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       # taz.de -- 8. März in der Türkei: 18 Frauen, die man kennen sollte
       
       > Diese Frauen haben Politik, Kultur und Gesellschaft der Türkei nachhaltig
       > geprägt. Ein feministischer Kanon, zusammengestellt von taz.gazete.
       
   IMG Bild: Duygu Asena, Semiha Berksoy, Zabel Yesayan, Pınar Selek, Bülent Ersoy, Gültan Kışanak, Demet Demir, Nevin Yıldırım
       
       Die Geschichte der Türkei ist voll von Frauen, die Politik, Kultur und
       Gesellschaft des Landes nachhaltig geprägt haben. Wie überall in
       patriarchalen Strukturen werden sie aber oft nicht gesehen oder vergessen.
       Anlässlich des Frauenkampftags am 8. März stellt taz.gazete 18 Frauen vor,
       die jedeR kennen sollte. Eine Auswahl. 
       
       ## Zabel Yesayan (1878 -1943)
       
       Die Istanbuler Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin
       veröffentlichte ihren ersten Artikel 1895 in der armenischen Zeitschrift
       Dzağig (Blume). Damals fanden die ersten Massaker an osmanischen
       Armenier*innen statt, weshalb sie im gleichen Jahr nach Paris ging und an
       der Universität Sorbonne und am Collège de France Literatur und Philosophie
       studierte. Zabel Yesayan war die erste armenische Frau im Osmanischen
       Reich, die studierte.
       
       Am 24. April 1915, dem Tag, als die armenischen Intellektuellen abgeholt
       und in den Tod geschickt wurden, kam sie davon, weil sie sich in einem
       Krankenhaus versteckte. Sie ging zunächst nach Bulgarien, dann nach Baku,
       dort schloss sie sich den Hilfsaktionen für armenische Geflüchtete und
       Waisen an. 1921 ging sie erneut nach Paris. Auf Einladung der armenischen
       Regierung siedelte sie 1933 nach Jerewan über. An der staatlichen
       Universität Jerewan lehrte sie Literatur. 1937 wurde sie im Zuge der
       stalinistischen „Säuberungen“ verhaftet und nach Sibirien deportiert. Wann
       und wo genau sie starb, ist nicht bekannt. Ihre Romane und weiteren Bücher
       erscheinen auf Türkisch im Aras-Verlag.
       
       ## Behice Boran (1910 -1987)
       
       Jeder, der sich mit der Geschichte der linken Bewegung vor 1980
       beschäftigt, stellt fest, dass die Bewegung in nahezu allen Facetten von
       Männern geprägt war. Allein Behice Boran sticht als unübersehbare starke
       Frauenfigur hervor. Die Politikerin, Soziologin und Autorin arbeitete viele
       Jahre als Lehrerin in Anatolien. Sie richtete ihr ganzes Leben nach ihren
       politischen Ansichten aus. Anfang der 1940er Jahre trat sie in die damals
       verbotene Kommunistische Partei der Türkei (TKP) ein. Sie verlor ihre
       Stelle als außerordentliche Professorin an der Ankara Universität und
       musste 1950 wegen der Anschuldigung, sie hätte gegen den Koreakrieg
       protestiert, ins Gefängnis.
       
       Als Abgeordnete der Türkischen Arbeiterpartei (TiP) brachte sie zwischen
       1965 und 1969 die Stimme des Sozialismus erstmals im Parlament zu Gehör.
       Auch später, als sie die Türkei im Europaparlament vertrat, bei ihren
       wiederholten Gefängnisaufenthalten und als politische Geflüchtete nach dem
       Militärputsch 1980 im bulgarischen, deutschen und belgischen Exil – nie
       rückte sie von einem revolutionären Leben ab. Boran starb im Exil in
       Brüssel. Sie war eine Frau, die die frühe Phase der linken Bewegung in der
       Türkei richtungweisend mitbestimmt hat.
       
