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       # taz.de -- Wohnungsnot in Deutschland: Umziehen? Nicht mit Hartz IV
       
       > Wenn die Kinder ausziehen oder der Vermieter mehr Geld fordert, wird für
       > viele Hartz-IV-Bezieher die Wohnung zu teuer. Günstige Wohnungen sind
       > selten.
       
   IMG Bild: Und wer hilft beim Umziehen? Das Amt eher nicht
       
       Leipzig taz | In einem Büro zwischen Plattenbauten am Leipziger Stadtrand
       sitzt Kathrin Rösler vor einer leeren Kaffeetasse und starrt kämpferisch in
       die Luft. Sie strahlt Humor aus, hat grau-weiß melierte Haare und berlinert
       entschieden in ihr Handy: „Wenn Sie zu dem Preis ’ne Vierraumwohnung
       bekommen, schnappen Sie sofort zu!“, redet sie auf den Anrufer ein. Sie
       telefoniert nur wenige Minuten, es hagelt Tipps und empfohlene nächste
       Schritte.
       
       „Schon wieder eener“, entschuldigt sie sich beim Auflegen. Kathrin Rösler
       ist Expertin für Umzüge mit Hartz IV – aus eigener Erfahrung. Vier Mal
       musste sie in den vergangenen sechs Jahren umziehen. Heute berät sie
       Menschen, denen Ähnliches droht.
       
       Die 55-Jährige hat lange als Autohändlerin gearbeitet, teilweise 16
       Stunden am Tag. Parallel hat sie drei Kinder allein großgezogen, bis zum
       Burnout. In Cottbus wohnte die Familie in einer Vierzimmerwohnung. Als ihre
       Kinder auszogen, durfte sie darin wohnen bleiben, weil die Wohnung billig
       war. „Sie lag auf der Südseite. Ich hab’ mit den Heizkosten gegeizt“,
       erzählt sie. Eine Möglichkeit, die nur in Städten mit besonders niedrigen
       Mieten möglich ist.
       
       Wenn Kinder aus Hartz-IV-Familien anfangen, ihr eigenes Geld zu verdienen,
       stehen sie oft vor einem Dilemma: Bleiben sie zu Hause wohnen, wird das
       Ausbildungsgehalt mit dem Regelbedarf verrechnet. Die Kinder arbeiten also
       fortan in Vollzeit, leben aber weiter prekär. Ziehen sie jedoch aus, ist
       die Wohnung besonders für alleinerziehende Elternteile aus Sicht der Ämter
       plötzlich zu groß, zu teuer – oder beides.
       
       Gleiches gilt für Menschen, die ihren Job verlieren. Nach einem Jahr
       Arbeitslosigkeit rutschen sie vom ALG I in Hartz IV und müssen sich nach
       den Kosten der Unterkunft (KdU) richten, die von der Stadt festgelegt
       werden. Wenige Euro über dieser örtlichen Mietobergrenze reichen schon,
       dann flattert der Brief ins Haus: Die Kosten müssen innerhalb von sechs
       Monaten gesenkt werden. Nicht selten bedeutet das den Auszug aus einem
       langjährigen Zuhause.
       
       Etwa 15 Menschen kommen wöchentlich zu Kathrin Rösler in die Beratung; die
       Hälfte davon hat wegen der Unterkunftskosten Streit mit dem Amt, schätzt
       sie. Eine offizielle Statistik, wie oft Menschen wegen der amtlichen
       Aufforderung zur Kostensenkung umziehen müssen, gibt es nicht. Die
       Bundesagentur für Arbeit verweist an die örtlichen Jobcenter; die wiederum
       erheben diese Zahlen gar nicht erst.
       
       Der Umzug, teilt das Jobcenter Köln in einer schriftlichen Stellungnahme
       mit, sei das letzte Mittel zur Kostensenkung und daher selten. Es werde
       immer zunächst nach Alternativen gesucht, etwa über die Nebenkosten. Wie
       bei Sozialberaterin Rösler also, was bedeutet, dass an heißem Wasser oder
       Heizungswärme gespart wird. Oder ein Teil der Wohnung untervermietet werden
       muss.
       
