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       # taz.de -- Grünen-Fraktionschef über Autoindustrie: „Nichtstun rettet keine Jobs“
       
       > Der Staat muss E-Mobilität stärker fördern, so Anton Hofreiter. Sein
       > Vorschlag: eine Kommission zur Zukunft der Automobilindustrie.
       
   IMG Bild: Fraktionschef Anton Hofreiter in seinem Bundestagsbüro
       
       taz: Herr Hofreiter, [1][viele Autozulieferer in Deutschland fürchten
       gerade um ihre Existenz]. Warum sollte ein Arbeiter, der Getriebe für
       Verbrennungsmotoren herstellt, die Grünen wählen? 
       
       Anton Hofreiter: Es ist doch so: Entweder die Autoindustrie modernisiert
       sich und setzt konsequent auf Nullemissionstechnologie. Oder sie wird von
       der internationalen Konkurrenz überrollt, die massiv in Elektromobilität
       investiert.
       
       Das hilft dem Arbeiter, der seinen Job behalten will, wenig. 
       
       Stimmt. Ich würde ihm sagen: Die Grünen wollen den sozialen und
       ökologischen Umbau der Autoindustrie aktiv gestalten – anders als
       Verkehrsminister Andreas Scheuer, der mit offenem Mund danebensteht. Wir
       möchten möglichst viele der 800.000 Jobs in der Autoindustrie retten, indem
       wir den nötigen Rahmen setzen. Nichtstun rettet keine Jobs. Im Gegenteil.
       Der Verbrennungsmotor samt seiner Technik, Kolben, aufwendigen Getrieben,
       wird überflüssig werden. Die betroffenen Firmen brauchen deshalb klare
       Ansagen und Unterstützung.
       
       Wie wollen Sie helfen? 
       
       Der Staat muss die Voraussetzungen für die E-Mobilität schaffen, etwa die
       CO2-Grenzwerte durchsetzen, Elektrotankstellen fördern und die Forschung
       vorantreiben. Und der Staat sollte den Beschäftigten der Firmen, die den
       sozialökologischen Umbau bewältigen, auch finanziell unter die Arme
       greifen. Ein Transformationskurzarbeitergeld wäre eine gute Sache.
       Arbeitnehmer brauchen außerdem gerade in Zeiten großer Umbrüche ein Recht
       auf Weiterbildung, um sich neu zu qualifizieren. Mithilfe solcher Maßnahmen
       hätten die Firmen auch mehr Zeit, andere Geschäftsmodelle zu erschließen –
       ohne jemanden zu entlassen.
       
       Einige Unternehmen werden trotzdem vom Markt verschwinden. 
       
       Diese Gefahr besteht immer, wenn große Technologiesprünge anstehen. So
       funktioniert der Kapitalismus leider. Wir sprechen zum Beispiel gerade
       intensiv mit der IG Metall darüber, wie man es schafft, dass niemand
       zurückgelassen wird. Klar ist: Wenn man die Umwälzungen einfach passieren
       lässt, ohne sie zu gestalten, wird es viel schlimmer.
       
       Die Botschaft an den Arbeiter wäre also: Wir können dir Veränderung nicht
       ersparen, aber wir nehmen deine Sorgen ernst. 
       
       Genau. Die Grünen wollten immer schon die Welt retten, aber sie haben dabei
       manchmal legitime Ängste der Menschen aus dem Blick verloren. Wer den
       ökologischen Umbau vorantreibt, ohne die soziale Frage mitzudenken, wird
       scheitern. Diesen Gedanken haben wir in der Vergangenheit vernachlässigt.
       
       Was war der größte Fehler? 
       
       Die Solar- und Windenergiebranche ist vor einigen Jahren sehr stark
       gewachsen. Dabei haben wir zu wenig darauf geachtet, dass es Betriebsräte
       in den Unternehmen gibt. Ein anderes Beispiel: Bei der Autoindustrie haben
       wir – auch ich – leidenschaftlich darüber gestritten, ab wann nur noch
       emissionsfreie Neuwagen zugelassen werden sollen. Für den Klimaschutz ist
       das eine elementare Frage. Die Debatte drehte sich aber vor allem um
       Jahreszahlen. Wir haben den Leuten dabei nicht ausreichend gesagt, dass wir
       selbstverständlich auch einen Plan für Arbeitsplätze, für ihre
       existenziellen Bedürfnisse haben. Das wurde erst später in den Mittelpunkt
       gerückt.
       