       ## Bülent Ersoy (geboren 1952)
       
       Bülent Ersoy ist die erste trans Frau, die es in die türkische
       Öffentlichkeit geschafft hat. Ihre Karriere begann Ersoy, die heute eine
       der beliebtesten Sänger*innen der Türkei ist, in den Siebzigern. 1971
       erschien ihre erste Platte, und Ersoy begann live aufzutreten, etwa im
       legendären Maksim Gazinosu am Taksim-Platz. Bei einem Auftritt in Izmir im
       Sommer 1980, der sich quasi als Ersoys landesweites Coming-out lesen lässt,
       entblößte sie ihre neuen Silikonbrüste. Die Staatsanwaltschaft ermittelte
       gegen sie wegen „unmoralischen Verhaltens“. Anschließend beschimpfte Ersoy
       den Richter und wurde festgenommen. 19 Tage verbrachte sie in Haft.
       
       Mit dem Militärputsch im Herbst 1980 wurde Transsexualität in der Türkei
       verboten und Ersoy, die von ihren Fans liebevoll “Diva“ genannt wird,
       durfte per Gesetz nicht mehr auftreten. 1981 ging sie nach London und
       unterzog sich dort geschlechtsangleichenden Operationen. Später zog sie
       nach Deutschland, wo sie acht Jahre im Exil lebte. In dieser Zeit gab Ersoy
       überall auf der Welt Konzerte. 1988 kehrte sie in die Türkei zurück und
       trug dazu bei, dass ein Gesetz verabschiedet wurde, das
       Geschlechtsangleichungen zulässt. Das Gesetz ist auch als “Bülent
       Ersoy-Gesetz“ bekannt.
       
       Mit ihrer unvergleichlichen Stimmgewalt, ihren glamourösen Kostümen, ihren
       stets jüngeren Ehemännern, ihren öffentlichen Streitereien und ihren
       kontroversen Aussagen gehört Bülent Ersoy seit den 80er Jahren zu den
       meistdiskutierten Celebrities in den türkischen Medien.
       
       ## Gülriz Sururi (1929 – 2018)
       
       Die Theaterikone Gülriz Sururi stand mit 13 Jahren zum ersten Mal auf der
       Bühne. Ihre Leidenschaft für's Theater begleitete sie ihr Leben lang.
       Geboren als Tochter einer Primadonna, studierte sie am Konservatorium
       Gesang und Schauspiel. Sururi war ihrer Zeit voraus; in ihren Memoiren
       schreibt sie offen über Abtreibungen, Affären und ihre unglückliche
       Kindheit. „Zuerst musst du dich selbst lieben und dann andere“, war ihre
       Devise. In einem Interview sagte sie, sie wolle das Leben wie eine Zitrone
       auspressen. Überhaupt habe sie immer nur das getan, was sie wollte. Sie
       führt das darauf zurück, dass sie ihre Kindheit nicht leben konnte: Ihre
       Mutter starb, als Sururi zwei Jahre alt war.
       
       1962 gründete sie mit ihrem Mann das Gülriz Sururi–Engin Cezzar-Theater, wo
       sie Hauptrollen in den Theaterstücken spielte und Regie führte. 1966 wurde
       sie vom Türkischen Frauenverband als „Frau des Jahres“ ausgezeichnet.
       Sururi und ihr Mann hatten Kontakt zu vielen wichtigen Intellektuellen und
       Künstler*innen ihrer Zeit und waren eng mit dem amerikanischen
       Schriftsteller James Baldwin befreundet, der in den Sechzigern zehn Jahre
       lang in Istanbul lebte. Verbiegen ließ sich die Schauspielerin nie: In den
       achtziger Jahren unterschrieb sie einen offenen Brief, in dem
       Intellektuelle das Militärregime anprangerten, sie sprach sich gegen den
       Krieg in Afrin aus und postete bis kurz vor ihrem Tod mit 90 Jahren jedes
       Jahr ein Foto im Bikini in den sozialen Medien.
       
