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       # taz.de -- Mythos Sonnenallee: Straße voller Licht und Schatten
       
       > Arabische Straße, krimineller Brennpunkt, gentrifizierter Hipstertreff:
       > um die Sonnenallee ranken sich viele Mythen. Dabei ist die Realität schon
       > spannend genug.
       
   IMG Bild: Eckkneipe, Hipstercafè, türkischer Bäcker: Diversity an der Sonnenallee
       
       Die Sonnenallee ist ein Mythos – eigentlich sogar mehrere Mythen. Der zur
       Zeit bekannteste: Sie ist die „Arabische Straße“. Ob in Damaskus, Beirut
       oder griechischen Flüchtlingscamps: Bei syrischen Geflüchteten ist die
       „Schariat Al Arab“ berühmt – wer nach Berlin kommt, geht zuerst hierher.
       Mancher blieb – und hat ein neues Geschäft gegründet. Und inzwischen hat
       die Straße, einst als arabisches Getto und sozialer Brennpunkt verschrien,
       auch bei vielen Deutschen einen neuen Klang bekommen: Die Sonnenallee ist
       hip.
       
       Keine Frage: Die 650 Meter Sonnenallee zwischen Hermannplatz und
       Weichselstraße sind dominiert von Geschäften mit arabischen Namen wie
       „Umkalthum“ oder „Azzam“, die oft auch in arabischen Lettern über der Tür
       stehen – und zwischen denen die letzten deutschen Läden wie „Simones Kleine
       Kneipe“ oder „Blumen Weyer“ fast unsichtbar geworden sind. Umtost vom Sound
       der vielbefahrenen Straße, die von einem Grünstreifen geteilt wird und fast
       permanent an Verstopfung leidet, gibt es hier fast alles, was das Herz
       begehrt – in arabischer Variante: Brautmoden, Friseure, Shisha-Bars,
       Restaurants, Elektroläden, Bäckereien.
       
       Auf den engen Bürgersteigen, die dort, wo Bäume stehen oder Supermärkte
       ihre Obststände aufgebaut haben, noch enger werden, ist vor allem freitags
       und samstags kein Durchkommen vor lauter Menschen, Einkaufstrolleys und
       Kinderwagen. Alle paar Meter stehen Leute mit einem halben Dutzend roter
       Plastiktüten an der Hand in Gruppen zusammen. Viele Frauen tragen Kopftuch,
       viele Männer Bärte, dazwischen ein paar Touristen, erkennbar am neugierigen
       Blick und dem Stadtplan in der Hand.
       
       Einer der Anziehungspunkte: die „Bäckerei Damaskus“ am Ende des arabischen
       Teils der Sonnenallee. Von außen eher unscheinbar zeigt sich der Laden
       innen in elegantem orientalischen Stil: Hinter einer ausladenden Glastheke
       werden Süßigkeiten und Nussvariationen in kunstvoll arrangierten Türmen auf
       riesigen Rund-Tabletts mit goldenen Füßen präsentiert. 2016 von drei
       Brüdern aus dem syrischen Homs gegründet, ist die Bäckerei heute eine
       Berühmtheit, über die Medien aus dem In- und Ausland berichten.
       
       ## Mythos 1: „Arabische Straße“
       
       „Wir verkauften unsere Süßigkeiten und das Baklava bis nach Frankreich und
       England“, erzählt Sulaiman Al-Sakka, der 21-jährige Sohn eines der
       Firmengründer, stolz. Der Erfolg sei so groß, dass man 2018 zwei Filialen,
       im Wedding und in Moabit, eröffnet habe.
       
       2016 seien sie in die Sonnenallee gekommen, die schon damals bis nach
       Syrien bekannt gewesen sei. „Das war meine erste Straße in Berlin, alle
       Syrer mussten zuerst in die ‚Arabische Straße‘ kommen.“ Dennoch hätten
       viele abgeraten, hier eine syrische Konditorei zu eröffnen, erzählt
       Al-Sakka. „Sie haben gesagt, ihr werdet zu teuer sein und die Sonnenallee
       ist billig.“
       
       Tatsächlich ist das Baklava im „Damaskus“ doppelt so teuer wie bei anderen
       Bäckereien der Sonnenalle. Das liege an den „guten Nüssen“, erklärt der
       junge Mann, der neben seiner Arbeit im Geschäft Betriebswirtschaft
       studiert: „Wir arbeiten mit denselben Zutaten wie in Syrien.“ Der Erfolg
       hat ihnen recht gegeben. „Am Anfang haben vor allem die Deutschen bei uns
       gekauft, sie lieben unsere Sachen, weil sie nicht so süß sind. Aber auch
       die Syrer kommen und zahlen den Preis – weil sie der Geschmack an unsere
       Heimat erinnert.“
       
