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       # taz.de -- Kommentar Wagenknechts Rückzug: Die Unvollendeten
       
       > Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine stehen für die Schwächen der
       > Linken in der Bundesrepublik: Taktische Fehler haben sie ins Aus
       > befördert.
       
   IMG Bild: Ob sie sich das gut überlegt hat?
       
       [1][So geht also zu Ende], was einmal die deutsche Version von Jeremy
       Corbyns Momentum oder Jean-Luc Mélenchons La France Insoumise werden
       sollte: Mit dem Rückzug von Sahra Wagenknecht aus Aufstehen und vom
       Fraktionsvorsitz ist ihre Bewegung gescheitert. Sicher, Wagenknecht wirkte
       schon in den letzten Monaten gesundheitlich angegriffen. Aber den Rückzug
       am 11. März zu verkünden, fast auf die Minute genau 20 Jahre, nachdem ihr
       Mann Oskar Lafontaine Parteivorsitz, Ministeramt und Abgeordnetenamt
       hinwarf, [2][ist auch ein Symbol]: Der Machtkampf um die Linke ist
       verloren, heißt es.
       
       Die Parallelen zwischen Lafontaine und Wagenknecht sind unübersehbar. Beide
       eint großes Charisma, ebenso große taktische Fehler, die Neigung zu
       Alleingängen – und Zaudern im entscheidenden Moment. Lafontaine hätte 1998
       den Zugriff auf die Kanzlerkandidatur gehabt, hinterließ sie aber Gerhard
       Schröder in der Einschätzung, der Parteivorsitzende bestimme die Leitlinien
       der Politik. Als er am 11. März 1999 ohne Absprachen alle Ämter
       niederlegte, hinterließ er eine orientierungslose Parteilinke. Die SPD
       verlor das Gleichgewicht zwischen ihren Flügeln. Hätte Lafontaine nur den
       Dienst als Minister quittiert und den Parteivorsitz behalten – [3][die
       Agenda 2010] wäre kaum durchsetzbar gewesen.
       
       Ähnliches wiederholte sich, als Wagenknecht – zusammen mit Lafontaine –
       nach der Bundestagswahl 2017 die Flüchtlings- und Migrationspolitik ihrer
       Partei angriff. Prinzipiell sprach vieles dafür, an diesem Punkt den
       Konflikt zu suchen: Mit drei linken Parteien, die das gleiche linksliberale
       Wählermilieu ansprechen, fehlen auf absehbare Zeit die entscheidenden
       Prozente, um eine Mehrheit links der Union zusammenzubekommen.
       
       In der Praxis ist ein solcher Konflikt allerdings heikel: Linke Bewegungen
       und Parteien bringen immer wieder Phasen eines großen Egalitätsfurors mit
       sich. In den sechziger und siebziger Jahre war eine Folge davon die
       Bewunderung für Maos Kulturrevolution, in den achtzigern die grüne
       Forderung nach Freigabe von Pädophilie. Hinterher möchte zwar kaum jemand
       dabei gewesen sein – in der jeweiligen Phase selbst ist ein Frontalangriff
       auf die neueste Egalitätsmode aber wenig erfolgversprechend.
       
       ## Im Dauerattacke-Modus
       
       Geht es den üblichen Gang der Linke, wird die Forderung der Linkspartei
       nach offenen Grenzen in einigen Jahren von einer realistischen Flüchtlings-
       und Migrationspolitik abgelöst. Als Fraktionschefin, die offene Grenzen
       ablehnt, kann man im Augenblick nur andere Themen in der Vordergrund
       stellen, hinter den Kulissen Mehrheiten auf Parteitagen sammeln,
       renommierte Experten zu Veranstaltungen einladen und gelegentlich in
       Interviews und Artikeln die eigene Distanz zum Programm durchscheinen
       lassen. Wagenknecht wählte aber die Dauerattacke auf die Parteiführung als
       Taktik – verbunden mit der Drohung, „Aufstehen“ zu gründen.
       
       Das war auch einer linken Revolutionsromantik geschuldet: Der Hoffnung, die
       Massen würden nur darauf warten, dass sie jemand dazu aufruft, die
       Verhältnisse umzustürzen. Im Grunde war es die demokratisierte Version der
       KPD-Taktik aus den zwanziger Jahren. Damals verführte die Bewunderung für
       die Bolschewiki die deutschen Kommunisten zu immer neuen, kläglich
       scheiternden, bewaffneten Aufständen. Heute verführte die Bewunderung für
       Corbyn und Melenchon Wagenknecht und Lafontaine dazu, etwas Ähnliches wie
       Momentum oder La France Insoumise zu probieren.
       
       Aber in Deutschland entzünden sich große Bewegungen an Themen wie
       Umweltschutz oder Rechtsradikalismus, nicht an der sozialen Frage. Selbst
       die Montagsdemonstrationen 2004 gegen die Hartz IV-Reformen blieben auf den
       Osten beschränkt und versandeten bald danach. Solche Traditionen – Ökonomen
       würden von „Pfadabhängigkeit“ sprechen – lassen sich nicht kurzfristig
       verändern.
       
       Noch dazu war Wagenknecht nicht bereit, den entscheidenden Schritt zu tun –
       ebenso wie Lafontaine bei der Kanzlerkandidatenfrage 1998. Wirklich Sinn
       gemacht hätte Aufstehen nur, wenn sie wie Corbyn oder Mélenchon bereit
       gewesen wäre, die Machtfrage innerhalb der Linkspartei zu stellen oder eine
       eigene Partei zu gründen. Das lehnte Wagenknecht aber offiziell ab, als es
       in die heiße Phase von Aufstehen ging. Das Risiko war ihr aus
       nachvollziehbaren Gründen wohl zu groß.
       
       ## Ein Wolfgang Bosbach der Linken
       
       So blieb im Spätsommer nur das Abwarten, wie viele denn zu Aufstehen kämen.
       Es waren zu wenige. In den ersten Wochen mobilisierte Aufstehen aus
       Ratlosigkeit, was zu tun sei, in den Hambacher Forst – ein Grünen-nahes
       Thema. Aufstehen hätte es dazu nicht gebraucht.
       
       Wagenknecht hat jetzt – anders als Lafontaine 1999 – nicht ihr
       Abgeordnetenmandat niederlegt. Das wird ihr eine Rolle am Rande der Partei,
       als gefragter Talkshow-Gast, ermöglichen. Eine Art Wolfgang Bosbach der
       Linken. Dass sie noch einmal größer zurückkommt, scheint wenig
       wahrscheinlich. Dazu bräuchte sie das Drohpotenzial einer mobilisierbaren
       größeren Anhängerschaft. Aber dann hätte sie die Möglichkeit, so etwas wie
       „Aufstehen“ zu gründen, nicht jetzt schon verbrennen dürfen.
       
       Lafontaine und Wagenknecht bleiben die politisch Unvollendeten der Linken
       in Deutschland. Sie stehen damit symbolisch, aber nicht alleine, für die
       drei linken Parteien, die nur in 20 von 70 Jahren Bundesrepublik den
       Kanzler gestellt haben. Man könnte daraus den Schluss ziehen, Deutschland
       sei ein konservatives Land. Aber die wahrscheinlichere Erklärung ist, dass
       das politische Unvermögen auf der linken Seite des Spektrums größer ist als
       auf der rechten.
       
       12 Mar 2019
       
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   DIR Martin Reeh
       
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