       ## Pınar Selek (geboren 1971)
       
       Pınar Seleks Geschichte erinnert an einen Roman von Franz Kafka. Der
       Protagonist wird angeklagt, ist sich aber keiner Schuld bewusst. Die
       Istanbuler Soziologin und Schriftstellerin Selek kennt den Roman. Einmal
       sagte sie der taz: „Ich fühle mich in Kafkas ‚Prozess‘ versetzt“. 1998
       wurden bei einer Explosion auf dem ägyptischen Markt in Istanbul sieben
       Personen getötet. Selek, damals 26 Jahre alt, wurde zwei Tage später
       verhaftet. Sie wurde beschuldigt, den Anschlag für die PKK verübt zu haben.
       Zweieinhalb Jahre verbrachte sie im Gefängnis, wurde dann entlassen. Sie
       berichtete von Folter.
       
       Ein Expertengutachten zeigte später, dass es wegen einer beschädigten
       Gasleitung zur Explosion gekommen war.Dennoch: Vier Mal wurde Selek
       freigesprochen, vier Mal wurde das Urteil von einem höheren Gericht
       kassiert. Heute liegt der Fall beim Obersten Gerichtshof. Selek lebt seit
       2009 im Exil.
       
       Selek veröffentlichte Arbeiten über die Probleme von Homosexuellen, die
       Lebensbedingungen von Straßenkindern und Gewalt gegen trans Personen. In
       „Barışamadık“ („Wir konnten keinen Frieden machen“) beschäftigt sie sich
       mit patriarchaler, militärischer und gesellschaftlicher Gewalt in der
       Türkei. Für „Sürüne Sürüne Erkek Olmak“ („Zum Mann gehätschelt. Zum Mann
       gedrillt. Männliche Identitäten“) interviewte sie über 50 Männer zu ihren
       Erfahrungen im obligatorischen Militärdienst. Das Ergebnis: eine Analyse
       des „Mannwerdens“ in der Türkei und die wichtige Rolle, die ein starker,
       militaristischer Staat dabei spielt.
       
       ## Konca Kuriş (1961-1998)
       
       Steht das Wort Kopftuch tatsächlich im Koran? Warum sollen Männer und
       Frauen getrennt beten? Ist es nicht höchste Zeit, den Islam zeitgemäß zu
       gestalten? Diese Fragen beschäftigten Konca Kuriş ihr kurzes, nur 38 Jahre
       währendes Leben lang. Denn es waren stets Männer gewesen, die die
       islamischen Schriften übersetzt und ausgelegt hatten. Damit die Männer ihre
       Vorherrschaft fortsetzen konnten, durfte die Frau nicht frei werden.
       
       Kuriş stammte aus einer demokratischen Familie, mit 15 heiratete sie ohne
       Zustimmung ihrer Familie und wechselte mit der Ehe in konservative Kreise.
       Ihre Erfahrungen in einer Sekte brachten sie dazu, die vorherrschenden
       Strukturen zu hinterfragen. Kuriş fand ihre eigene Wahrheit: Es braucht
       keine Vermittlung, um zu Gott zu kommen. In den Neunzigern, als religiöse
       Orden in der Türkei erstarkten, stritt sie als Feministin mit Kopftuch über
       den Islam. Sie schrieb Artikel und trat im Fernsehen auf. Es war die Zeit,
       als fromme Frauen begannen, Männern die Hand zu geben und in der
       Gesellschaft sichtbar aktiv zu werden.
       
       Den Sekten gefiel es gar nicht, dass von Kuriş geprägte Frauen anfingen,
       sich zu Hause zu organisieren. Sie erhielt zahlreiche Drohungen. 1998 wurde
       sie von Fanatikern entführt und brutal ermordet. Mit ihren Ideen und
       Idealen inspiriert sie bis heute konservative Frauen, in der sich zunehmend
       islamisierenden Türkei Erdoğans für ihre Rechte einzustehen.
       
