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       # taz.de -- Jugendinitiativen fordern Mitbestimmung: Jede Jugendliche kann Greta sein
       
       > Die Jugend will endlich mitreden. Sie demonstrieren für Kinderwahlrecht
       > und Klimaschutz. Zu Besuch bei jungen Aktivist:innen mit mutigen Ideen.
       
   IMG Bild: In den Räumen des Jugendrats in Berlin wird an der Zukunft gebastelt
       
       Berlin und Stuttgart taz | Als Simon Marian Hoffmann, Jahrgang 1996,
       behütet aufgewachsen in einer 2.000-Seelen-Gemeinde, zum ersten Mal
       Weltschmerz verspürt, ist er zwölf Jahre alt. Damals zeigt ihm sein großer
       Bruder auf YouTube Videos von Naturkatastrophen, Krieg und Hunger. Simon,
       der Sohn einer Heilpflegerin und eines Lehrers, verstand damals, dass die
       Welt ungerecht ist, das Menschen leiden, weil andere Menschen schlechte
       Entscheidungen treffen, und er beschloss, etwas dagegen zu tun.
       
       Heute, zehn Jahre später, steht er auf dem Rathausplatz in Stuttgart und
       ruft in ein Mikrofon. „Es ist nicht fünf vor zwölf, es ist zwölf!“ Ein
       Freitagmittag, Anfang März. Morgens gab es keine Fridays-for-Future-Demo,
       darum haben sich auf dem Rathausplatz nur wenige Jugendliche versammelt.
       Zwischen einem Foodsharing-Tisch und fünf Bierbänken, auf denen Kleidung
       getauscht werden kann, steht Simon vor dem Rathausturm und rappt einen
       selbst komponierten Song. Die Boxen schicken seine Stimme so laut über den
       Platz, als wollten sie jede der angrenzenden Gassen mit seiner Botschaft
       fluten. „Es ist Zeit für das Jüngste Gericht! Jugend auf die Barrikaden,
       wir erobern das System, weil wir sonst keine Zukunft haben!“
       
       Eine ganze Generation ist wütend, deutschlandweit, europaweit, weltweit.
       Sie ist wütend auf das System, die Politik und die Erwachsenen. Seit
       Monaten sind die Aktivisten der Fridays-for-Future-Bewegung in den Medien.
       Sie sind laut, und sie sind viele. Am Freitag [1][in Berlin etwa waren rund
       25.000 junge Menschen auf der Demo]. Greta Thunberg war auch da, sie sprach
       nur zwei Minuten und gab ihnen auf den Weg: „Wir wollen eine Zukunft, ist
       das zu viel verlangt?“ Das sei erst der „Anfang vom Anfang“.
       
       Viele Jugendliche sehen das genauso. Sie wollen mehr. Etwa Gerechtigkeit
       zwischen den Generationen. Aber bisher hört ihnen kaum jemand zu. Woran
       liegt das? Wer sind diese Jugendlichen; und was genau wollen sie?
       
       ## „Für das Studium bleibt kaum Zeit“
       
       Morgens, vor dem Auftritt am Rathaus, sitzt Simon mit Freunden am
       Frühstückstisch. Simon, 22 Jahre alt, wilde; braune Locken, ist der Gründer
       der Demokratischen Stimme der Jugend (DSDJ), einem überparteilichen Verein,
       der seit 2016 versucht, der Jugend eine Stimme zu geben. Seine Freunde,
       Mitgründer und Mitglieder des Vereins: Marianne, 19, Ansgar, 21, und Tracy,
       21. Die Jugendlichen gehen sehr herzlich miteinander um, Umarmungen dauern
       länger als gewöhnlich, die Augen leuchten, wenn sie von ihrer Arbeit
       erzählen. Wenn einer spricht, nicken die anderen zur Bestätigung. Diese
       Gruppe ist ein Team.
       
       Auf dem Tisch: vegane Brötchen, naturtrüber Apfelsaft und der Plan für
       heute. „11 Uhr die Performance am Rathausplatz, 14 Uhr die Demo zum Thema
       Kinderwahlrecht, bei der wir durch die Stadt ziehen, 19 Uhr unser
       performativer Vortrag im Willi-Bleicher-Haus“, sagt Simon. Die
       Vorbereitungen für diesen Tag laufen seit Wochen. Die Jugendlichen vom
       Verein machen alles allein: Stiftungsgelder beantragen, die Website
       bespielen, die Genehmigungen für Kundgebungen und Performances beantragen,
       die Buchhaltung machen, Musikvideos drehen, Workshops veranstalten,
       Vorträge halten. Die Altersgrenze im Verein ist 28 Jahre.
       
