erst trugen Löscher und Pöhl ihre Zahlen für 2018
       zusammen. 79 rechte Gewaltdelikte zählten sie, mit 114 Opfern – die
       allermeisten nach dem 26. August. Im Vorjahr waren es 20 Taten. Neben dem
       jüdischen Restaurant wurden ein türkisches und zwei persische attackiert.
       
       Ein Tunesier wurde von vier Männern zusammengeschlagen, einem Iraner eine
       Flasche an den Kopf geworfen, Frauen wurden Kopftücher runtergerissen. Und
       bis heute sitzen die acht Männer in Haft, die sich als „Revolution
       Chemnitz“ über Anschläge auf Politiker, Migranten und Linke austauschten
       und bereits nach Waffen suchten.
       
       Es seien die rechten Aufmärsche und die Debatte darum, welche die Gewalt
       „salonfähig“ gemacht hätten, sagt Anna Pöhl, dunkle Zopffrisur, große
       Ohrringe. „Die Enthemmung ist erschreckend. Und das Potenzial für neue
       Ausschreitungen ist jederzeit da.“ Umso mehr, wenn es im Prozess gegen Alaa
       S. einen Freispruch gäbe.
       
       ## Sommer 2018 hängt über allem
       
       Auch Barbara Ludwig kennt die Zahlen der Opferberatung. „Es gibt die
       Rechten und es gibt Gräben in der Stadt, das ist nicht zu leugnen“, sagt
       die Bürgermeisterin. „Aber Chemnitz ist so viel mehr.“ Sind die Gräben
       kleiner geworden seit dem Sommer? Ludwig hält inne. „Ich könnte das jetzt
       einfach bejahen, aber so leicht ist es nicht. Fragen Sie mich in zwei
       Jahren noch mal.“
       
       Ludwig ist eine resolute Frau, eine einstige Lehrerin, modisch stets
       extravagant, seit 2006 im Amt. Das vergangene Jahr war ihr schwerstes.
       Chemnitz will sich eigentlich als Industriestandort profilieren, baut einen
       Wissenschaftscampus auf, siedelt Start-ups an, will Europäische
       Kulturhauptstadt 2025 werden. Gerade erst reiste Ludwig nach Tel Aviv, auch
       um über eine Städtepartnerschaft zu reden. Aber über allem hängt nun der
       letzte Sommer.
       
       Vor zwei Wochen erst war Kanzlerin Angela Merkel da, zum zweiten Mal nach
       der Messerattacke und den rechten Ausschreitungen, diesmal unangekündigt.
       Ludwig ging mit ihr zum Spiel der lokalen Basketballer und in zwei der
       angegriffenen Restaurants, das jüdische Schalom und das persische Safran.
       
       Merkel versicherte, der Stadt helfen zu wollen. Und Ludwig verwies auf die
       schlechte Bahnanbindung, die Kulturhauptstadtbewerbung, mögliche
       Ansiedlungen von Behörden. „Es wäre wichtig, dass Worten Taten folgten“,
       sagt die SPD-Frau.
       
       ## „Je mehr Gespräche, desto besser“
       
       Es ist Ludwigs Daueraufgabe jetzt: der Versuch, das Bild von Chemnitz
       wieder geradezurücken, die Gräben in der Stadt zu schließen – und irgendwie
       Positives für Chemnitz herauszuholen, vielleicht auch gerade wegen der
       letzten Monate.
       
       „Die Stadt braucht einen großen Aufbruch, mal wieder“, sagt die
       Bürgermeisterin. Ludwig forciert deshalb weiter die
       Kulturhauptstadtbewerbung. Sie legte einen Sieben-Punkte-Plan vor: mehr
       Videoüberwachung, mehr Präsenz des Ordnungsdiensts, mehr Förderung der
       Universität, dem internationalen Schmelztiegel der Stadt.
       
       Vor allem aber: mehr Bürgerbeteiligung, auch mit neuen Formaten. „Ich kann
       nachvollziehen, wenn Leute eingeschliffene politische Prozesse hohl und
       abstoßend finden“, sagt Ludwig. „Je mehr Gespräche, desto besser. Auch das
       ist eine Lektion.“
       
       800 Meter von Ludwigs Rathaus entfernt sitzt Martin Kohlmann im obersten
       Stock eines Hauses, das nach Abbruch aussieht, in einem kleinen,
       vollgestopften Büro. Er kommentiert Ludwigs Vorgehen mit einer Geste:
       Blablabla. „Laberrunden, mit denen die Leute jetzt abgespeist werden. Das
       Problem auf der Straße wird damit nicht gelöst.“
       
       ## Rechte Demos verlieren Zulauf
       
       Die Innenstadt bleibe eine „No-go-Area“. Wegen des „Problempotenzials“,
       wie der Rechtsextreme Geflüchtete nennt. Nur noch Sachleistungen sollten
       diese bekommen, kein Geld mehr, findet Kohlmann. Dann werde kaum noch
       jemand kommen, dann wäre „das meiste“ gelöst.
       
