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       # taz.de -- Die Wahrheit: Mönchsberg hinter den Motorsägen
       
       > Für eine einzige Gewitternacht hat das Sturmtief „Eberhard“ im Thüringer
       > Wald ein uraltes Geheimnis freigeweht.
       
   IMG Bild: Mit der Motorsäge öffnen Waldarbeiter ein Portal in eine andere Welt
       
       Kreischend frisst sich die Motorsäge in den Stamm einer mächtigen Blutbuche
       tief im Thüringer Wald. Mit einem letzten schaurigen Ächzen empfängt das
       jahrhundertealte Gehölz den Richtschlag des Waldarbeiters, bevor der Baum
       krachend fällt und quer über einen frisch geräumten Waldweg bei Mönchsberg
       zu liegen kommt. Der einzige Zugang zum Nachbarort Totholzwinkel ist wieder
       versperrt. Für alle Ewigkeit oder wenigstens für weitere hundert Jahre,
       wenn es nach dem Willen der Einheimischen geht.
       
       „Es ist vollbracht“, murmeln die Dörfler pflichtschuldig, denn ganz
       Mönchsberg hat sich versammelt, um dem Geschehen beizuwohnen. Manche
       bekreuzigen sich, andere beten zum Holzmichel, wieder andere beschwören den
       Germanengott Thor oder die Muhme Wagenknecht – im abgelegenen Föritztal ist
       der Firnis der Zivilisation genauso dünn wie die magere Ackerkrume.
       
       „Die Fremden haben etwas Böses in unserem Wald geweckt“, warnt Heiner
       Dorfschulze, der in ebendieser Funktion dem Weiler vorsteht. Allerdings
       verdingt sich der gebürtige Niedersachse auch als Übersetzer vom Thüringer
       Gutturaldialekt ins Hochdeutsche, Tankwart sowie als Touristen- und
       Bärenführer.
       
       In den Fokus der Öffentlichkeit war Mönchsberg geraten, als Sturmtief
       „Eberhard“ unlängst über Deutschland hinwegfegte und das Dorf für eine
       Nacht von der Außenwelt abschnitt. Erst am nächsten Morgen konnte die
       Feuerwehr das Örtchen auf einer alten Flurkarte lokalisieren und die
       umgestürzten Bäume von der einzigen Zufahrtsstraße räumen.
       
       „Dabei haben diese Narren ein kosmisches Portal geöffnet“, ereifert sich
       Dorfschulze und weist auf den just wieder verbarrikadierten Pfad, den die
       Einsatzkräfte ebenfalls vom Sturmbruch befreit hatten. Er verliert sich in
       der Finsternis des Waldes, doch an seinem Ende soll das sagenumwobene
       Totholzwinkel liegen, das Atlantis des Thüringer Walds. Dorfschulze spuckt
       aus, als wir den Ortsnamen nennen, auch die übrigen Mönchsberger ducken
       sich weg, mit uns reden will niemand.
       
       ## Märchen mit Pfeif- und Grunzlauten
       
       Erst als wir im „Pullernden Ochsen“ sitzen, dem einzigen Gasthof der
       Gegend, der in einem verlassenen Pkw auf dem Parkplatz einer einsam
       leuchtenden Tankstelle untergebracht ist, fassen einige der schweigsamen
       Männer Zutrauen.
       
       „S’war gespenstisch“, knödelt ein von Anabolika und Broilern verhärmter
       Mittdreißiger, der sich Rico nennt, und verstrickt uns in ein reichlich
       unglaubwürdiges Ammenmärchen. Kaum sei der Weg nach Totholzwinkel offen
       gewesen und die Feuerwehrleute abgezogen, erzählt der Mann in den typischen
       Pfeif- und Grunzlauten seines Thüringer Idioms, seien seltsame Gestalten
       mit roten Fahnen aus den neblichten Wäldern ins schutzlose Mönchsberg
       vorgedrungen. Als Emissäre einer „Räterepublik“ hätten sie sich bezeichnet
       und zu wissen verlangt, ob die Freikorps noch durch die Lande marodierten.
       Als man dies verneint habe, seien sie in Jubel ausgebrochen.
       
       ## Eher durchwachsene Bilanz
       
       Von diesen reaktionären Mordbrennern habe man noch nie gehört, hätten die
       Mönchsberger versetzt, allerdings habe man den Waldleuten von der rechten
       Knüppelgarde „Thüringer Heimatschutz“ berichtet, was die Gäste deutlich
       ernüchtert hätte.
       
