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       # taz.de -- Preis der Berliner Akademie der Künste: Die Stadt als Schaltnetz
       
       > Die französische Architektin Renée Gailhoustet hat sich dem sozialen
       > Wohnungsbau gewidmet. Nun wird sie für ihr Lebenswerk geehrt.
       
   IMG Bild: Luftaufnahme der Terrassen in der Pariser Vorstadt Aubervilliers
       
       Vor einigen Jahren kursierten ungewöhnliche Fotografien von Wohnsilos der
       Pariser Banlieues durch die sozialen Medien. Wie ein einsamer Gigant erhob
       sich da aus einem Wasserbassin der aberwitzig-postmoderne Säulenriegel des
       Architekten Ricardo Bofill in Saint-Denis. Als greise Geister treten die
       Türme der Cité Picasso von Emile Alliaud in Nanterre aus einer
       nebelverhangenen Wiese hervor.
       
       Es sind unverstandene Kolosse am Rande der Stadt, Großprojekte des sozialen
       Wohnungsbaus in Paris, in der öffentlichen Wahrnehmung als No-go-Areas
       diffamiert. Ihre Fotografien verbreiteten sich gerade deshalb im Netz, da
       auf ihnen eine Architektur der großen Geste für die Minderbemittelten zu
       sehen ist. Denn in Frankreich, anders als in Deutschland, traut sich die
       öffentliche Hand im großen Maßstab das ästhetische und räumliche
       Experiment, auch im sozialen Wohnungsbau.
       
       Die Architektin Renée Gailhoustet hat ihr gesamtes architektonisches Werk
       dem sozialen Wohnungsbau gewidmet. Sie wird dafür am Montag mit dem großen
       Berliner Kunstpreis der Akademie der Künste geehrt. Gailhoustet entwarf
       1968 bis 1998 kühne Formen für die Bedürftigen in den Ballungsräumen um
       Paris.
       
       Lange Zeit arbeitete die 1929 im algerischen Oran Geborene als
       Chefarchitektin der Gemeinde Saint Ivry sur Seine. Ihre Bauwerke sind nie
       wuchtig, sie wuchern. In Ensembles wie Le Liégat und Marat treibt der Beton
       von Gailhoustet mit expressiven Zacken und polygonalen Körpern wie
       gezüchtete Kristalle um Plätze und Passagen, klemmt sich in Nischen und an
       bestehende Wohntürme. Über mäandernden Fassaden hängen Ranken, Bäume
       wachsen auf den vorspringenden Balkonen, auch im neunten Stock.
       
       ## Begrünte Terrassenhäuser
       
       Gailhoustets begrünte Terrassenhäuser zählen manche auch zum Brutalismus,
       jenem betonverbundenen Architekturstil der sechziger und siebziger Jahre,
       der mit seinen radikalen Formen zu wagemutig ist, um heute noch
       massenkompatibel zu sein.
       
       Doch Stil ist bei ihren zellenartigen Strukturen der falsche Begriff. Die
       wuchernden Betonpolygone formen zuallererst ein Innenleben, eine Stadt in
       der Stadt, sie sind mehr als nur expressive Hülle. „La ville est une
       combinatoire“, so der Merksatz ihres Kollegen Jean Renaudie. Frei
       übersetzt: „Die Stadt ist ein Schaltnetz.“
       
       Und so verschalteten die beiden in den siebziger Jahren – Gailhoustet in
       ihrer Funktion als Chefarchitektin von Ivry und Renaudie in seiner Rolle
       als ausführender Architekt – die polygonalen Betonzellen zu einem
       Gebäudesystem, in dem sich Wohnen, Einkaufen, Arbeiten und Freizeit zu
       einem Organismus zusammenfügen.
       
       Öffentlich zugängliche Passagen schlängeln sich durch ihre Bauten und
       münden in begrünten Terrassen. Polygone gruppieren sich um Lichthöfe.
       Ateliers, Schulen, Bibliotheken und Geschäfte schließen sich den Patios an.
       Darüber und darunter treiben private Wohnungen aus, stets mit
       Terrassenzugang. Renaudie verstarb 1981, Gailhoustet arbeitet seine Ideen
       seitdem weiter aus.
       
       Während in Deutschland heute nur vereinzelt über neue Formen des
       Zusammenwohnens nachgedacht wird – man denke etwa an das
       Genossenschaftsprojekt San Riemo in München und die Experimente zum
       zirkulären Wohnen vom Büro Hütten&Paläste in Berlin –, lieferte
       Gailhoustet mit ihrer wuchernden Architektur bereits in den Siebzigern ein
       progressives Wohnmodell im großen Maßstab.
       
       ## Architektonische Revolte
       
       Die Polygone setzte sie aus vorgefertigten Betonmodulen zu verwinkelten
       Wohnungen zusammen. Jedes Apartment mit eigenem Grundriss. Nischen und
       wenige Träger geben ein freies Inneres vor, in dem frei entscheidbar ist,
       wo Tisch und Bett platziert werden.
       
       In den Siebzigern waren Gailhoustets offene Grundrisse auch eine
       architektonische Revolte gegen das bürgerliche Apartment, gegen eine feste
       Funktionsaufteilung des Wohnraums und das Diktat, wie man ihn zu nutzen
       hat. „Eine meiner Wohnungen hat jemand über und über mit Aquarien
       vollgestellt“, erzählte Gailhoustet einmal in einem Interview mit dem
       Radiosender France Culture. „Das fand ich toll, auch wenn ich das niemals
       selbst so machen würde.“
       
       Ihr letztes Terrassenhaus, das Ensemble Marat, stellte Gailhoustet 1986
       fertig. Das öffentliche Interesse an ihrer Architektur war zu dem Zeitpunkt
       bereits abgeebbt. Die postmodernen Kolosse eines Ricardo Bofill – heute
       selbst wieder gefährdet – dominierten den Diskurs um einen Wohnungsbau in
       Frankreich, wie die Gailhoustet-Spezialistin Bénédicte Chaljub in ihren
       Forschungen betont.
       
       In der aktuellen Wohnungsfrage aber werden die Ideen der mittlerweile
       89-Jährigen wieder relevant. Was fehle ihr an der heutigen Architektur,
       wurde Gailhoustet dann auch kürzlich in dem Interview des Radiosenders
       France Culture gefragt. „Generosität“, antwortete sie dann. Man müsse beim
       Wohnungsbau „wieder über Schönheit und Genuss reden, nicht nur über
       Notwendigkeiten“.
       
       18 Mar 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sophie Jung
       
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