       Welche Geschwindigkeit kann man der Gesellschaft bei Reformen zumuten? Die
       [2][Klimakrise] spitzt sich ja rasant zu, gleichzeitig überfordert zu viel
       Veränderung die Menschen. 
       
       Schwierige Frage. Objektiv stehen wir unter krassem Zeitdruck. Die
       Erderwärmung verläuft in Schüben, wir drohen ganze Ökosysteme zu
       verlieren. Wenn etwa die Permafrostböden auf der Nordhalbkugel auftauen,
       werden Massen von Methan freigesetzt, die die Klimakrise beschleunigen.
       Außerdem passieren derzeit mehrere Umbrüche gleichzeitig, die Klimakrise,
       die Globalisierung, die Digitalisierung, der demografische Wandel. Wir
       brauchen deshalb neue Formate des gesellschaftlichen Dialogs, um die
       Menschen mitzunehmen.
       
       Runde Tische, die ohne großes Echo vor sich hin werkeln, gibt es doch schon
       genug. 
       
       Reden hilft – wenn die Richtigen miteinander reden. Die Kohlekommission hat
       Vertreter unterschiedlicher Gruppen an einen Tisch gebracht: betroffene
       Regionen, Unternehmen, Gewerkschaften, Umweltaktivisten. Sie haben
       diskutiert, gestritten und sich am Ende auf einen Weg verständigt. So ein
       Prozess hat eine befriedende Wirkung in der Gesellschaft. Ich kann mir eine
       ähnliche Kommission auch für die Autoindustrie gut vorstellen.
       
       Wenn deutsche Firmen ökologisch produzieren, sind ihre Produkte teurer als
       die der internationalen Konkurrenz. Was tun Sie dagegen? 
       
       Mich hat im Ruhrgebiet mal ein Stahlarbeiter angesprochen. Er sagte: Ich
       habe Kinder, ich finde es richtig, etwas gegen den Klimawandel zu tun. Aber
       wenn ich meinen Job verliere, weil wir stattdessen schmutzig produzierten
       Stahl aus China importieren, ist keinem geholfen – weder meinen Kindern
       noch dem Klima.
       
       Der Mann hat recht. 
       
       Ja. Wir müssen die Globalisierung endlich fair gestalten und europäische
       Unternehmen, die sich an Standards halten, vor Dumping schützen. Darum
       brauchen wir Klimazölle. Ausländische Firmen, die ihre Produkte schmutzig,
       also mit hohem CO2-Ausstoß herstellen, müssten dann einen Ausgleich zahlen,
       wenn sie auf dem europäischen Markt verkaufen wollen. In den USA sind
       Tausende Wissenschaftler und Nobelpreisträger für solche Zölle, selbst
       deutsche Stahlunternehmen sind dafür, weil sie Wettbewerb auf Augenhöhe
       wollen. Gleiches gilt für Produkte, bei deren Herstellung Menschen- und
       Arbeitnehmerrechte massiv verletzt worden sind. Da braucht es soziale
       Strafzölle.
       
       Das klingt verdächtig nach Protektionismus, oder? 
       
       Nein. Das ist fairer Handel. Klima- und Sozialzölle sind ja an klare
       Bedingungen geknüpft, ihr Ziel ist es, sich selbst überflüssig zu machen.
       Ausländische Firmen müssten ihre Produktion klima- und
       arbeitnehmerfreundlich umstellen, dann könnten sie zollfrei in die EU
       exportieren. Die Sozialdemokratie war lange erfolgreich damit, den
       Kapitalismus sozial verträglich zu gestalten. Dieses Modell ist tot. Heute
       müssen wir den Kapitalismus sozialökologisch zähmen.
       
       Herr Hofreiter, Sie schildern eine Utopie. Glauben Sie ernsthaft, dass sich
       die EU so hart mit China anlegen würde? 
       
       Wer sonst? Die EU ist einer der weltweit wichtigsten Märkte, auch für
       China. Sie erhebt bereits Antidumpingzölle auf Produkte, die in den
       Herkunftsstaaten unzulässig subventioniert werden. Da gibt es
       Anknüpfungspunkte. Außerdem entwickelt sich weltweit eine schlagkräftige
       Bewegung für Klimaschutz in der Zivilgesellschaft, siehe Fridays for
       Future. Ich wäre deshalb nicht so pessimistisch.
       
