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       # taz.de -- „Gefährliche Orte“ in Sachsen: Keiner kontrolliert die Kontrollen
       
       > An „gefährlichen Orten“ darf die sächsische Polizei ohne konkreten
       > Verdacht Personen durchsuchen. Dabei gelten weniger Auflagen als in
       > anderen Ländern.
       
   IMG Bild: Sächsischer Bereitschaftspolizist an einem „gefährlichen Ort“? Nein, nur bei einer Übung
       
       Leipzig taz | Der Ortsteil Connewitz ist weit über die Stadtgrenzen
       Leipzigs bekannt. Das Viertel im Süden der Stadt gilt als linksalternativ
       geprägt, in den frühen Neunzigern wurden hier leerstehende Häuser besetzt.
       Mittlerweile prägen junge Familien, vegane Bistros und Szenekneipen das
       Bild. Ist dieser Ort offiziell gefährlich?
       
       „Gegen halb zehn an einem Dienstagabend hat mich die Polizei vor einem
       Supermarkt angehalten und mich einer ‚verdachtsunabhängigen
       Personenkontrolle‘ unterzogen. Die haben mich und auch meinen Rucksack
       komplett durchsucht. Einer von den Beamten meinte, ich befinde mich in
       einem Gefahrengebiet, deswegen dürfen die das.“ So schildert Jonas F.,
       Schüler aus Leipzig, den Abend des 29. Januar. Wenige Meter von seiner
       Haustür entfernt sei er an dem Tag in Connewitz kontrolliert worden. „Ich
       war auch nicht der Einzige, den die an dem Abend komplett
       auseinandergenommen haben.“
       
       An sogenannten „gefährlichen Orten“ darf die Polizei in Sachsen auch ohne
       konkreten Verdacht Passanten und Anwohner kontrollieren. Gehören Teile des
       Leipziger Südens zu diesen Zonen? Und warum wurde das bisher nicht
       öffentlich kommuniziert? Immerhin handelt es sich bei derartigen Kontrollen
       um Eingriffe in Grundrechte. In anderen Bundesländern sind solche
       Kontrollen in der Regel stärker reguliert als in Sachsen.
       
       Ob die Kontrolle, so wie Jonas sie schildert, tatsächlich stattgefunden
       hat, lässt sich von Seiten der Polizei nicht rekonstruieren. Man habe im
       System keinen entsprechenden Sachverhalt finden können, heißt es auf eine
       Anfrage der taz und des Stadtmagazins kreuzer. Zugleich weist die Leipziger
       Polizei darauf hin, dass Kontrollen, bei denen keine Straftaten
       festgestellt wurden, „nicht zwingend schriftlich dokumentiert“ werden
       müssen. Ausschließen lässt sich die mögliche Kontrolle also auch nicht. Die
       Frage, ob im Leipziger Süden ein „gefährlicher Ort“ ausgewiesen ist,
       beantwortet die Polizei nicht.
       
       ## Keine Auskunft im Innenministerium
       
       Auch das sächsische Innenministerium kann keine Auskunft geben. Im
       Ministerium seien die einzelnen „gefährlichen Orten“ nicht bekannt, da die
       Polizeidirektionen diese selbst definierten, sagt ein Sprecher. Der Tenor
       auf die Nachfrage, ob tatsächlich die örtliche Polizei selbst entscheidet,
       wo sie verdachtsunabhängig kontrollieren darf, ist eindeutig: „Ja, wer denn
       sonst?“ Diese sei deutlich besser qualifiziert, die Lage vor Ort
       einzuschätzen, als es aus der Landeshauptstadt Dresden möglich sei,
       schildert der Sprecher. Zudem könne sich die Situation an einem Ort sehr
       schnell verändern, worauf die Polizei entsprechend reagieren müsse.
       
       Bisher war in der öffentlichen Wahrnehmung völlig untergegangen, dass die
       erweiterten Befugnisse der sächsischen Polizei nicht durch eine
       übergeordnete Instanz kontrolliert werden. „Das Konstrukt der ‚gefährlichen
       Orte‘ unterläuft die Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaats“,
       kritisiert nun die Landtagsabgeordnete Juliane Nagel (Linkspartei). Sie
       nennt die entsprechende Regelung ein „Paradebeispiel für polizeiliche
       Willkür“, über das endlich eine breite kritische Diskussion beginnen müsse.
       
       „Das ist ein Zustand, der in einem Rechtsstaat nicht sein darf“, sagt auch
       der Grünen-Abgeordnete Valentin Lippmann. Er verweist darauf, dass die
       Polizei in Sachsen diese Regelung, die bereits seit 1999 existiert, erst
       seit etwa zwei Jahren in größerem Maße zu nutzen scheine. Möglicherweise
       sei das Thema deshalb zuvor nicht beachtet worden.
       