       „Wir wollen das allein schaffen, es soll alles aus uns kommen und nicht von
       Erwachsenen gelenkt oder beeinflusst werden“, sagt Simon. Von der Jugend
       für die Jugend. „Die Jugend“, sagt Simon, seien alle 14- bis 28-Jährigen,
       da halte sich der Verein an die Forschung. Gleichzeitig sei man aber auch
       offen für die „geistige Jugend“. Erwachsene seien nicht die Feinde, soll
       das heißen – das ist Simon wichtig.
       
       Die DSDJ hat ungefähr 50 Mitglieder, 20 davon sind aktive Mitglieder, der
       harte Kern ist heute in Stuttgart. Wie viel Zeit sie investieren? „Jeden
       Tag sechs Stunden, manchmal mehr“, sagt Marianne. Sie macht dieses Jahr
       Abitur an einer Waldorfschule. Ihre Eltern unterstützen sie bei ihrem
       Engagement. Heißt: Sie darf ihre Energie in den Verein stecken. Simon und
       die anderen studieren. „Für das Studium bleibt kaum Zeit. Die Arbeit für
       den Verein hat gerade einfach Priorität“, sagt Simon.
       
       ## „Aufstand der Jugend“ in Stuttgart
       
       Die Turmuhr am Rathaus zeigt 13.35 Uhr, aus den Seitengassen fahren vier
       Polizeiautos auf den Platz. Doch für die wenigen Jugendlichen sind vier
       Autos zu viel, zwei fahren wieder ab. Für ihre Performance haben die
       Jugendlichen zwei Sänften mitgebracht. Stühle, die auf Latten geschraubt
       wurden und nun von Jugendlichen auf den Schultern durch die Stadt getragen
       werden. „Wir wollen zeigen, dass die Fehler der Erwachsenen auf unseren
       Schultern lasten“, sagt Tracy.
       
       In Berlin hatten sie diese Aktion schon einmal gemacht, im vergangenen
       September. 100 Jugendliche trugen damals Erwachsene auf diesen Sänften
       durch die Stadt bis zum Brandenburger Tor. „Aufstand der Jugend“ haben sie
       diese Kampagne genannt. Heute fehlen die Erwachsenen auf den Stühlen,
       Simon, Tracy und die anderen konnten keine Freiwilligen finden. Dafür
       kleben nun Plakate auf den Stühlen, auf dem einen steht „CO2“ auf dem
       anderen „Plastik“.
       
       Schwarze Klebebandstreifen werden verteilt, mit denen die Jugendlichen sich
       den Mund zukleben und schwarze Karten aus Pappe. Der Plan: Mit der Last
       durch die Innenstadt zu laufen, geknebelt durch das Klebeband, das die
       Gesellschaft symbolisiert, die der Jugend ein Mitspracherecht verweigert.
       Später auf der Königsstraße, der Einkaufspassage von Stuttgart, soll sich
       jeder dieses Klebeband vom Mund reißen. Nach und nach dürfen dann alle dem
       „System“ die schwarze Karte zeigen und sagen, wogegen er oder sie hiermit
       protestieren will.
       
       „Habt ihr alles verstanden?“, fragt Simon. Reihum stummes Nicken aus
       Gesichtern mit verklebten Mündern und entschlossenen Blicken.Ein Polizist
       steigt aus dem Auto und tippt auf seine Uhr. „Wir müssen los.“ Die
       Jugendlichen schultern die Sänfte und gehen los. Die meisten tragen dunkle
       Kleidung, der Anblick erinnert an eine Bestattung. Der Zug der Jugendlichen
       schlängelt sich durch fast menschenleere Gassen, vorbei an Bürogebäuden und
       Hintereingängen von Restaurants. Nach 400 Metern landet der Zug auf der
       Königsstraße. 15 Jugendliche tragen zwei Sänften und bewegen sich stumm
       durch das Gewusel der Freitagsshopper.
       