       Diesen Weg ist Maria Berger* gegangen. Die kurzhaarige Frau sitzt in ihrer
       winzigen Küche im linken Leipziger Stadtteil [1][Connewitz] und dreht sich
       eine Zigarette. Hier sind die Mieten zuletzt mit am schnellsten gestiegen,
       Graffiti an den Hauswänden klagen die Gentrifizierung an. Berger hat ihre
       Wohnung nur bekommen, weil sie damals noch einen Arbeitsvertrag bei einem
       öffentlichen Kulturbetrieb hatte.
       
       ## Der Hartz-IV-Antrag, ein traumatisches Erlebnis
       
       Elf Jahre habe sie nur für die Arbeit gelebt, 70 Stunden die Woche. Auch
       sie wurde vom [2][Burnout] ausgebremst. Bis heute plagen sie Panikattacken,
       nun aus Existenzangst. Das Datum, an dem sie ihren Antrag auf Hartz IV
       stellen musste, weiß sie noch genau: „Das war so ein traumatisches
       Erlebnis, das hab’ ich mir gemerkt.“
       
       Um die Wohnung halten zu können, brauchte sie einen Untermieter. Jetzt lebt
       die Mittvierzigerin in einer WG mit einem gleichaltrigen Mann. Echte
       Sicherheit bringt das nicht: „Man hört dauernd Geschichten, in denen das
       Amt vor der Tür steht, um die Wohnung zu kontrollieren, ob man nicht in
       einer Bedarfsgemeinschaft lebt.“ Was sie machen würde, wenn die Miete
       weiter erhöht würde? Berger schweigt lange, fährt sich mit der Hand durchs
       Gesicht. Dann sagt sie leise: „Darüber will ich lieber nicht nachdenken.“
       
       Vermieter dürfen innerhalb von drei Jahren die Miete – je nach Stadt –
       [3][um bis zu 20 Prozent anheben]. Doch die Kommunen erhöhen die
       Mietobergrenzen für Hartz IV wesentlich langsamer: In Leipzig gab es
       vergangenes Jahr die erste Anpassung seit vier Jahren, um 2,64 Prozent für
       Alleinstehende. Im gleichen Zeitraum sind die Mieten stadtweit im Schnitt
       um 20 Prozent gestiegen. Wer ohnehin selten heizt oder wessen Wohnung für
       einen Untermieter zu klein ist, dem bleibt so doch nur der Auszug. Oft eine
       Katastrophe für Betroffene, besonders auf angespannten Mietmärkten.
       
       In Städten wie Köln erlauben Jobcenter den Hartz-IV-EmpfängerInnen
       manchmal, den Mietüberhang von ihrem Regelsatz bezahlen, den sie jeden
       Monat zusätzlich zur Miete bekommen. 424 Euro beträgt der Regelsatz derzeit
       für Alleinstehende. Er muss für Essen, Fahrtkosten, Kleidung, Bildung und
       mehr reichen. Das Existenzminimum ist nicht für die Miete gedacht, die ja
       das Amt übernehmen soll. Trotzdem gibt e[4][[Link auf Beitrag 387281]] s
       Fälle, in denen Erwerbslose bis zu 100 Euro für die Miete abzwacken, um in
       ihrer Wohnung bleiben zu dürfen. Ein permanentes Leben am Limit.
       
       Rösler selbst durfte das nicht. Als ihre Miete um 26 Euro stieg, musste sie
       sich eine günstigere, kleinere Wohnung suchen. „Mit Glück finden Sie noch
       eine unsanierte Platte weit weg von Ihrem Kiez und Ihren Freunden, kaum
       günstiger als Ihre alte Wohnung“, sagt Rösler.
       
       Großstädte im Westen kennen die Verdrängung schon lange, der Osten war bis
       vor Kurzem eine Ausnahme. „Früher waren Vermieter froh, wenn das Amt die
       Wohnung bezahlte: Sie hatten regelmäßig ihr Geld und keinen Leerstand.
       Jetzt muss man sich weit hinten anstellen.“ Die Städte müssten dringend
       reagieren. „Wir haben sonst bald ganz viele Hartz-IV-Empfänger auf der
       Straße, weil sie die Mieten nicht mehr zahlen können.“
       
       Doch Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) lehnte noch im
       vergangenen Herbst eine weitere Erhöhung der Unterkunftskosten mit Blick
       auf andere Städte ab: In Dresden etwa sei damit „eine Spirale der
       Mietpreisentwicklung nach oben“ in Gang gekommen; erst im unteren
       Preissegment, dann in allen anderen.
       