       ## Nuriye Ulviye Mevlan Civelek (1893 – 1964)
       
       Die tscherkessische Frauenrechtlerin gründete 1913 im Alter von 20 Jahren
       eine der ersten feministischen Frauenzeitschriften im Osmanischen Reich.
       Bei Kadınlar Dünyası arbeiteten nur weibliche Angestellte und hauptsächlich
       Journalistinnen. „Ich habe viel darüber nachgedacht, wie wir unser
       unterwürfiges und nutzloses Leben ändern können. Ich wusste, dass wir eine
       moderne Persönlichkeit entwickeln müssen, um in der Gesellschaft
       weiterzukommen. In dieser Zeit des Aufbruchs (…) habe ich beschlossen, ein
       Magazin zu publizieren, das Frauen ermutigt, die notwendigen Schritte zu
       gehen, um voranzukommen“, schreibt Civelek 1913 in Kadınlar Dünyası.
       
       Einen Monat nach der Zeitschrift gründete sie die Osmanische Gesellschaft
       zur Verteidigung der Frauenrechte, die erste Frauenrechtsorganisation des
       Landes. Deren Ziel war es, die Bildungschancen für Frauen und ihren Zugang
       zu Berufen zu verbessern. Civelek setzte sich außerdem für gleiche Löhne
       und gleiche Rechte in der Ehe ein. Sie war dreimal verheiratet. Von ihrem
       zweiten Mann ließ sie sich 1927 scheiden – eine schwierige Entscheidung in
       einer Zeit, in der Frauen unter dem großen Druck gesellschaftlicher
       Konventionen standen. Nach ihrem Tod wurde die städtische Bibliothek in
       ihrem letzten Wohnort Kırıkhan nach der Frauenrechtlerin benannt.
       
       ## Hasbiye Günaçtı (geboren 1959)
       
       Die Krankenschwester Hasbiye Günaçtı war früh bei der LGBTI-Organisation
       Lambda Istanbul aktiv, ab 2008 wechselte sie in die feministische Bewegung
       und wurde Mitglied im Sozialistisch-Feministischen Kollektiv. Sie setzt
       sich für die Rechte von Lesben und bisexuellen Frauen ein. Ihre Antwort auf
       die homosexuellen Frauen häufig gestellte Frage „Welcher Mann hat dich
       schlecht behandelt, dass du so geworden bist?“ lautet: „Wäre das der Grund,
       müssten alle Frauen lesbisch sein!“ Ihr Markenzeichen ist Lila, die Farbe
       des Feminismus; sie trägt sie stets als Accessoire oder als Haarfarbe.
       
       Bekannt wurde Günaçtı in der Türkei, als sie eine auf offener Straße
       misshandelte Frau mit ihrem Kleinkind in ihren Wagen holte und den
       gewalttätigen Mann vom Tatort entfernte. Während sie der bedrängten Frau
       half, fragte der Mann sie: „Wer bist du denn?“ Ihre Antwort darauf blieb im
       kollektiven Gedächtnis haften: „Ich bin die Schwester dieser Frau.“ Hasbiye
       Günaçtı gibt in diversen feministischen und LGBTI-Vereinen Workshops zum
       Thema weibliche Sexualität.
       
       ## Sevgi Soysal (1936 – 1976)
       
       Die Schriftstellerin Sevgi Soysal studierte Archäologie und
       Theaterwissenschaften in Ankara und Göttingen. Soysal arbeitete im
       Kulturzentrum der deutschen Botschaft, bei Ankara Radio, beim türkischen
       Staatsfernsehen TRT und schrieb für verschiedene Zeitungen. In den
       Sechzigern und Siebzigern veröffentlichte sie mehrere Romane, in denen sie
       politische Umbrüche sowie gesellschaftliche Normen und Milieus der Zeit mit
       schwarzem Humor beobachtet und hinterfragt.
       
       „Wir müssen neue Türen öffnen, falsche Türen, richtige Türen, aber wir
       müssen sie öffnen, Hauptsache öffnen“, schreibt sie in ihrem 1970
       erschienen Roman „Yürümek“ („Gehen“). Ihr 1968 erschienener Roman „Tante
       Rosa“ gilt als feministischer Klassiker; das Buch handelt von einer
       bayerischen Katholikin, die sich von den paternalistischen Strukturen
       emanzipiert. Die Figur Tante Rosa ist inspiriert von Soysals Tante Rosel,
       der Schwester ihrer deutschen Mutter.
       
