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       # taz.de -- Akademiker*innen für den Frieden: 15 Monate Haft für Friedenspetition
       
       > Im Prozess gegen die Friedensakademiker*innen ist das erste Urteil
       > rechtskräftig: Die Professorin Füsun Üstel muss ins Gefängnis. Das ist
       > ein Präzedenzurteil.
       
   IMG Bild: Solidaritätsbekundung für Füsun Üstel beim Frauenprotest am 8. März in Berlin
       
       Drei Jahre nach der Friedenspetition, die 2016 mehr als 2.212
       Wissenschaftler*innen in der Türkei unterschrieben haben, muss die erste
       Akademikerin für den Frieden ins Gefängnis. Am 25. Februar wurde das Urteil
       gegen die Professorin Füsun Üstel rechtskräftig: 15 Monate Haft für ihre
       Unterschrift auf der Petition „[1][Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens
       sein]“.
       
       Mit diesem Urteil erreichte die Repression gegen die unterzeichnenden
       Akademiker*innen eine neue Dimension. Es gilt als Präzedenzurteil für alle,
       die wegen der Friedenspetition vor Gericht mussten. Das geistige Klima im
       Land verarmt zusehends, die Chance auf Frieden rückt ferner, wer noch da
       ist, soll zum Schweigen gebracht werden.
       
       Von den mehr als 2.212 Wissenschaftler*innen, die die Friedenspetition
       unterzeichnet hatten, kamen 652 vor Gericht, 137 sind mittlerweile
       verurteilt. Ihre Urteile sind noch nicht rechtskräftig. Worum es den
       Akademiker*innen für den Frieden eigentlich ging, brachte Füsun Üstel, die
       nun in Kürze die Haft antreten muss, in ihrer Verteidigung auf den Punkt:
       „Ich habe im Rahmen der Meinungs- und Pressefreiheit einen für alle
       Bevölkerungsgruppen gerechten und nachhaltigen Frieden gefordert.“
       
       Die Justiz und die Universitätsverwaltungen bewiesen in den drei Jahren bis
       zur Verurteilung von Füsun Üstel, dass sie sich von der Regierung steuern
       lassen. Die Friedenspetition richtete sich gegen die
       Menschenrechtsverletzungen, die in den Jahren 2015 und 2016 in den
       kurdischen Regionen begangen wurden. Am Tag ihrer Veröffentlichung
       verkündete Präsident Erdoğan, die Unterzeichnenden würden „dafür bezahlen“
       müssen. Das war der Anstoß für die Strafverfolgung.
       
       ## Der große Kahlschlag
       
       Gegen mehr als 600 Akademiker*innen für den Frieden wurden Verfahren wegen
       „Propaganda für eine Terrororganisation“ eingeleitet, mehr als 500 wurden
       zur Kündigung gezwungen, über 400 wurden aus dem öffentlichen Dienst
       ausgeschlossen, Pässe wurden eingezogen, Prozesse angestrengt. Einige
       Akademiker*innen konnten ins Ausland gehen.
       
       Die Anklageschrift behauptet ohne jeden Beweis Verbindungen zu einer
       terroristischen Vereinigung, die Vorwürfe wurden wegen Aussagen erhoben,
       die gar nicht im ursprünglichen Petitionstext standen. Der Friedensappell
       wurde als das Bestreben gewertet, die Türkei vor der internationalen
       Gemeinschaft schlechtzumachen. Wegen der Petition wurden mit derselben
       Anklageschrift Wissenschaftler*innen in mehr als 30 Prozessen zu
       Haftstrafen zwischen 15 und 36 Monaten verurteilt. Die Urteile sind jedoch
       noch nicht rechtskräftig.
       
       Diese Entwicklung verweist auf einen so großen Kahlschlag, dass er über
       Einzelschicksale gar nicht zu erfassen ist: Fakultäten, bekannt für ihre
       kritische Tradition, kam über Nacht praktisch das gesamte Lehrpersonal
       abhanden; Lehrstühle wurden mit Wissenschaftler*innen ohne jegliche
       Kenntnisse oder gar mit deren Verwandten besetzt, deren einziger
       „Pluspunkt“ es ist, auf Regierungsseite zu stehen.
       
       ## Akademische und politische Solidarität
       
       Mit der Atmosphäre der Einschüchterung, der Verurteilung zum Schweigen und
       dem Versuch, kritisches Denken auszulöschen, wurde ein mächtiger Stein in
       die Mauer gesetzt, die vor Geist und Verstand der nächsten Generationen
       hochgezogen wird. Dieser Tage wird die Saat für Generationen gelegt, die
       mit Populismus, Heldenrhetorik und Kriegstreiberei aufwachsen, ohne
       Lebensformen kennenzulernen, die sich von der eigenen unterscheiden.
       
       Doch die Akademiker*innen haben weder die Anschuldigungen hingenommen, noch
       ihre Verdrängung aus der Mitte der Gesellschaft. Die meisten nutzten ihre
       [2][Verteidigungsreden], um die Anklagebank in ein Pult zu verwandeln und
       dem Staat eine Lehre in Recht und Rechtsstaatlichkeit zu erteilen. Die Zeit
       außerhalb der Prozesse und der zum Lebensunterhalt notwendigen Jobsuche
       nutzten sie, um die Fundamente für alternative akademische Formen zu legen.
       
       Die einen gründeten gemeinsam [3][Solidaritätsakademien] und verwandelten
       städtische Parks und Plätze in Hörsäle. Andere riefen
       [4][Online-Universitäten] oder gemeinsame [5][Kulturzentren] ins Leben oder
       fanden andere Wege, um die Verbindung zu den Studierenden nicht abreißen zu
       lassen. Emigrierte Wissenschaftler*innen bildeten [6][Vereine], um
       akademisch und politisch Solidarität zu üben.
       
       Aus Protest gegen Füsun Üstels Haftstrafe haben Wissenschaftler*innen in
       aller Welt eine neue [7][Unterschriftenkampagne] ins Leben gerufen. In
       Deutschland wollen Ademiker*innen aus der Türkei das Schweigen brechen und
       am 19. März um neun Uhr eine Kundgebung auf dem Bebelplatz in Berlin
       abhalten.
       
       Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
       
       18 Mar 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://barisicinakademisyenler.net/node/62
   DIR [2] https://afp.hypotheses.org/ongoing-cases/excerpts-from-the-hearings
   DIR [3] https://bianet.org/english/human-rights/190281-solidarity-academies-to-start-new-academic-year
   DIR [4] https://off-university.com/
   DIR [5] http://www.kulturhane.org/tr/
   DIR [6] https://academicsforpeace-germany.org/2018/02/15/bak-almanya-dayanisma-akademisi-basliyor/
   DIR [7] https://secure.avaaz.org/en/community_petitions/Government_of_Turkey_Call_for_international_support_for_Fusun_Ustel_Turkish_academic_for_peace_facing_a_prison
       
       ## AUTOREN
       
   DIR İshak Eren
       
       ## TAGS
       
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