       „Aber den sozialdemokratischen Arbeiterverrätern um Noske ist endlich das
       Handwerk gelegt?“, hätten die Waldleute dann wissen wollen. Auch diesen
       Politiker habe man nicht gekannt, berichtet unser Mönchsberger Gewährsmann,
       und sich deswegen auf eine aktuelle Zustandsbeschreibung der SPD
       beschränkt. Diese sei von den Totholzwinkler Linksabweichlern jedoch als
       unglaubwürdig abgetan worden.
       
       Nicht einmal „die Judasse in der Reichsregierung“ könnten eines derartigen
       Klassenverrats fähig sein, hätten sich die Emissäre empört, um sodann ihrer
       Zuversicht Ausdruck zu verleihen, dass sicher letztlich die USPD im
       Bruderzwist obsiegt habe. Daraufhin hätten die Mönchsberger bedauernd mit
       den Schultern gezuckt: Dieser Verein sei ihnen gänzlich unbekannt.
       
       Wie es denn um die Befreiung der Frau aus den Ketten des Patriarchats
       stünde, habe hierauf eine energische Waldfrau gefragt. Da man die Gäste
       nicht schon wieder habe enttäuschen wollen, habe man ausweichend „Comme si,
       comme ça“ geantwortet. Aber die Festung des „parlamentarischen Kretinismus“
       müsse doch inzwischen geschleift sein, die Bourgeoisie entmachtet und der
       Sozialismus endlich Einzug gehalten haben, hätten sich die Waldleute noch
       einmal kämpferisch gegeben, auch wenn ihre Zuversicht schon etwas hohl
       geklungen habe.
       
       ## Erinnerung an ein seltsames Land
       
       „Da war mal so was“, habe sich ein einheimischer Veteran erinnert und dann
       von jenem seltsamen Land namens DDR erzählt. Darüber sei allen –
       Mönchsbergern wie Totholzwinklern – das Herz vor Gram und
       Hoffnungslosigkeit so schwer geworden, dass man sich viehisch habe
       betrinken müssen, schließt unser Gewährsmann seine Erzählung. Vom
       Hitlerfaschismus habe man dann gar nicht erst angefangen.
       
       „Das will man doch niemandem erklären müssen“, heischt Rico um Verständnis.
       Die anderen Männer im „Pullernden Ochsen“ nicken. So sei das gewesen,
       bestätigen sie. Als die Mönchsberger wie aus schwerer Ohnmacht wieder
       erwacht seien, sagen sie, habe nur ein schlimmer Kater an die Begegnung mit
       den Leuten aus Totholzwinkel erinnert.
       
       „Da war nichts dergleichen! Die Suffköppe haben halluziniert“, schneidet
       plötzlich die Stimme Heiner Dorfschulzes durch die Stille, und die
       Angesprochenen nicken ertappt. Auch nach mehrfacher Nachfrage und etlichen
       Herrengedecken lässt sich der Dorfvorsteher nicht erweichen. „Eine letzte
       Räterepublik aus dem Revolutionsjahr 1919, die von der Außenwelt
       abgeschlossen hundert Jahre überlebt hat und ohne uns in eine bessere
       Zukunft aufgebrochen ist?“, höhnt er. „Wer soll denn so was glauben?“
       
       ## Wissenschaftliche Erklärung
       
       Dorfschulze bevorzugt eine – wie er sagt – „wissenschaftliche Erklärung“
       für die Vorgänge jener Nacht und fabuliert von unaussprechlich bösen
       Gottheiten, die in den Tiefen der Wälder hausen. Deswegen sei dieser Teil
       des Forstes ein für allemal gesperrt und mit einem mächtigen Tabu belegt.
       Die Dörfler bekreuzigen sich oder rufen den Holzmichel an, doch niemand
       widerspricht, denn Dorfschulzes Wort hat Gewicht hier. Als
       Tankstellenpächter ist er mit gleich zwei lukrativen Minijobs der größte
       Arbeitgeber in der Gegend.
       
       Bevor uns Dorfschulze zur Zufahrtsstraße eskortiert, lässt er uns noch
       einen letzten Blick auf den versperrten Weg nach Totholzwinkel werfen. Wir
       blicken ins trübe Zwielicht des Vorfrühlings, der Pfad verliert sich noch
       immer zwischen düsteren Föhren und Fichten. Ein einsamer Vogel singt, für
       einen Moment glauben wir die Klänge der Internationale zu hören, doch dann
       verstummt das Tier abrupt.
       
       Die Wahrheit über jene stürmische Nacht und den rätselhaften Ort im
       Thüringer Wald werden wir wohl nie erfahren. Aber sie ist irgendwo da
       draußen.
       
       25 Mar 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Bartel
       
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