       Und selbst wer eine Wohnung findet, dem eröffnet sich gleich das nächste
       Problem: Wie den Umzug bezahlen? Die Jobcenter haben dafür strenge Budgets,
       unterschiedliche regionale Detailregelungen und eine eigene Formulierung:
       Bezahlt wird im Regelfall nur ein „Umzug in Eigenregie“ – also ohne
       Unternehmen, stattdessen mithilfe von Familie und Freunden. Die Regeln
       dienen dem Schutz von Steuermitteln, sagen die Jobcenter Leipzig und Köln.
       Letzteres fügt hinzu: „In der Praxis sind sie eine Möglichkeit,
       Vergleichswerte für tatsächliche Kosten zu bekommen und einen fairen und
       reibungslosen Ablauf für alle zu gewährleisten.“
       
       Sozialberaterin Rösler erlebt das ständig: „Familie und Freunde sollen den
       Großteil stemmen. Die Sachbearbeiter sagen dann knallhart: Sie leben schon
       seit Jahren hier, kennen Sie da nicht wen? Egal, ob man 60 ist und alle
       Freunde auch.“ Für sich selbst musste sie Umzugskosten schon mal einklagen.
       
       Maria Berger ist auf 1.500 Euro Umzugskosten sitzen geblieben – trotz
       vorheriger Zusicherung. 200 Euro Umzugsbudget für Alleinstehende setzt das
       Amt an, pro weitere Person 50 Euro mehr. Jede Kleinigkeit muss vorher
       beantragt, abgesegnet und vorgestreckt werden: Packmaterial, Umzugshelfer,
       Wagenverleih. Wie viele Umzugskartons sind angemessen für ein ganzes Leben,
       das mit umzieht, und in welchen Wagen muss es passen? Die Antworten liegen
       im Ermessen einzelner Sachbearbeiter, die ihrerseits keine Telefonnummer
       herausgeben, sondern nur über die Mailadresse ihres Teams oder per Rückruf
       – bitte innerhalb von drei Tagen – erreichbar sind.
       
       Schwerkranke mit Attest können zwar die Umzugshilfe einer Spedition
       beantragen. Doch schon die Genehmigung dafür kann dauern. Und es kam
       bereits vor, dass Sachbearbeiterinnen nach wochenlangem Schweigen wenige
       Tage vor der Zwangsräumung die Kostenübernahme ablehnten und auf Eigenregie
       pochten: telefonisch, ohne Bescheid. Für gerichtlichen Widerspruch bleibt
       kaum Zeit: Alternativen müssen organisiert sowie erneut drei billige
       Transportangebote zum Selberfahren eingeholt werden.
       
       Eine Kölner Beraterin riet einer verzweifelten Erwerbslosen, deren
       günstiges genehmigtes Transportfahrtzeug zu klein war, sie müsse „eben mal
       ein bisschen ausmisten“ – am Tag vor ihrer Räumung. „Das ist erniedrigend“,
       sagt Kathrin Rösler.
       
       Maria Berger wohnt seit zwei Jahren in ihrer Wohnung, die jetzt eine WG
       ist. Kommt eine Mieterhöhung, kann es sein, dassbeidewieder weichen müssen.
       Sozialberaterin Rösler hat immerhin viel Erfahrungen mit rechtlichen
       Auseinandersetzungen: Die Jobcenter verlieren 40 Prozent aller Fälle, in
       denen gegen sie geklagt wird. Auch ihren Klienten kann Rösler so oft
       helfen. Doch die Sicherheit, einzuschlafen und morgen noch ein Recht auf
       ihr Zuhause zu haben, gibt ihnen das nicht.
       
       * Name geändert
       
       27 Mar 2019
       
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