       Kohlmann trägt in seinem Büro graue Plüschhausschuhe und weißes Hemd, für
       den Besucher muss er erst einen Stuhl von Klamotten freiräumen. Auch auf
       seinem Schreibtisch türmen sich Papierberge, dazwischen steht ein leeres
       Bierglas. Es ist Kohlmanns Kanzlei, eigentlich arbeitet er als Anwalt.
       
       Seit Jahren aber ist er auch rechter Redner und Stadtverordneter in
       Chemnitz, erst für die „Republikaner“, dann für „Pro Chemnitz“. Auch
       Letztere stuft der sächsische Verfassungsschutz seit Ende 2018 als
       verfassungsfeindlich ein. Das sei ihm egal, sagt Kohlmann. „Jede anständige
       Opposition wird überwacht.“
       
       Seine Demonstrationen hätten zuletzt an Zulauf verloren, gesteht Kohlmann.
       Es sei schwer, die Leute auf Dauer vom Sofa zu bekommen. Aber der
       41-Jährige hat schon neue Pläne. Zuletzt stand er öfter in den Etagen unter
       seinem Büro, verlegte Kabel, verputzte Wände: Kohlmann baut dort ein
       „Bürgerbüro“ auf. Noch ist alles Baustelle.
       
       ## Die scheinbar einfachen Antworten
       
       Aber ein fester Anlaufpunkt für seine Anhängerschaft soll es werden. Und
       noch etwas hat Kohlmann vor: Bald werde „Pro Chemnitz“ mit „Bürgerstreifen“
       durch die Stadt ziehen, mit Westen und Bodycams. Dann wollen die
       Rechtsextremen selbst für Ordnung sorgen.
       
       Kohlmann ist jetzt eines der größten Probleme von Bürgermeisterin Ludwig.
       Solange er keine Ruhe gibt, wird auch Chemnitz nicht zur Ruhe kommen. Als
       „einen der kaltschnäuzigsten, gefährlichsten Rechtsradikalen dieser
       Republik“, bezeichnet Ludwig den „Pro Chemnitz“-Chef. „Er hat die scheinbar
       einfachen Antworten.“ Es sei nun an den Chemnitzern, zu entscheiden, ob sie
       sich weiter von den Rechtsextremen instrumentalisieren ließen. „Oder ob sie
       für das andere Chemnitz einstehen.“
       
       Kohlmann indes lässt keinen Zweifel, dass er keine Ruhe geben will – und
       den Ausnahmezustand für sich nutzen. 5,6 Prozent holte „Pro Chemnitz“ bei
       der letzten Kommunalwahl. Nach all dem, was passiert sei, sollte seine
       Partei bei der Wahl im Mai nun „zweistellig“ werden, sagt Kohlmann. Die
       Ereignisse und die „Medienhetze“ hätte das Vertrauen in den Staat
       kaputtgemacht. „Eine gute Konsequenz“, sagt der Rechtsextremist. „Der
       Institution Staat sollte man grundsätzlich misstrauen.“
       
       Die Opferberater André Löscher und Anna Pöhl sehen Kohlmanns Pläne dagegen
       mit „sehr großer Besorgnis“. „Das birgt die Gefahr, dass sich alles wieder
       hochschaukelt“, sagt Pöhl. „Es ist absehbar, dass es aus der Bürgerwehr
       heraus rassistische Bedrohungen geben wird.“
       
       ## Haftbefehl politisch gewollt?
       
       Auch Bürgermeisterin Ludwig will die neuen Provokationen nicht einfach so
       geschehen lassen. Für Kohlmanns Bürgerbüro sei noch keine entsprechende
       Nutzung beantragt. „Wir werden da ein sehr genaues Auge drauf haben“, sagt
       die SPD-Frau. Gleiches gelte für die Bürgerwehren. „Die sollen in Wahrheit
       destabilisieren, den Rechtsstaat unterlaufen und Machtfantasien aufleben
       lassen.“
       
       Wohin die aufgewühlte Stimmung in Chemnitz führt, das zeigt auch der Fall
       Yousif A. Auch der Iraker war in der Nacht des 26. August in Tatortnähe,
       rannte damals mit Alaa S. weg, wurde festgenommen. Auch sein voller Name
       und seine Adresse wurden im Internet veröffentlicht, ebenso sein
       Haftbefehl, den ein Justizwachtmeister an die rechte Szene durchgestochen
       hatte. Drei Wochen saß Yousif A. in Haft.
       
       Obwohl der Hauptzeuge den Ermittlern sagte, Yousif A. habe nichts gemacht,
       und auch Alaa S. angab, der Iraker habe nur geschlichtet. Auch andere
       Zeugen schrieben ihm keine Messerstiche zu, keine DNA-Spuren führten zu
       ihm. [4][Schließlich wurde der Iraker freigelassen], die Ermittlungen
       wurden eingestellt.
       