       ## Jugendliche fordern das Kinderwahlrecht
       
       Was diese Performance sagen will? Wir tragen die Konsequenzen, also lasst
       uns auch mitreden. „Kinder und Jugendliche sollen, wollen und können
       Verantwortung übernehmen“, sagt Simon. Verantwortung im demokratischen
       Prozess funktioniere durch Wählen. Darum fordert der Verein ein Wahlrecht
       für Kinder und Jugendliche. „Generationengerechtigkeit“, sagt Simon,
       bedeute, dass niemand mehr aufgrund seines jungen Alters benachteiligt
       wird. Nirgendwo dürfe man als junger Mensch wirklich mitbestimmen, nicht
       mal in Bereichen, die einen am meisten betreffen.
       
       In der Schule lernt man, was die Lehrer sagen, zu Hause tut man, was die
       Eltern für richtig halten. In der Welt ist man immer abhängig von den
       Entscheidungen Erwachsener. Kindern würde man beibringen: „Werde erst mal
       erwachsen, dann darfst du mitspielen“, sagt Simon. Das Erwachsensein werde
       postuliert wie eine Hürde, die man erst nehmen müsse, um mitentscheiden zu
       dürfen und von der Gesellschaft als echtes Mitglied anerkannt zu werden.
       
       Der Vorwurf, dass alte Menschen Politik für alte Menschen machen, ist nicht
       neu. Deutschland ist nach Japan das Land mit der ältesten Bevölkerung
       weltweit. Bei den Politikern im Deutschen Bundestag liegt das
       Durchschnittsalter bei ungefähr 50 Jahren. Ein Kinderwahlrecht könnte ein
       Gegengewicht sein. Der Versuch junge Themen und junge Menschen in die
       Politik zu bringen. Das ist es, was die DSDJ sich davon verspricht.
       
       Zurück auf der Königsstraße, die Sänften sind abgelegt, die Jugendlichen
       haben sich in einer Pyramide mitten auf der Einkaufsmeile aufgestellt. Ein
       Megafon wird herumgereicht: „Ich zeige meine Schwarze Karte gegen
       Kinderarbeit“, sagt eine Jugendliche mit blonden Locken und zittriger
       Stimme. „Ich bin gegen Mietwahnsinn“, sagt ein anderer. „Gegen das
       Patriarchat!“, ruft Simon in das Mikrofon. Es fallen große Begriffe wie:
       Drohnenkrieg, Hunger, Altersarmut, Fremdenhass, Obdachlosigkeit.
       
       ## Auf dem Treffen des Jugendrats
       
       All das sind große Worte, die für noch größere und komplexe Probleme
       stehen. Die Abschaffung all dieser Missstände ist so konsensfähig wie der
       Weltfrieden, aber eben auch genauso abstrakt. Die Jugendlichen sind
       dagegen. Aber was bedeutet Dagegensein? Was soll die Politik ändern? Es
       wird in dieser Performance keine konkreten Handlungsvorschläge geben, aber
       darum soll es auch nicht gehen, wie Simon später erklären wird.
       
       Viele Passanten sind stehengeblieben. Einige klatschen. Ein junger Mann,
       graue Jogginghose, Bauchtasche und Nikes, bleibt stehen. Später wird er zu
       Simon gehen und sagen: „Ich find’s gut, was ihr hier macht.“ Für die
       Performance gibt es viel Zustimmung, aber auch vereinzelt abschätziges
       Gemurmel. „Was für Idioten“, hört man aus einer Gruppe junger Männer. Dabei
       sind Simon und seine Freunde nicht die Einzigen, die ein Kinderwahlrecht
       fordern. Viele Initiativen, Vereine und Stiftungen sehen dieses Recht als
       ersten Schritt zur Generationengerechtigkeit. Sie alle kämpfen dafür – nur
       auf unterschiedliche Weise.
       
       Ein Samstag, Mitte März, in einem lichtdurchfluteten Raum im Prenzlauer
       Berg. Auf dem Tisch: drei gelbe Tulpen in einer Vase, viele Flaschen
       Rhabarberschorle und eine Mehrfachsteckdose, aus denen sich Kabel zu 12
       Laptops schlängeln. Dahinter sitzen Franzi, 19, aus Heidelberg, die
       konzentriert in ihren Laptop starrt, Lucie, 22, aus Leipzig, die gerade
       einen Gedanken in die Tasten hackt, damit sie ihn nicht vergisst. Da sitzt
       Simon, 16, Schüler aus Oranienburg, Nikolaus, 19, Student aus Berlin, neben
       ihnen im Kreis noch acht andere Jugendliche, die aus der ganzen Republik
       angereist sind.
       