       Eine ganz andere Sicht auf die Sonnenallee hat Oussama Abdul. Seine Familie
       hat 1996 die Hähnchenbraterei „City Chicken“ an der Ecke Weichselstraße
       gegründet. Das Schnellrestaurant ist in seiner kahlen Schlichtheit das
       Gegenteil des „Damaskus“: Der bis Schulterhöhe weiß gekachelte Raum wird
       dominiert von riesigen Grillanlagen und einer langen Imbisstheke, auf den
       Tischen in Resopal-Optik stehen Soßenspender aus Plastik.
       
       Der Laden ist einer von vielen 90er-Jahre-Gründungen von Libanesen oder
       Palästinensern, die in den 70er, 80er Jahren vor dem libanesischen
       Bürgerkrieg nach Westberlin geflohen waren. „Sie bekamen in der Regel kein
       Asyl, sondern nur eine Duldung“, oft verbunden mit einem Arbeitsverbot,
       erklärte die Kulturwissenschaftlerin Miriam Stock kürzlich bei einer
       Veranstaltung des Mediendienstes Integration. Für viele dieser Flüchtlinge
       war eine Geschäftsgründung in der Sonnenallee – wo es nach der Wende viel
       Leerstand gab – fast die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen, wenn auch
       illegal. Dafür musste nur ein Verwandter einen Aufenthaltstitel haben und
       das Gewerbe offiziell anmelden.
       
       Stock, die über arabische Gastronomie und Gentrifizierung in Berlin
       forscht, sagt, das Neue, das die Syrer in die Sonnenallee gebracht hätten,
       sei die Vermarktungsstrategie gewesen. Ihre Geschäfte präsentierten sich
       nicht mehr als „unterschichtige“ Schnellrestaurants oder Falafel-Buden, die
       auf den europäischen Geschmack ausgerichtet sind, sondern würden
       selbstbewusst ihre „syrische Küche“ bewerben.
       
       Stocks Paradebeispiel ist das stets überfüllte Restaurant „Al Dimashqi“
       (Der Damaszener) auf der Reuterstraße unweit der Sonnenallee, „das in
       seiner Präsentation an kosmopolitische Damaszener Läden“ erinnere. Und dem
       Berliner Publikum erstmals ein Schawarma-Sandwich vorsetze, wie man es in
       arabischen Ländern isst – nur mit Fleisch und der Knoblauchpaste Toum und
       ohne das hier beliebte kleingehackte Grünzeug.
       
       ## „Wir sind jetzt multikulti und berühmt“
       
       Ganz anders waren dagegen die Anfänge der Palästinenser und Libanesen vor
       gut 20 Jahren. „Wir haben damals ganz klein angefangen, mit einem Grill“,
       erinnert sich der 36-jährige Abdul. Anfangs sei die Kundschaft
       ausschließlich arabisch gewesen. Bei Deutschen war die Sonnenallee damals
       nicht hip, sondern als „Gazastreifen“ verrufen. „Inzwischen kommen alle,
       auch viele Touristen sogar aus dem Ausland. Wir sind jetzt multikulti und
       berühmt“, erklärt Abdul. Er managt heute den zweiten Laden der Familie, das
       „City House“, 2012 eine Ecke weiter eröffnet, „damit wir unseren
       Stammkunden auch Fisch und Burger anbieten können“.
       
       Mit den Syrern habe sein Erfolg also nichts zu tun, betont der Libanese. Im
       Gegenteil: „Als die ab 2015 hierher kamen, haben wir die Preise angehoben,
       damit sie nicht zu uns kommen und wir nicht unsere Stammkundschaft
       verlieren.“ Damals sei einfach zu viel los gewesen auf der Sonnenallee, „es
       war zu voll, es gab zu viele Syrer, zu viel Ärger mit ihnen, Schlägereien“.
       Viele, gerade die jungen Männer und Jugendlichen, hätten sich anfangs
       „komisch“ verhalten, wohl wegen der Kriegserfahrungen. „Aber inzwischen
       haben sie sich eingelebt“, findet Abdul.
       
