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       # taz.de -- Debütroman „Milchzähne“: Auf der anderen Seite
       
       > Die 25-jährige Autorin Helene Bukowski beschreibt eine verrohte Welt. Sie
       > erzählt geschickt, wie Menschen zu Fremden gemacht werden.
       
   IMG Bild: Aua: In „Milchzähne“ geht es auch um eine verquaste Mutter-Tochter-Beziehung
       
       Sie sucht nach einem Halt, einer Begrenzung für den Blick, aber vor Skalde
       liegt das weite Meer, in Nebel gehüllt. Die junge Ich-Erzählerin in Helene
       Bukowskis Debütroman „Milchzähne“ kommt nämlich aus einer beengten Welt,
       und sie ist diese Weite nicht gewohnt. Sie ist auf der Flucht, das Meer
       eine Station – die Szene ist der Ausgangspunkt des Romans, der sich als
       rückblickendes Erinnern entfaltet: „Mithilfe der Notizen will ich das, was
       passiert ist, in die richtige Reihenfolge bringen. Ich werde erzählen, wie
       ich es erlebt habe, denn es soll meine Geschichte sein.“
       
       Es ist zunächst die Geschichte von Skalde, dem Mädchen, und ihrer Mutter
       Edith, die als Außenseiterinnen von einer Gemeinschaft geduldet werden, die
       sich entschlossen hat, Fremde auszuschließen: Die Gegend ist nicht näher zu
       bestimmen, es gibt einen reißenden Fluss, die Verbindung zur anderen Seite
       haben die Leute schon vor Jahren gekappt, indem sie die Brücke sprengten.
       So fühlen sie sich sicher in einer Welt, die sich bedrohlich verändert hat.
       Die Klimakrise ist fortgeschritten, die Landschaft ausgetrocknet, weniger
       fruchtbar. Die Menschen überleben als Selbstversorger und betreiben
       Tauschhandel.
       
       Das erfahren die Lesenden aber erst peu à peu. Die 25-jährige Autorin
       entfaltet den Schauplatz ihrer Erzählung und die Lebensverhältnisse ihrer
       Figuren langsam. Sie schafft von Beginn an eine Atmosphäre zwischen
       Vertrautem und verstörender Irritation. Zunächst scheinen Edith und Skalde
       ganz allein zu sein, so verlassen wirken sie in ihrem Haus. Jenseits der
       Gartenhecke beginnt für das Kind Skalde verbotenes Terrain. Zu fürchten
       sind aber keine wilden Tiere des Waldes, sondern die anderen Menschen. Denn
       Edith schaffte es vor langer Zeit, den Fluss schwimmend zu überqueren. Sie
       durfte nur bleiben, weil ein Ansässiger sie aufnahm. Seit seinem Tod sind
       sie und die gemeinsame Tochter unter Beobachtung.
       
       Die Mutter-Tochter-Beziehung ist unter diesen Umständen besonderen
       Zerreißproben ausgesetzt. Edith behauptet ihre Außenseiterposition trotzig,
       mit nach außen vertretener Stärke. Die Tochter sucht phasenweise nach
       Anschluss in der Gemeinschaft, was die Mutter als Verrat empfindet. Helene
       Bukowski zeichnet Edith mit Ambivalenz: Ihre Härte gegenüber Skalde macht
       sie unsympathisch, ihre phasenweise Apathie erscheint verantwortungslos –
       doch beides wird auch als Zeichen von Verzweiflung und Resignation lesbar.
       Hier offenbart sich eine große Einfühlung der Autorin, die in einer klaren
       Sprache und mit oft wenigen Sätzen starke Szenen zeichnet, welche die
       Empfindungen ihrer Figuren zum Ausdruck bringen. Etwa wenn Edith sich
       tagelang im riesigen Kleiderschrank verschanzt und die darin tapezierten
       Bilder ihrer Heimat betrachtet: das Meer, Möwen, Strand. Die vertraute und
       verlorene Landschaft ist ihre einzige Quelle für Zugehörigkeit.
       
       ## Das Kind, man will es hier nicht
       
       Die Frage nach Zugehörigkeit und Ausschluss umkreist Bukowski auf vielfache
       Weise. Als Skalde im Wald ein rothaariges Kind, ein Mädchen findet und sich
       für dessen Rettung entscheidet, verdichtet sich dieses Motiv noch. Ihre
       Humanität ist in der verrohten Welt, die Bukowski zeichnet, unerwünscht.
       Selbst Edith, die Ähnliches erfahren hat, selbst Len und Gösta, zwei alte
       Frauen und einzige Verbündete Skaldes, wehren das Kind zunächst ab – weil
       sie die Konsequenzen für sich fürchten.
       
       „Geduckt in der offenen Landschaft stehend, wärst du trotzdem nicht
       unsichtbar, denn sie haben hier gelernt, Abweichungen auch mit
       geschlossenen Augen zu bemerken“, so lautet eine der eingangs erwähnten
       Notizen Skaldes, die den Kapiteln oft vorangestellt sind. Feuerrote Haare
       sind kein bisschen unsichtbar und niemand aus „der Gegend“ hat solche: Das
       Kind Meisis ist klar als nicht zugehörig markiert. Man will es hier nicht.
       Es wird nur Schlechtes bringen.
       
       Es ist ganz erstaunlich, wie es Bukowski gelingt, ihre gar nicht so
       handlungsstarke Geschichte so mitreißend und berührend zu erzählen. Die
       Dynamik entfaltet sich in den Verhältnissen der Figuren untereinander und
       in ihrem Inneren. Wie Skaldes Entscheidung für das Kind sich festigt,
       gerade angesichts der schleichend zunehmenden Bedrohung durch die anderen.
       Wie das die verhärtete Beziehung zu Edith verändert. Und das Trio zu einer
       neuen Familie wird, indem Bindungen wachsen. Und schließlich sogar Mut. Mut
       zur Flucht.
       
       Helene Bukowski erzählt sehr explizit vom Funktionieren der Angst vor dem
       angeblich Fremden, davon, wie Menschen zu Fremden gemacht werden. Die darin
       liegende gesellschaftspolitische Aktualität scheint dabei ganz
       unangestrengt Ausgangspunkt ihres beeindruckenden literarischen Erzählens
       zu sein.
       
       14 Apr 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carola Ebeling
       
       ## TAGS
       
   DIR Debütroman
   DIR Mutter-Tochter-Beziehung
   DIR Fremdsein
   DIR Roman
   DIR Katharina Mevissen
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