       Hier trifft sich der Jugendrat der Generationen Stiftung und diskutiert
       ebenfalls über das [2][Kinderwahlrecht]. Bald sind Europawahlen, man
       braucht eine Forderung, die zeitnah veröffentlicht werden kann und
       Aufmerksamkeit erzeugt. Hannah Lübbert, blonde Locken, 18 Jahre alt, ist
       seit vier Monaten im Jugendrat. An diesem Tag sitzt die Studentin mit ihren
       Kollegen zusammen und wartet, bis sie an der Reihe ist. Es gibt eine
       Redeliste, alle lassen einander aussprechen.
       
       ## Zwischen Polittalkshow und Jugendsprache
       
       Gesammelt werden die Argumente für das Kinderwahlrecht auf einem Flipchart.
       „Gegengewicht zum demografischen Wandel“, „13 Millionen U18-Jährige derzeit
       ausgeschlossen“ und „Die Jugend ist am längsten von politischen
       Entscheidungen betroffen“ steht da. Die Argumente sind dieselben wie am
       Frühstückstisch der Demokratischen Stimme der Jugend. Als Hannah an der
       Reihe ist, sagt sie: „Kinder und Jugendliche haben einen ganz eigenen
       Erfahrungshorizont, der endlich anerkannt werden sollte.“ Die Berlinerin
       hatte vor vier Monaten ein Plakat des Jugendrats gesehen. Sofort hatte sie
       sich als Mitglied beworben. Die Fridays-for-Future-Bewegung habe ihr
       bewusst gemacht, dass sie etwas tun müsse: für die Welt, für alle Kinder
       und Jugendlichen.
       
       Am Tisch diskutieren Hannahs Kollegen weiter. Die 22-jährige Lucie spricht
       von der Diskriminierung von Kindern im Alltag. Zwei andere Kolleginnen
       wackeln mit ihren Händen in der Luft, stille Zustimmung. Die Diskussion
       klingt stellenweise nach Polittalkshow oder Bundestagsdebatte, „die Jugend
       muss ihre emanzipatorische Kraft entfalten“ oder „das ist eine
       besorgniserregende Korrelation“ hört man da. Ab und an fallen dann doch
       Wörter, die man in einem Raum voller Jugendlichen erwarten würde: „richtig
       cool“, „bullshit“ und „mega“.
       
       Der Jugendrat wurde 2018 von der Generationen Stiftung ins Leben gerufen.
       Der erwachsene Vorstand der Stiftung ist gut vernetzt und versucht
       gemeinsam mit den Jugendlichen größtmögliche Aufmerksamkeit für deren
       Belange zu generieren: Interviews mit Medien, Treffen mit
       Entscheidungsträgern, Dialog mit Politikern. „Wir verstehen uns als die
       Lobby der Jugend“, sagt Hannah, „darum denken wir bei unseren Kampagnen
       auch immer die öffentliche Wirkung mit.“
       
       Die erste Kampagne des Jugendrats, die seit November 2018 läuft, heißt „Wir
       kündigen“ und meint den Generationenvertrag. Plakate mit neonroter
       Aufschrift hängen überall an den Wänden. Die ältere Generation sei
       unverantwortlich mit der Welt und der Zukunft umgegangen und haben so den
       Generationenvertrag gebrochen, heißt es im Manifest. Die Jugend wolle daher
       ihren Teil der Vereinbarung, die Renten der Alten zu zahlen, nicht mehr
       halten und ihn aufkündigen. Das ist die Idee.
       
       ## Konkrete Vorschläge gibt es nicht
       
       Neben der Kündigung des Generationenvertrags fordert der Jugendrat in
       seinem Manifest unter anderem eine humane Migrationspolitik, das Ende von
       Kinderarmut, ein zukunftsfähiges Rentensystem und den Stopp aller
       Kriegswaffenexporte. Konkrete Vorschläge gibt es, wie bei der DSDJ, keine.
       