       „Nichts lag gegen ihn vor, gar nichts“, schimpft noch heute dessen Anwalt
       Ulrich Dost-Roxin. „Der Haftbefehl war politisch gewollt, um Ruhe in die
       Stadt zu kriegen.“ Vor wenigen Tagen stellte Yousif A. nun Anzeige wegen
       Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung gegen den Staatsanwalt und den
       Richter, der den Haftbefehl genehmigte. „Das darf nicht folgenlos bleiben“,
       sagt Anwalt Dost-Roxin. Yousif A. lebt derweil an einem geheimen Ort,
       geschützt von der Polizei.
       
       Politischer Druck auf das Gericht? Bürgermeisterin Ludwig bestreitet das.
       „Die Justiz ist unabhängig. Und sie ist jetzt genau der Ort, wo
       Strafverfolgung stattfinden muss. Dort, nicht auf der Straße.“ Aber: Selbst
       das Gericht spricht von einem „außerordentlich großen Interesse der
       Öffentlichkeit“ an dem Prozess. Waren zunächst bis Ende Mai Termine
       angesetzt, sind diese nun bereits bis Oktober verlängert. Stünde am Ende
       tatsächlich ein Freispruch, gäbe es nur zwei Gewinner. Den Rechtsstaat. Und
       Martin Kohlmann, der das wohl wieder als Futter für seine Hetze nehmen
       würde.
       
       Sonst aber gäbe es nur Verlierer. Der Tod von Daniel H. bliebe
       unaufgeklärt. Ein Unschuldiger saß fast sieben Monate in Haft. Und Chemnitz
       käme wieder nicht zur Ruhe.
       
       17 Mar 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Anschlaege-in-Sachsen/!5543459
   DIR [2] /Nazi-Thomas-Haller-beim-Chemnitzer-FC/!5578087
   DIR [3] /Verfahren-wegen-Toetung-von-Daniel-H/!5574493
   DIR [4] /Toetungsdelikt-in-Chemnitz/!5536938
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Konrad Litschko
       
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       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Rückzug von Chemnitzer Bürgermeisterin: Am Ende ein Schatten
       
       Seit 13 Jahren regiert Barbara Ludwig in Chemnitz. Die rechten Unruhen
       wurden ihre größte Herausforderung. Nun zieht sie sich zurück.
       
   DIR Rechtsextreme Anschläge geplant: Neonazi-Gruppe angeklagt
       
       Acht Neonazis wollten als „Revolution Chemnitz“ wohl einen „Systemwechsel“
       herbeiführen. Nun erhebt die Bundesanwaltschaft Anklage gegen sie.
       
   DIR Prozess um Messerattacke in Chemnitz: Zeuge gegen Staatsanwalt
       
       Neue Wendung im Chemnitz-Prozess: Ein Zeuge will den Staatsanwalt
       auswechseln lassen. Der Iraker saß zuvor ohne triftige Beweise in Haft.
       
   DIR Prozess gegen Neonazi: Vermummt in Chemnitz
       
       Die Neonazi-Gruppe „Revolution Chemnitz“ soll Anschläge geplant haben. Ihr
       mutmaßlicher Rädelsführer stand jetzt vor Gericht.
       
   DIR Chemnitz-Prozess auf der Kippe: Zentraler Zeuge verweigert Aussage
       
       Im Prozess zur tödlichen Messerattacke in Chemnitz hält die Anwältin des
       Angeklagten einen Freispruch für unausweichlich.
       
   DIR Tödliche Messerstiche in Chemnitz: Stadtfest soll 2019 nicht stattfinden
       
       Im August wurde Daniel H. in Chemnitz am Rande des Stadtfests erstochen.
       Dieses Jahr soll die Veranstaltung ausfallen, auch aus Imagegründen.
       
   DIR Prozessauftakt in Chemnitz: Freispruch nicht ausgeschlossen
       
       Wer hat Daniel H. erstochen? Noch bevor der Prozess gegen den Angeklagten
       am Montag losging, gibt es Fragen zur Gesinnung der Richter.
       
   DIR Kommentar Beisetzung in Chemnitz: Fußballfan und Nazi
       
       In Chemnitz wird der Neonazi Thomas Haller beerdigt. Wer die Veranstaltung
       als „privat“ bezeichnet, muss auf dem rechten Auge total blind sein.
       
   DIR Nazi Thomas Haller beim Chemnitzer FC: Mann fürs Grobe mit NSU-Kontakten
       
       Das Gedenken an einen Neonazi im Chemnitzer Stadion sorgt immer noch für
       Aufsehen. Doch wer war Thomas Haller?
       
   DIR Politischer Aschermittwoch von Pegida: Rechte Hetzer sind zerstritten
       
       Ein von Pegida geplantes Plattformtreffen im sächsischen Nentmannsdorf wird
       zur Poggenburg-Show. Die rechte Vernetzung scheiterte.
       
   DIR Statistik zu antisemitischen Straftaten: Erneut mehr Fälle in Sachsen
       
       Seit Jahren zeichnet sich ein Anstieg antisemitischer Straftaten in Sachsen
       ab. 2018 gab es 138 Fälle. Schwerpunkte waren Leipzig, Dresden und
       Chemnitz.