       In den Siebzigern erlebte Soysal politische und persönliche Rückschläge.
       Nach dem Militärputsch 1971 wurde sie wegen Mitgliedschaft in einer linken
       Organisation mehrere Monate inhaftiert und verlor ihre Stelle beim TRT. Ihr
       Roman „Yürümek“, der Geschlechterbeziehungen und Ehe verhandelt, wurde
       wegen Obszönität zensiert. Sie kam ein zweites Mal aus politischen Gründen
       für acht Monate in Haft und bekam Brustkrebs. Für ihren Roman „Yenişehir'de
       Bir Öğle Vakti“ („Mittagszeit in Yenişehir“) wurde sie 1974 mit dem
       renommierten Orhan-Kemal-Preis ausgezeichnet. Soysal starb 1976 mit nur 40
       Jahren, bevor sie ihren letzten Roman „Hoşgeldin Ölüm“ („Willkommen Tod“)
       fertigstellen konnte.
       
       ## Nezihe Muhiddin (1889-1958)
       
       Die Pionierin des osmanischen Feminismus gilt als eine der Begründerinnen
       der türkischen Frauenbewegung. Muhiddin war Generalsekretärin des
       osmanischen Verbandes für den Schutz der Frauen. Auch beim Übergang zur
       Republik engagierte sie sich weiter für Frauenrechte und gründete die
       Partei für Frauenrechte mit, der damals wichtigsten feministischen
       Initiative. Am 15. Juni 1923 veröffentlichte die Partei, der ausschließlich
       Frauen angehörten, ein Gründungsprogramm mit 27 Punkten.
       
       Die Partei wurde jedoch nicht zugelassen, weil sie als zu radikal galt. Die
       Zeitungen machten sich damals über Muhiddins Engagement lustig: „Evas
       Töchter wollen ins Parlament, um über die aktuelle Mantelmode zu
       debattieren.“ Muhiddin und ihre Mitstreiterinnen änderten einige Absätze
       ihrer Satzung und gründeten 1924 die Türkische Frauenunion (TKB).
       
       Sowohl die Person Nezihe Muhiddin als auch die Rolle, die sie bei der
       Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts 1934 gespielt hatte,
       gerieten in der politischen Geschichte der Türkei zusehends in
       Vergessenheit. Am 10. Februar 1958 starb sie allein in einer
       psychiatrischen Klinik in Istanbul.
       
       ## Gültan Kışanak (geboren 1961)
       
       Die Politikerin Gültan Kışanak musste bereits als Studentin wegen ihrer
       politischen Meinung ins Gefängnis. Es war die Zeit des Militärputsches von
       1980. Die damals im Gefängnis von Diyarbakır verbreiteten Foltermethoden
       veranlassten manche, sich anschließend der kurdischen PKK-Guerilla
       anzuschließen, sie dagegen entschied sich für den Journalismus. Dann ging
       sie in die Politik und wurde ins Parlament gewählt.
       
       Als Kurdin engagierte sie sich für Demokratie in der Türkei, als Frau nahm
       sie vor allem die männerdominierte Gesinnung innerhalb der kurdischen
       Bewegung aufs Korn. Dass sie aufgrund ihrer politischen Position
       privilegiert war, war ihr stets bewusst. Sie sah, dass sich die Männer, die
       sie „auf Händen trugen“, den eigenen Ehefrauen und Schwiegertöchtern
       gegenüber ganz anders verhielten: „Wo man das als Frau nicht erkennt, fängt
       Elitendenken in der Politik an. Der nächste Schritt ist dann, eine
       Politikerin 'wie ein Mann’ zu werden.“
       