       Die Performance auf der Königsstraße soll Jugendlichen vor allem die
       Möglichkeit geben, „ihre eigene Selbstwirksamkeit zu erfahren“, sagt Simon.
       „So lernt man, dass man gehört wird.“ Die Überwindung der Angst, öffentlich
       seine Sorgen und Vorwürfe auszusprechen, sei eine unglaubliche Erfahrung.
       „Jeder kann eine Greta Thunberg sein“, sagt Simon. Alle, die irgendwann
       einmal mit Gleichgesinnten für oder gegen etwas eingestanden sind, wissen
       was Simon meint. Die Möglichkeit, selbst wirksam zu werden, ist ein
       Grundpfeiler der Demokratie. Aber für politische Veränderungen braucht es
       Masse. Wie erreicht man die?
       
       [3][Luisa Neubauer, 22, Klimaaktivistin und Hauptorganisatorin] der
       deutschen Fridays-for-Future-Bewegung sagt, dass Selbstwirksamkeit zwar
       wichtig sei, aber nicht das Ziel von Protesten sein sollte. „Natürlich
       fühlt es sich an wie ein Erfolg, wenn man mit vielen Menschen gemeinsam auf
       der Straße steht“, sagt sie, „aber das ist ein Scheinerfolg. Erst wenn sich
       auf der politischen Ebene etwas ändert, haben wir gewonnen.“ Und dafür
       brauche es vor allem eines: Aufmerksamkeit.
       
       Am Telefon nimmt sie sich Zeit zwischen zwei Terminen, ihre Stimme klingt
       müde. Seit Monaten ist sie zu Gast in Talkshows, spricht auf Kongressen
       oder organisiert Demos. Sie hat die Aufmerksamkeit des ganzen Landes. Sie
       redet und streitet und kämpft. „Aufmerksamkeit ist sehr wichtig, zum einen,
       um den Druck auf die Politik zu erhöhen, und zum anderen, um noch mehr
       Menschen für die Sache zu mobilisieren“, sagt Luisa Neubauer.
       
       ## Klimaaktivismus ist nicht nur Jugendsache
       
       Sie weiß, dass die Jugendlichen von der DSDJ dabei ganz von vorne anfangen
       müssen. Während die Fridays-for-Future-Bewegung bereits eine Lobby hat –
       denn Klimaaktivismus ist nicht nur Jugendsache –, hat es die DSDJ schwerer.
       Sie muss erst mal ohne eine Lobby um Unterstützung für ihre Belange
       kämpfen. Wirtschaftlich und politisch gibt es kaum Rückhalt, anders als
       beim Klimathema. „Beim Thema Jugend hat man viel weniger Verbündete“, sagt
       Luisa, „das macht den Weg zur Aufmerksamkeit härter und länger.“
       
       Abends im Willi-Bleicher-Haus haben Simon und die anderen einen Vortrag
       vorbereitet, bei dem man schnell merkt, dass Aufmerksamkeit tatsächlich ein
       seltenes Gut sein kann. Der Saal bietet mit seinen 25 Reihen Platz für über
       400 Zuschauer. Als die Lichter gedimmt werden und der Vortrag beginnt, sind
       fünf Reihen lose besetzt: Jugendliche vom Verein, deren Familien und ein
       paar externe Besucher. Was sie zu sagen haben, sagen Simon und Marianne
       trotzdem so, als würde ihnen die ganze Welt zuhören. Sie zitieren Studien
       und Experten, ziehen Vergleiche zu globalen Jugendbewegungen oder
       politischen Entscheidungen der Vergangenheit. Viel Gefühl, manchmal
       überschreitet es die Grenze zum Pathos, aber die Jugendlichen glauben an
       das, was sie sagen.
       
       Neben dem Kinderwahlrecht fordern sie auch einen deutschen Jugendrat. Die
       Mitglieder sollen aus allen Jugendlichen im Land ausgelost werden, Amtszeit
       ein Jahr. Alle jungen Menschen sollen die Chance haben, Teil davon zu
       werden. Die DSDJ verspricht sich so Chancengleichheit und Diversität.
       Bisher besteht der Verein hauptsächlich aus Jugendlichen der oberen
       Mittelschicht, viele studieren, alle machen noch oder haben schon Abitur.
       Wie kann man für die ganze Jugend sprechen, wenn alle aus derselben
       Lebenswelt kommen? „Wir wissen, dass wir alle privilegiert sind“, sagt
       Simon. Der Verein versuche auch Jugendliche mit anderem Hintergrund für die
       Arbeit zu begeistert, bisher sei das noch nicht so richtig gelungen.
       