       ## Keine Kontrolle, keine Fakten
       
       Er kritisiert nicht nur, dass die Einrichtung „gefährlicher Orte“ keiner
       Kontrolle unterliege – sondern auch, dass sich die Polizei dabei nicht
       allein auf belegbare Fakten stütze. Der Frankfurter Allgemeinen teilte das
       Innenministerium im letzten Sommer zwar mit, die Orte würden anhand von
       häufig vorkommenden Straftaten wie Diebstahl oder Drogenhandel eingestuft
       und die Einstufung jährlich überprüft.
       
       Als Antwort auf eine Landtagsanfrage Lippmanns schrieb die Landesregierung
       allerdings, die Klassifizierung sei ein „hoch dynamischer Prozess“, weshalb
       Polizeibeamte unter anderem in „täglichen Lagebesprechungen“ über die
       Existenz von „gefährlichen Orten“ informiert würden. „Ebenso besteht dazu
       keine Berichtspflicht“, hieß es abschließend.
       
       Auch der Innenausschuss des Landtags beschäftigte sich im Herbst in einer
       nicht-öffentlichen Sitzung mit dem Thema. Der damalige
       Landespolizeipräsident Jürgen Georgie sollte über das Pilotprojekt zum
       Einsatz von Bodycams in Sachsen informieren. Aktuell werden die
       Körperkameras an verschiedenen als gefährlich deklarierten Orten im
       Freistaat getestet.
       
       ## Beamte entscheiden nach Gefühl
       
       Laut Protokoll, das der taz vorliegt, hat Georgie dem Ausschuss Grundlagen
       für die Kategorisierung als „gefährlicher Ort“ vorgetragen – und indirekt
       deutlich gemacht, wie schwammig die Kriterien sind, mit denen die Polizei
       ihr eigenes Handeln begründet: Neben einer objektiv überprüfbaren Grundlage
       wie der Kriminalstatistik sollen auch subjektive Erfahrungen und
       Wahrnehmungen der Beamten entscheidend sein. Im Gegensatz dazu müssten für
       den Einsatz von präventiver Videoüberwachung nicht nur Erfahrungen, sondern
       auch „tatsächliche Anhaltspunkte“ vorliegen.
       
       Für verdachtsunabhängige Kontrollen heißt das: Anders als in nahezu allen
       anderen Bundesländern, wo im entsprechenden Gesetzesabschnitt wörtlich
       „Tatsachen“ oder „tatsächliche Anhaltspunkte“ als erforderliche Grundlage
       für die polizeiliche Einschätzung genannt werden, braucht es diese in
       Sachsen nicht. Lediglich in Baden-Württemberg hat die Polizei laut Gesetz
       ähnliche Freiheiten wie in Sachsen.
       
       Auch dort scheint die Umsetzung intransparent. 2017 beschwerte sich dort
       die Piratenpartei, dass Teilnehmer einer Konferenz in Stuttgart vor dem
       Gebäude mit der Begründung „Gefahrengebiet“ kontrolliert worden seien. Die
       örtliche Polizei antwortete damals schriftlich, „bisher sind in Stuttgart
       keine Orte im Sinne des § 26 Abs. 1 Nr. 2 PolG definiert“.
       
       ## Überprüfung unmöglich
       
       Nach aktuellem Stand scheint es also nahezu unmöglich, Klarheit darüber zu
       bekommen, ob eine polizeiliche Durchsuchung, wie Jonas F. sie geschildert
       hat, rechtmäßig ist oder war. „Weder die Betroffenen selbst noch ich als
       demokratisch gewählte Abgeordnete können die Voraussetzungen zur Einstufung
       als ‚gefährlicher Ort‘ überprüfen oder hinterfragen“, kritisiert daher die
       Abgeordnete Juliane Nagel.
       
       Valentin Lippmann sieht ein Grundproblem zudem darin, dass
       „Gefahrengebiete“ durch die Polizei laufend neu definiert werden können und
       zudem keine Berichtspflicht darüber besteht. Ob man sich tatsächlich an
       einem „gefährlichen Ort“ befindet, lässt sich im Fall einer Kontrolle kaum
       überprüfen. Werden Kontrollen zudem nicht dokumentiert, wird diese Frage
       auch im Nachhinein nur schwer zu klären sein. Lippmanns Fazit zu der
       Regelung über „gefährliche Orte“ ist entsprechend eindeutig: „Das braucht
       keiner. Das kann weg.“
       
       12 Mar 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Aiko Kempen
       
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