       2014 kandidierte Kışanak für das Bürgermeisteramt in Diyarbakır und wurde
       gewählt. „Dass eine Frau, die den Knast von Diyarbakır hinter sich hat, 34
       Jahre später hier zur Ko-Bürgermeisterin gewählt wird, ist eine historische
       Revanche“, sagte sie nach der Wahl. Leider kam es bald darauf zur Revanche
       der Revanche: Als die Friedensgespräche endeten und der Druck auf die HDP
       zunahm, wurde für Diyarbakır ein Zwangsverwalter eingesetzt. Und Kışanak
       wurde zu 14 Jahren Haft verurteilt. In der Anklageschrift wurde ihr unter
       anderem eine Presseerklärung zum Tag gegen die Beseitigung von Gewalt gegen
       Frauen zur Last gelegt.
       
       Seit Oktober 2016 sitzt Kışanak im Gefängnis von Kocaeli, dort schrieb sie
       ein Buch, mit dem sie ihrem und dem Engagement anderer Politikerinnen eine
       Stimme verleiht: „Das männlich dominierte System will uns für den Kampf
       bezahlen lassen, den wir für eine demokratische, freiheitliche Zukunft
       führen, in der auch Frauen gleichberechtigt leben.“
       
       ## Duygu Asena (1946-2006)
       
       Eine Woche nach dem Erdbeben in Adana am 27. Juni 1998, bei dem 145
       Menschen ums Leben kamen und über 1.500 verletzt wurden, legte Duygu Asena
       in der Istanbuler Redaktion der monatlich erscheinenden Frauenzeitschrift
       KIM die Hände auf den Schreibtisch und hielt inne. Sie war gerade aus Adana
       zurückgekommen. „Die Männer sitzen in Kaffeehäusern und Kneipen, die Frauen
       dagegen kümmern sich um die Hausarbeit und Kindererziehung. Das ist der
       Grund dafür, dass bei dem Erdbeben vor allem Frauen umkamen“, sagte sie.
       
       Asena gehörte zu den Frauen, die in der Türkei mit Tabus aufräumten. Sie
       war eine feministische Aktivistin und das prägte ihre Identität als
       Journalistin und Autorin. In ihren Büchern appellierte sie an die Frauen:
       „Ihr seid zu allererst Individuen, euer Körper gehört euch“ Sie war eine
       jener Frauen, die die Frauenbewegung in der Türkei inspiriert haben. In
       ihrem Buch „Die Frau hat keinen Namen“ analysierte sie die sozialen
       Verhältnisse und Beziehungen zu Vätern, Freunden, Ehemännern und männlichen
       Chefs und zeigte daran die Schwierigkeiten auf, mit denen Frauen von
       Kindheit an zu kämpfen haben. 1988 wurde das Buch wegen angeblich
       pornografischer Elemente gerichtlich verboten. Es erschien in 40 Auflagen.
       Das war ein Rekord.
       
       ## Cumartesi Anneleri
       
       Seit 1995 treffen sich Angehörige von verschwundenen Menschen jeden Samstag
       auf dem zentralen Galatasaray-Platz in Istanbul, um für Aufklärung und
       Gerechtigkeit zu protestieren. 1999 setzten sie die Treffen wegen
       zunehmender Polizeigewalt aus, seit 2009 machen sie weiter. Als sich die
       „Cumartesi Anneleri“, die „Samstagsmütter“, im August 2018 zum 700. Mal
       versammeln wollten, erließ das türkische Innenministerium ein
       Versammlungsverbot. Die Angehörigen kamen trotzdem zum Platz und wurden von
       der Polizei mit Tränengas und Plastikgeschossen angegriffen. 47 Angehörige
       wurden festgenommen. Seit diesem Vorfall treffen sie sich nicht mehr am
       Galatasaray-Platz, sondern vor dem Istanbuler Büro des
       Menschenrechtsvereins IHD.
       
       Die 82-jährige Emine Ocak ist die Mutter des 1995 in Polizeigewahrsam
       verschwundenen Hasan Ocak, dessen Leichnam nach schwerer Folter aufgefunden
       worden war. Emine Ocak war 1997 schon einmal festgenommen worden, elf Jahre
       später wurde sie wieder in einen Polizeiwagen gezerrt. 1997 fotografierte
       der Journalist und heutige HDP-Abgeordnete Ahmet Şık sie bei der Festnahme.
       Das Foto wurde zum Symbol der Samstagsmütter.
       