       Auch im Jugendrat der Generationen Stiftung sitzen Jugendliche, die aus
       einer ähnlichen Lebenswelt kommen. Den Azubi aus der Kfz-Werkstatt oder die
       Drogeriemarktkassiererin trifft man hier nicht. Die meisten absolvieren ein
       Studium, einige stehen kurz vor dem Abitur. Sie sind alle auch außerhalb
       des Jugendrats politisch aktiv. Manche für NGOs, einige für Parteien. Ist
       diese Homogenität ein Problem? „Wir haben neulich erst darüber diskutiert,
       dass wir das schwierig finden“, sagt Hannah. Der Jugendrat wolle ja
       schließlich für alle sprechen. Und die Lösung? Das weiß auch diese Gruppe
       nicht. „Wir versuchen unsere Forderungen so allgemeingültig wie möglich zu
       formulieren“, sagt Hannah, „sodass sich möglichst viele damit
       identifizieren können.“ Aber ist das wirklich sinnvoll?
       
       ## Mobilisierung durch klaren Themenschwerpunkt
       
       Bewegungsforscher sagen, den Fridays-for-Future-Protesten sei eine so große
       Mobilisierung gelungen, weil sie einen klaren Themenschwerpunkt hat: das
       Klima. Das Thema ist konkret, sehr niedrigschwellig und betrifft jeden.
       Versucht man das verbindende Element einer Bewegung nicht aus dem Thema,
       sondern aus etwas anderem zu schöpfen, wird es schwierig. Kann man
       Jugendliche zusammenbringen, nur weil sie Jugendliche sind? Und das mit so
       vielen verschiedene Forderungen, wie sie der Jugendrat oder die DSDJ haben?
       Die Forschung sagt, dass eine soziale Bewegung immer eine kollektive
       Identität braucht. Die Idee einer Generation, die gegen die Alten aufsteht,
       scheint da fast ein wenig zu abstrakt.
       
       Gleichzeitig braucht es überhaupt einen Grund, um zu protestieren. Und der
       ist meistens Unzufriedenheit. Luisa Neubauer sagt, dass die
       Fridays-for-Future-Bewegung so groß geworden sei, weil man nichts erklären
       musste; die Unzufriedenheit, die Angst und die Wut über die
       Fehlentscheidungen der Politik waren schon da. „Jugendlichen beizubringen,
       out of the box zu denken, damit sie erkennen, was für die Jugend
       schiefläuft, wer Schuld daran ist und wie es besser sein könnte“, sagt sie,
       „das ist unglaublich schwer zu kommunizieren.“
       
       Genau das versuchen Simon mit seinem Verein und Hannah mit dem Jugendrat zu
       schaffen – auf unterschiedliche Weise. Die einen eher auf der Straße, an
       der Basis, die anderen mehr über die Presse und im direkten Gespräch mit
       Entscheidungsträgern.
       
       In dem großzügigen Büroraum der Generationen Stiftung fällt einem zwischen
       dem professionellen Flipchart, der vollgepinnten Magnettafel und all den
       Kampagnenplakaten vieles auf, was anders ist als beim DSDJ, die sich zu
       Hause bei Marianne treffen und überlegen muss, ob und wie sie eine Kampagne
       und die Flyer dazu bezahlen kann. Bei der Generationen Stiftung bieten
       Erwachsene Unterstützung durch finanzielles Backup und obendrauf ein
       Netzwerk an mächtigen Kontakten zu Politikern, Forschern und Medien. Die
       Infrastruktur ist schon da, und die Jugendlichen können in einem
       gesicherten Rahmen ihre Ideen umsetzten. Inhaltlich ähneln die meisten
       ihrer Forderungen denen von Simon und seinen Freunden.
       