       Auch mit der Union, Ihrem künftigen Koalitionspartner, ist ein weitgehender
       Umbau der Marktwirtschaft nicht zu machen. 
       
       CDU und CSU handeln opportunistisch, wenn sie Druck aus der Industrie, der
       Wissenschaft und der Zivilgesellschaft kriegen. Denken Sie daran, wie
       Kanzlerin Merkel die deutschen Atomkraftwerke nach Fukushima abschaltete.
       Übrigens ist es ja nicht gottgegeben, wie die nächste Koalition ausschaut …
       
       … ich wollte mich gerade wundern, dass Sie in puncto [3][Schwarz-Grün] gar
       nicht widersprechen. 
       
       Tue ich jetzt. Politik funktioniert doch so: Erst hast du eine gute Idee,
       dann stellst du in der Gesellschaft Mehrheiten her – und dann bekommst du
       auch eine politische Mehrheit. Wir Grünen wollen sozialökologische Politik
       gestalten, die der Größe der Herausforderungen entspricht. Darum kämpfen
       wir für progressive Mehrheiten in der Gesellschaft.
       
       Grünen-Wähler kaufen Biogemüse, fliegen aber gerne – und versauen sich mit
       ihrem Städtetrip nach Barcelona die Ökobilanz. Warum sagen Sie Ihren Leuten
       eigentlich nicht, dass sie [4][Verzicht üben müssen]? 
       
       Da gibt es das schöne Zitat aus Friedrich Dürrenmatts Theaterstück „Die
       Physiker“: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ Man rettet die Welt
       letztendlich nicht allein durch individuelles Verhalten. Jeder, der
       persönlich einen Beitrag zum Umweltschutz leistet und die Gesellschaft
       voranbringt, trägt etwas bei. Aber wir müssen an die Strukturen ran. Das
       heißt: den Zugverkehr ausbauen und den Flugverkehr klimaneutral machen,
       etwa durch regeneratives Kerosin, das mit erneuerbaren Energien produziert
       wird. Aus Erdöl hergestelltes Kerosin sollte dagegen besteuert werden.
       
       Haben Sie vielleicht einfach Angst vor Ihren reiselustigen WählerInnen? 
       
       Ich bin ein großer Fan von politischen Maßnahmen – und halte nichts davon,
       den Einzelnen moralisch zu überfordern. Ein Beispiel: Der Fleischkonsum ist
       in Deutschland in den vergangenen Jahren von 64 Kilo pro Kopf und Jahr auf
       60 Kilo gesunken. Die industrielle Landwirtschaft wurde trotzdem nicht
       verändert, weil die Große Koalition untätig blieb – und das Fleisch dann
       eben exportiert wird.
       
       Prominente Grüne werden in sozialen Netzwerken [5][scharf für
       Langstreckenflüge in den Urlaub kritisiert.] Schadet so ein Verhalten der
       Glaubwürdigkeit Ihrer Partei? 
       
       Ich finde, nicht.
       
       Früher hieß es bei den Grünen: Das Private ist politisch. 
       
       Da ging es um die Frauenbewegung! Entscheidend ist, was man fordert. Wir
       fordern, dass unsere Mobilität sauberer wird – und nicht, dass kein Mensch
       mehr fliegen oder Auto fahren soll.
       
       Sie klingen insgesamt sehr optimistisch. Glauben Sie, dass der westliche
       Lebensstil für alle auf der Welt möglich ist – mit umweltfreundlichen
       Technologien? 
       
       Das gute Leben für alle ist möglich, ohne die Welt zu zerstören. Ich bin
       Technikoptimist. Vor gar nicht allzu langer Zeit hieß es, die Atomkraft sei
       unersetzbar. Es hieß, die Photovoltaik sei unbezahlbar und Elektroautos
       würden an der begrenzten Batteriekapazität scheitern. Heute sind
       Atomkraftwerke unwirtschaftlich, Photovoltaik ist die günstigste Form,
       Strom zu erzeugen, und E-Autos fahren 400 Kilometer weit. Man darf nur
       nicht naiv denken, der Markt würde es allein schon richten. Die Politik
       muss sich trauen, das neue Denken gegen alte Machtstrukturen durchzusetzen.
       
       Wird das klappen – oder geht die Welt unter? 
       
       Ich bin fest davon überzeugt, dass wir den sozialökologische Umbau
       schaffen. Die Welt geht nicht unter.
       
       18 Mar 2019
       
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