       Da mag durchaus etwas dran sein. Berichte über Flüchtlinge, die sich
       „daneben benehmen“, sprich: nicht, wie es sich hier gehört, gibt es
       schließlich viele. Doch es gibt einen weiteren Grund für Konflikte zwischen
       Libanesen und Palästinensern auf der einen und Syrern auf der anderen
       Seite. Viele der ersten finden es „ungerecht“, dass die Syrer – im
       Unterschied zu ihnen – meist schnell als Flüchtlinge anerkannt werden und
       Arbeitserlaubnis sowie Starthilfen wie Sprachkurse und Unterstützung vom
       Jobcenter bekommen. „Das hat schon viele verärgert“, sagt Abdul.
       
       Er selbst habe Mitarbeiter, die seit Jahren nur eine Duldung hätten – „und
       die Syrer bekommen nach einem Monat ihre Papiere“. Dabei sei das eigentlich
       schon richtig, gibt er zu: „Viele von denen haben ja schnell Arbeit
       gefunden.“
       
       Hanadi Mourad kennt diese Konflikte. Die alleinerziehende Mutter kam vor 29
       Jahren aus dem Libanon nach Berlin, erst nach 14 Jahren bekam sie einen
       Aufenthaltstitel. Heute arbeitet die 38-Jährige als Stadtteilmutter für den
       Bezirk Neukölln: Sie besucht arabische Familien und informiert sie über
       Hilfsangebote in den Bereichen Erziehung und Sprache. „Es gibt schon
       manchmal Streit auf der Straße, wer hier dominiert“, sagt sie. Die
       alteingesessenen Araber fühlten sich benachteiligt, umgekehrt könnten Syrer
       manchmal nicht glauben, dass manche hier schon 20 Jahre mit Duldung leben:
       „Sie glauben, die Libanesen wollen sich nicht integrieren.“ Mourad findet
       es bis heute „beschämend“, dass 2015/16 viele Libanesen „fast wie die AfD“
       geredet und behauptet hätten, alle Flüchtlinge bekämen jeden Monat 800 Euro
       vom Staat. „Da mussten wir Stadtteilmütter viel Aufklärung leisten.“
       
       ## Mythos 2: Soziale Durchmischung
       
       So dominant das Arabische – in all seiner Vielheit – im Straßenbild auf der
       Sonnenallee ist: Unter den AnwohnerInnen waren die Araber, egal welcher
       Nationalität, nie die größte Gruppe, sagt Kulturwissenschaftlerin Stock.
       Heute machen sie 13 Prozent der BewohnerInnen rund um die Sonnenallee aus.
       „Die Bewohnerschaft hier ist sehr divers.“ Größte nichtdeutsche Gruppe
       seien Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft (24 Prozent), die seit den
       70er Jahren – wegen der Zuzugssperre für Kreuzberg, Wedding und Tiergarten
       – vermehrt ins damals günstige Nordneukölln gezogen waren (mehr Zahlen
       siehe Kasten).
       
       Beide Gruppen sind in den letzten Jahren kleiner geworden, weil viele die
       rasant steigenden Mieten nicht mehr zahlen können. „Viele Menschen mussten
       schon wegziehen, der Verdrängungsdruck hier ist enorm“, sagt Hermann Wehrle
       von der Berliner Mietergemeinschaft, die auf der Sonnenallee ihren Sitz
       hat. „Teilweise zahlen die Menschen über 50 Prozent ihres Einkommens für
       die Miete.“ Zudem sei die Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt massiv:
       Menschen mit arabisch-türkischem Migrationshintergrund hätten praktisch
       keine Chance mehr, im Kiez eine Wohnung zu finden, so Wehrle.
       
       Stattdessen gibt es seit gut 10 Jahren einen regen Zuzug von besser
       betuchten Bio-Deutschen – Bio im Sinne von Biografie – und „westlichen“
       Ausländern aus der EU, Israel, den beiden Amerikas, die ebenfalls die
       Gegend für sich entdeckt haben. Für sie und durch sie ist in den
       Nebenstraßen der Sonnenallee eine üppige Infrastruktur an Szenecafés und
       -bars, Platten- und Secondhandläden, Büchereien und Modegeschäften
       entstanden.
       