       ## Gefahr einer Alibibeteiligung
       
       Julia Hartwig-Selmeier von der Generationen Stiftung ist bei dem Treffen
       des Jugendrats die einzige Erwachsene im Raum. Sie sagt, ohne dass man sie
       danach fragt, dass die Idee der DSDJ, einen deutschen Jugendrat zu
       installieren, ihre Schwächen habe. In der geplanten einjährigen Amtszeit
       könne kaum etwas tiefgründig ausgehandelt werden. „Es besteht die Gefahr
       einer Alibibeteiligung der Jugendlichen, bei der sie nicht wirklich etwas
       mitentscheiden dürfen“, sagt sie. Auch das Losverfahren sieht sie kritisch.
       Es könnten Leute ohne Elan und ohne genug Grundwissen in den Jugendrat
       kommen, befürchtet Hartwig-Selmeier.
       
       Hannah sitzt still daneben. Fragt man sie nach ihrer Meinung, sagt sie:
       „Ja, eine Alibibeteiligung als Ausrede für die Politik wäre blöd.“ Die
       Jugend brauche eher jüngere Politiker im Parlament. Da ist sie wieder, „die
       Jugend“. Alle handeln im Namen der Jugend, haben aber unterschiedliche
       Vorstellungen. Ist das ein Problem? Nein, findet Hannah. „Vielfalt ist
       wichtig, wir müssen uns nicht in allen Themen einig sein“, sagt sie, „aber
       unser Grundkonsens ist Zukunftsfähigkeit.“ Und während Hannah das sagt,
       klingt sie wie die Pressesprecherin eines Großunternehmens. Sie lächelt
       kurz, als würde sie es selber merken. Was Zukunftsfähigkeit bedeutet,
       bleibt offen.
       
       Die Antwort von Simon Marian Hoffmann ist ähnlich, außer dass er nichts von
       gegenseitiger Kritik hält. Es sei gut, dass es viele verschiedene
       Institutionen gäbe, die sich mit unterschiedlichen Themen
       auseinandersetzten. Er würde sie jedoch gern bündeln. Am besten auf einem
       Kongress. Das ist der ganz große Zweijahresplan seines Vereins: alle
       Jugendinitiativen, Vereine, Stiftungen und Interessenverbände an einen
       Tisch zu bekommen. Dann könne sich die ganze Kraft der Jugend entfalten.
       Ist das nicht utopisch? „Wenn man keine Visionen hat, gehen sie auch nicht
       in Erfüllung“, sagt Simon.
       
       29 Mar 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Shell-Jugendstudie 2019: Optimistisch, auch populistisch
       
       Jugendliche legen viel Wert auf Umwelt- und Klimaschutz – das zeigt eine
       Studie. Gleichzeitig finden auch rechtspopulistische Aussagen Zustimmung.
       
   DIR Schüler*innenstreiks für das Klima: Future ohne Fridays?
       
       Wie es mit „Fridays for Future“ weitergehen könnte? Darüber diskutieren
       drei taz-Schülerpraktikant*innen, die mitdemonstriert haben.
       
   DIR Kommentar „Fridays for Future“: Kulturwandel als Ziel
       
       Die „Fridays for Future“-Organisatoren haben konkrete Forderungen
       bekräftigt. Wichtiger ist: Sie sind dabei, die kulturelle Hegemonie zu
       gewinnen.
       
   DIR Plakatkunde bei Fridays For Future: Dumbledore würde es nicht zulassen
       
       Bei Fridays For Future zeigt sich: Die jungen Leute können Englisch und sie
       kennen ihren Seneca. Sorgen wegen Unterrichtsausfalls sind unbegründet.
       
   DIR SchülerInnenstreik „Fridays For Future“: Berlin feiert Greta
       
       Die Initiatorin der Klimastreiks kommt zur bislang größten
       „FridaysForFuture“-Demo. Immer mehr Erwachsene gehen auch auf die Straße.
       
   DIR Studie über Klimastreikende: Schlaue linke Greta-Fans
       
       ProtestforscherInnen haben analysiert, wer für das Klima auf die Straße
       geht. Die Streikenden sind nicht nur SchülerInnen und überwiegend weiblich.
       
   DIR Klimaaktivistin bei „Hart aber fair“: Unverständnis mit Porsche
       
       In der Talkshow „Hart aber fair“ ist die Klimaaktivistin Luisa Neubauer die
       jüngste und vernünftigste Stimme. Die Generation 50+ wirkt ratlos.