       ## Aysel Gürel (1929-2008)
       
       Rosa Haare, rosa Brille, roter Lippenstift – Aysel Gürel machte keine
       Kompromisse, was ihre Identität und ihren Blick aufs Leben anging. Sie war
       Lehrerin für Literatur, Theaterschauspielerin, Lyrikerin und Songwriterin.
       Ihre Songtexte wurden von berühmten Sänger*innen interpretiert. Manche
       Texte schlugen auch einen kritischen Ton an. In ihrem Lied Ünzile geht es
       etwa um die Zwangsverheiratung eines Kindes. In Gürels Nachlass fanden sich
       über 20.000 Songtexte.
       
       „Die bunte Persönlichkeit war ihr Lebenskostüm“, sagte ihre Tochter, die
       bekannte Schauspielerin Müjde Ar, über Gürel: „Meine Mutter war überall für
       ihr rosa Haar bekannt. Ich fragte sie danach: 'Was soll dieses Kostüm,
       diese Perücke, dieses Herumlaufen im Négligé?’ Sie antwortete: 'Das ist das
       Kostüm, mit dem ich die Gesellschaft dazu bringe, auf mich zu hören. Würde
       ich, was ich zu sagen habe, im üblichen Damenkostüm mit Dutt und
       Intellektuellenbrille sagen, hätte die Menge mich aufgerieben. So aber habe
       ich meinen Worten in der Gesellschaft Gehör verschafft.“
       
       ## Nevin Yıldırım (geboren 1986)
       
       Die damals 26-jährige Nevin Yıldırım kam in die Schlagzeilen, als sie 2012
       den 35-jährigen Nurettin Gider erschoss, der sie wiederholt vergewaltigt
       und mit der Waffe bedroht hatte. Obwohl alle aus Yıldırıms Dorf Koruyaka in
       der Provinz Isparta von den Vergewaltigungen gewusst hatten, war niemand
       eingeschritten. Yıldırım wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Dass im
       Verfahren gegen sie weder Notwehr noch gute Führung – die bei männlichen
       Sexualstraftätern häufig Grund für geringe Haftstrafen ist – berücksichtigt
       wurden, erzeugte in der türkischen Öffentlichkeit empörte Reaktionen.
       
       Infolge der Vergewaltigung wurde Nevin Yıldırım schwanger. Sie forderte,
       abtreiben zu dürfen. Doch die gesetzliche Frist war abgelaufen und die
       Abtreibung wurde ihr verwehrt. 2015 malten feministische Künstlerinnen ihr
       Porträt auf weiße Laken und hängten sie in Istanbuler Straßen auf.
       Yıldırıms Porträt mit dem Slogan „Nevin schaut euch an, das bleibt auch
       nach der Wäsche dran“ wurde bei feministischen Protesten zum Symbol der
       Frauen, die sich gegen Männergewalt wehren.
       
       ## Semiha Berksoy (1910-2004)
       
       „Es gibt etwas, das meine Seele mitzieht und bei mir zur Flamme wird, das
       ist die Liebe zur Kunst. Das sollt ihr wissen, und wenn ich sterbe, singen
       die Zypressen an meinem Grab davon.“ So lautete die Antwort der 18-jährigen
       Semiha Berksoy auf den Brief, in dem ihr Vater versuchte, sie dazu zu
       bewegen, ihre Ausbildung am Konservatorium abzubrechen. Berksoy war
       Opernsängerin, Theaterschauspielerin, Malerin, Schriftstellerin. 1934
       spielte sie als Sopranistin in der ersten türkischen Oper „Özsoy“ mit.
       