       Diese trendige Szene zieht weitere Hipster an: Start-ups zum Beispiel wie
       das Unternehmen Blinkist. Die App, die Bücher zusammenfasst, und von neun
       Millionen Menschen weltweit genutzt wird, wie Geschäftsführer Niklas Jansen
       sagt, wird am östlichen ruhigen Ende der Sonnenallee von 130 Mitarbeitern
       aus 38 Ländern produziert. Der Standort sei ideal, so Jansen, weil die
       Gewerbemieten günstig und noch Platz zum Wachsen sei. Auch könne man damit
       bei der Werbung um neue Mitarbeiter punkten: „Neukölln ist sehr hip, sehr
       divers“ – unter Expats habe die Gegend um die Sonnenallee einen „sehr guten
       Ruf“. Probleme, eine Wohnung zu finden, hätten seine Angestellten nicht:
       „Die Mieten können sie gut zahlen.“
       
       Hat nun die Gentrifizierung zu einer „sozialen Durchmischung“ der
       Bewohnerschaft geführt, wie sie sich die lokale Politik zu Beginn der
       Entwicklung vor gut zehn Jahren erhofft hat? Damit Nordneukölln und mit ihm
       die Sonnenallee endlich wegkommt vom Image des armen Migranten-Gettos?
       
       Ja, sagt Cordula Heckmann, Schulleiterin der Rütli-Gemeinschaftsschule.
       Deren Vorläufer, die Rütli-Hauptschule, war vor 13 Jahren durch einen
       Brandbrief der Lehrern, die an ihren Schülern mit Migrationshintergrund
       verzweifelt waren, berühmt-berüchtigt geworden. Seither sind viele
       Millionen Euro in eine bessere Schulausstattung samt neuer Gebäude
       geflossen. Vor allem aber wurde ein Großteil der BewohnerInnen des Viertels
       „ausgetauscht“. „Ja“, sagt also Heckmann, „die Gentrifizierung ist bei uns
       angekommen.“ In der Grundstufe, den Klassen 1–6, seien inzwischen 60
       Prozent der Kinder nicht mehr auf staatliche Unterstützung angewiesen.
       
       Die „Rütli“ ist allerdings ein Sonderfall geblieben. Alle anderen
       öffentlichen Schulen der Gegend haben weiterhin einen überragend hohen
       Anteil von Kindern, die „lernmittelbefreit“, also arm sind und/oder einen
       Migrationshintergrund haben. Von der bildungsbewussten Mittelschicht – ob
       biodeutsch oder nicht – werden sie daher nach wie vor gemieden.
       
       Stadtteilmutter Mourad bemerkt das schmerzlich: In den Restaurants finde ja
       durchaus eine Durchmischung statt, auch auf dem Spielplatz sitze man
       zusammen. „Aber viele Deutsche wollen ihre Kinder nicht mit unseren in die
       Schule schicken. Warum, weiß ich nicht.“
       
       ## Mythos 3: Kriminelles Pflaster
       
       Der dritte Mythos, der die Sonnenallee bis heute prägt, lautet: Hier
       regiere nicht der Rechtsstaat, sondern arabische Clankriminalität. Den
       schlechten Ruf als Hort einer migrantischen Parallelgesellschaft ist
       Nordneukölln seit dem Aufschrei der Rütli-Lehrer und dem darauf folgenden
       Verdikt des früheren Bürgermeisters Heinz Buschkoswski – „Multikulti ist
       gescheitert“ – nie richtig losgeworden. Neu belebt hat das Gangster-Image
       die Serie „4 Blocks“.
       
       „Viele Bürger fühlen sich auf der Sonnenallee unsicher“, sagt Peter Diebel,
       Leiter des zuständigen Polizeiabschnitts 54. In gewisser Weise könne er das
       verstehen: „Die Straße hat ihren Nimbus, durch Filme, Serien.“ Und es sei
       ja auch immer viel los: Gedränge auf den Bürgersteigen, der viele Verkehr.
       De facto seien aber die Straftaten – vor allem Körperverletzungen,
       Eigentumsdelikte, Autodiebstahl – in den knapp 40 Jahren seiner Dienstzeit
       fast unverändert auf „relativ niedrigem“ Niveau: „Das ist keine No-go-Area.
       Ich gehe hier auch mit meiner Frau essen“, betont Diebel.
       
       Zwar hätten Rohheitsdelikte wie Körperverletzungen seit 2016 leicht
       zugenommen, zudem hätten zwei Tötungsdelikte im vorigen Jahr auf der Straße
       „natürlich für Unruhe gesorgt“, erklärt der Abschnittsleiter. Trotzdem:
       „Die Sonnenallee ist polizeilich kein besonderes Phänomen.“ Das gelte eher
       für den Hermannplatz, der mit vielen Rohheitsdelikten, auch mit homophoben
       Angriffen auffalle – weshalb man dort seit März 2018 eine
       „Brennpunktstreife“ im Einsatz habe.
       
