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       # taz.de -- Freude und Zorn schärfen den Blick für die Schönheit
       
       > Kitty Solaris stellte am Sonntag in der Kantine am Berghain ihr neues
       > Album „Cold City“ vor
       
       Von Kristof Schreuf
       
       Die Straße am Wriezener Bahnhof in der Nähe des Ostbahnhofs ist am
       Sonntagabend voll. Wer durch sie durchgeht, kommt zuerst an einer
       lückenlosen, langen Reihe Taxis vorbei. In der Kurve macht ein Imbiss sehr
       gute Geschäfte, weil auf dem Fußweg, der von hier aus weiterführt, Hunderte
       von Menschen Schlange stehen müssen. Die laufenden Motoren der Taxis sind
       gut zu hören, weil die meisten Leute, von der langen Warterei gedemütigt,
       nur noch schweigend und genervt in Richtung des Eingangs des Berghain
       schauen. Bei der links davon liegenden Kantine handelt es sich um keine
       Sehenswürdigkeit, weswegen die Gäste der hier stattfindenden Release Party
       von Kitty Solaris’ neuem Album „Cold City“ sie leichter erreichen und sich
       hier auch gern unterhalten.
       
       Die „kalte Stadt“, die dem Album den Titel gibt, ist das Berlin, in dem
       Kitty Solaris lebt, Lieder schreibt und ihr Label Solaris Empire betreibt.
       
       Im Gegensatz zu den meisten anderen Orten sind hier, wie es der Liedtext
       erzählt, zwei besondere Erkenntnisse möglich. Die eine ist, dass sich zwar
       jeder überall allein und verlassen vorkommen, aber in Berlin besser als
       anderswo herausfinden kann, was sich mit solchen Gefühlen anfangen lässt.
       Die zweite Erkenntnis besteht in der Einsicht, sich nach einer Weile kaum
       noch vorstellen zu können, woanders mehr rausfinden zu können als hier.
       
       „How could I live without you“ schwelgt Solaris daher, und es handelt sich
       um kein lokalpatriotisches Bekenntnis, sondern um den Hinweis, dass dieser
       Ort eine Menge Energie aufruft und gleichzeitig abzieht, viel Freude macht,
       wegen der Möglichkeiten, hier die zu werden, die eine ist, und viel Zorn
       auf die titelgebende „Kälte“ weckt, die bei eingeschränkten
       Lebenshaltungsmöglichkeiten entsteht und nicht nur im Winter herrscht.
       
       Freude und Zorn öffnen und schärfen auch den Blick auf die Schönheit, die
       sich immer wieder neu entdecken lässt. Diese „beauty all around“ spannt die
       Sinne wie bei jemandem an, der zwar gerade angekommen ist, sich aber seine
       Regeln von Anfang an selber macht. Solaris besingt diese Person als
       „Tourist in my own town“, der im Aufnahmestudio Akkord-Progressionen wie
       von Steely Dan einfallen. In der Kantine werden sie von Rod Miller
       gespielt.
       
       Kitty Solaris hat sich durch Befolgung eigener Gesetze über die Jahre eine
       Menge Möglichkeiten geschaffen. Sie hat viele Einflüsse aufgenommen, wie
       das etwa bei den flanierenden Harmonien in „Goldmine“ zu hören ist, die an
       die nordirische Rockband Snow Patrol erinnern. Zwischendurch zitiert sie in
       „Life in a dream“ die Buzzcocks, wenn sie „I don’t wanna live in a dream /
       I want something real“ singt. Über die Jahre ist Solaris so eine
       ausgezeichnete Gitarristin und ein künstlerisches Kraftwerk geworden, dass
       sie beharrlich eigene und anderer Leute Platten veröffentlicht. Manche von
       ihnen, etwa Mitglieder der Band Entertainment for the Braindead, werden zum
       Mitsingen auf die Bühne geholt.
       
       Bevor sie gemeinsam loslegen, entschuldigt sich Solaris noch sehr
       humorvoll: „Heute Abend sind manche Menschen hier, die ich kenne. Ich habe
       nicht alle begrüßt, weil ich nicht jeden erkannt habe. Aber das liegt nur
       daran, dass ich die falschen Kontaktlinsen eingesetzt habe.“
       
       Dann spielen alle „Shimmering“, das letzte Stück auf dem neuen Album. Im
       Gegensatz zu der Version auf Platte singt Solaris den Refrain, in dem alle
       schimmern, in einem ebenso komplexen wie anrührenden mehrstimmigen
       Gesangsarrangement, so lange, bis die Instrumente aufhören zu spielen und
       die Stimmen den Raum ausfüllen. Wir alle schimmern und können dadurch
       Lieder wahrmachen.
       
       27 Mar 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kristof Schreuf
       
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