       Mit einem staatlichen Stipendium kam sie an die Opernabteilung der
       Staatlichen Musikakademie in Berlin und schloss als Beste ab. Berksoy war
       die erste türkische Primadonna, die auf einer europäischen Bühne auftrat.
       Sie genoss enormen Ruhm in Berlin, dachte aber nie daran, dauerhaft in
       Europa zu bleiben. Ihre Tochter Zeliha Berksoy erklärte das so: „Ihr
       Engagement galt der türkischen Republik. Sie wollte ihrem Land von Nutzen
       sein. Sie war eine Frau, die sich dem Gebot des Volkes unterstellt hatte.“
       
       Ab 1961 widmete Berksoy sich verstärkt der Malerei, ihre Gemälde wurden in
       der Türkei und der ganzen Welt ausgestellt. Damals wurde ihr auch der Titel
       einer „Staatskünstlerin“ verliehen. Nach Aussage ihrer Tochter starb sie
       2014 mit den Worten: „Lebe wohl schöne Welt, hallo Universum.“
       
       ## Demet Demir (geboren 1961)
       
       Demet Demir ist eine trans Aktivistin, die seit den 80er Jahren für die
       Rechte von trans Personen eintritt, und eine Vorreiterin der LGBTI-Bewegung
       in der Türkei. 1982 wurde sie aus politischen Gründen verhaftet und saß
       acht Monate im Gefängnis. Amnesty International Türkei bezeichnet Demir als
       erste Person in der türkischen Geschichte, die wegen ihrer
       Geschlechtsidentität und ihrer Einstellungen inhaftiert wurde. 1985 und
       1986 wurden trans Frauen und homosexuelle Männer von Polizisten und
       Soldaten gefoltert und vergewaltigt, in Züge gesteckt und nach Eskişehir
       ins Exil geschickt. Demet Demir war eine von ihnen.
       
       Sie war außerdem aktiv an der Verbreitung von Lubunca beteiligt, einem
       trans Slang, der aus der Notwendigkeit entstand, die Gespräche rund um die
       Sexarbeit tarnen zu müssen. Zusammen mit Freund*innen verfasste Demet ein
       Lubunca-Wörterbuch, das mehr als 400 Wörter enthält.
       
       1997 wurde sie in den USA als erste trans Frau mit dem Felipa de
       Souza-Menschenrechtspreis ausgezeichnet. Im Jahr 1998 nahm sie offiziell
       die weibliche Identität an. Bei den Kommunalwahlen 1999 trat sie als erste
       trans Kandidatin an und kandidierte 2007 als Abgeordnete bei den
       Parlamentswahlen. Demir lebt zusammen mit ihren Straßenkatzen seit rund 35
       Jahren in der Ülker Sokak im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu, wo sie in den
       Achtzigern begann, für die Rechte von trans Frauen zu kämpfen.
       
       ## Ümmiye Koçak (geboren 1957)
       
       Ümmiye Koçak kam als sechstes von zehn Kindern einer Familie in einem Dorf
       in der Provinz Adana zur Welt. Sie füllte die Rolle aus, die ihr das Leben
       in einem armen Dorf zuschrieb, las aber zugleich jedes Buch, das sie in die
       Hände bekommen konnte. Mit 13 fing sie an, Erzählungen zu schreiben. Später
       zog sie ihre Kinder auf und besorgte den Haushalt, vergaß aber nie das
       Lesen und Schreiben.
       
       Mit 44 gründete sie eine Frauen-Theatergruppe im Dorf. Alles was sie aus
       der Literatur und vom Theater gelernt hatte, mobilisierte sie für die
       Befreiung der Frauen. Ihre 15 Theaterstücke über das Leben der Frauen auf
       dem Land wurden 20.000 Mal aufgeführt, sie nahm an Festivals teil und trat
       als Pädagogin in Fernsehsendungen auf. 2013 erhielt sie beim Eurasischen
       Filmfestival in New York den Preis für die beste weibliche Künstlerin. Ihr
       Leben, so Koçaks eigene Worte, sei die Geschichte einer Frau, „die sich ihr
       Spielzeug selber bastelt, ihre Gedanken frei fließen lässt und frei ist“.
       
       8 Mar 2019
       
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