       Zur arabischen Clankriminalität kann der Abschnittspolizist wenig sagen –
       dafür sei das LKA zuständig. Begeistert mache er allerdings alle paar
       Wochen bei einem der „Schwerpunkteinsätze“ mit, erzählt er: bei
       Großrazzien, die Polizei und bezirkliches Ordnungsamt seit einiger Zeit
       regelmäßig veranstalten. Meist werden dabei zwar nur ein, zwei Shisha-Bars
       wegen zu hoher Kohlenmonoxidkonzentration geschlossen – und nach kurzer
       Zeit wieder eröffnet. „Das frustriert mich aber nicht“, so Diebel. Im
       Gegenteil seien solche Einsätze wichtig, findet der Polizist. „Wir machen
       sie teils extra so groß, damit das medial aufgearbeitet wird. Das ist
       wichtig für das Sicherheitsgefühl, damit die Leute sehen, die Polizei tut
       etwas.“
       
       Eine Bemerkung zur Clan-Kriminalität rutscht Diebel bei der Veranstaltung
       des Mediendienstes Integration aber doch raus, als er das Treiben auf der
       Sonnenallee mit den vielen Geschäften beschreibt, „und davor stehen viele
       hochwertige Autos von Clan-Mitgliedern, die in den Restaurants ein- und
       ausgehen“. Später rudert er zurück und gibt zu, nicht jeder, der solche
       Wagen fahre, sei kriminell.
       
       Dennoch muss Micky Patock widersprechen. Der Mittdreißiger ist
       Sozialarbeiter bei Gangway und arbeitet mit arabischen und türkischen
       Jugendlichen, die rings um die Sonnenallee abhängen. Etwa in den Neukölln
       Arcaden, im Fußballkäfig am Reuterplatz oder im Jugendzentum Manege an der
       Rütli-Schule – wo sie manchmal aber auch wegen schlechten Benehmens
       rausfliegen. „Für viele meiner Jungs sind fette Autos der Lebensinhalt“,
       sagt er. Sobald sie Arbeit hätten, nähmen sie einen Großkredit auf, um sich
       so ein Statussymbol anzuschaffen. „Das gehört auch zu ihrem
       Männlichkeitsbild.“
       
       Das Auffälligste für Patock an seiner Arbeit: Von anderen würden seine
       Jugendlichen immer nur unter den Aspekten „arabisch, muslimisch,
       clan-kriminell“ betrachtet – und entsprechend behandelt. Dabei hätten sie
       die üblichen Probleme aller jungen Leute: Ärger mit den Eltern oder in der
       Schule, eine Ausbildung finden und eine Wohnung. „Ihre muslimische oder
       arabische Identität spielt da eigentlich keine Rolle.“
       
       Er habe sogar festgestellt, erzählt Patock: „Wenn wir mit ihnen darüber
       reden, was arabisch oder muslimisch ist, wissen sie häufig gar nicht, wie
       sie den Begriff füllen sollen.“ Es sei denn über Abgrenzung – etwa zu den
       Syrern. „Unsere Jungs haben harte Ressentiments“, berichtet der
       Sozialarbeiter. „Die Syrer seien hier ‚fremd‘, sagen sie, sie wüssten
       nicht, wie man sich hier benimmt, auch gegenüber Frauen.“ Sie wiederholen
       also die Vorurteile, die die biodeutsche Mehrheitsgesellschaft ihnen
       gegenüber hegt.
       
       Auf ganz andere, wenn auch ebenso distanzierte Weise sehen die Jugendlichen
       ihre Hipster-Nachbarn, die sie „Studenten“ nennen, wie Patock erzählt. „Es
       gibt ja wenige öffentliche Orte für sie, überall braucht man Geld. Manchmal
       gehen sie auf der Sonnenallee einen Tee trinken oder laufen dort auf und
       ab.“ Manchmal würden sie aber auch bewusst in eines der teuren Szene-Cafés
       in einer Seitenstraße gehen. „Das ist eine ganz andere Welt, wo sie
       entspannt abhängen können.“ Eigentlich also ganz so, wie die deutschen
       Besucher auf der „Arabischen Straße“ in eine andere Welt eintauchen.
       
       23 Mar 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Memarnia
       
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