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       # taz.de -- Politischer Wandel in Nordafrika: Arabellion, die nächste
       
       > Das Drehbuch der Aufstände in Algerien und im Sudan kennen wir schon aus
       > Syrien und Ägypten. Oder doch nicht?
       
   IMG Bild: Sind die Umbrüche in Algerien und im Sudan ein freudiges Déjà-vu?
       
       Die arabische Autokratenwelt schien in Ordnung zu sein, so glaubte man. In
       Syrien gewann [1][Diktator Assad] mithilfe des Irans und Russlands die
       Oberhand. In Ägypten lässt der ehemalige Militärchef Abdel Fattah al-Sisi
       die Rolle des Militärs als höchste Autorität in der Verfassung
       festschreiben. In den Golfstaaten wurden die alten Autokraten durch eine
       noch skrupellosere junge Kronzprinzengarde ersetzt. Dem saudischen
       Thronfolger Mohammed bin Salman scheint selbst der Mord an dem
       Journalisten Jamal Khashoggi nichts anhaben zu können.
       
       Mit Ausnahme Tunesiens hatte die arabische Welt zwei Aussichten:
       fortwährendes Chaos, [2][wie etwa in Libyen], oder die eiserne Faust eines
       Diktators, der für Ordnung sorgt. Und auch im Westen blieb die Rolle der
       arabischen Diktaturen ungebrochen. Sie verkaufen sich dort weiter als
       Garanten der Stabilität, als Antiterrorkämpfer und neuerdings auch als
       Partner in der Flüchtlingspolitik.
       
       Dann begannen die Aufstände in Algerien und im Sudan gegen die beiden
       Langzeitdiktatoren [3][Abdelaziz Bouteflika] und [4][Omar Baschir], die bei
       der Arabellion vor acht Jahren ungeschoren davongekommen waren. Zunächst
       wurde Bouteflika entmachtet, dann diese Woche Baschir, nachdem die
       überwiegend jungen Demonstranten seit Tagen ausgerechnet einen Platz vor
       dem Hauptquartier der sudanesischen Armee zum „Tahrir-Platz à la Sudan“
       erklärt hatten und sich, trotz der massiven Repressionen des
       Sicherheitsapparats, geweigert hatten, nach Hause zu gehen.
       
       Und wieder machen wie einst bei den Aufständen [5][2011 in Tunesien],
       Ägypten, Libyen, Jemen, Bahrain und Syrien Bilder von Frauen in den Medien
       die Runde, die trotz ihrer männerdominierten Gesellschaft mit in vorderster
       Front stehen. Erneut keimt Hoffnung auf, nicht nur auf politische, sondern
       auch auf gesellschaftliche Veränderungen.
       
       ## Ein freudiges Déjà-vu
       
       Die „nubische Königin“, die 22-jährige sudanesische Studentin Alaa Salah,
       die in ihrer weißen Robe und mit in der Sonne glitzernden goldenen
       Ohrringen auf einem Autodach inmitten von Demonstranten mit erhobenem
       Zeigefinger den Ton angab, die Rufe nach dem Sturz Baschirs anführte und
       dabei wie eine sudanesische Freiheitsstatue aussah, wird wohl als Ikone des
       Aufstandes in die Geschichte eingehen.
       
       Wie ein Lauffeuer hat sich das Bild in den sozialen Medien verbreitet.
       „Niemand hat euch davor gewarnt, dass die Frauen, denen das Laufen verwehrt
       wurde, Töchter zur Welt bringen, die fliegen können“, twitterte jemand
       dazu. Wie viel Hoffnung, nicht nur auf das Ende des Diktators, sondern auch
       auf einen gesellschaftlichen Wandel steckt in dieser Momentaufnahme!
       
       Für alle jene, die sich einen Erfolg des Arabischen Frühlings vor acht
       Jahren gewünscht hatten und deren Hoffnungen enttäuscht wurden, ist das ein
       freudiges Déjà-vu. Den Autokraten am Golf und in Ägypten jagen die neuen
       Entwicklungen dagegen den Angstschweiß auf die Stirn, nicht nur mit Blick
       auf Algerien und den Sudan, sondern auch, weil ihr Mann in Libyen, der
       Möchtegern-al-Sisi und General [6][Chalifa Haftar], sich derzeit
       selbstständig macht und bei seinem Sturm auf Tripolis wahrscheinlich an
       seine militärischen Grenzen stößt.
       
       Die große Frage, die nun im Raum steht, ist, ob es noch ein weiteres,
       anderes Déjà-vu in der Post-Bouteflika- und Post-Baschir-Zeit geben wird –
       oder ob die Demonstranten aus der ägyptischen Erfahrung ihre Lehren gezogen
       haben, wo das Militär die Revolution kooptierte und am Ende jede Spur davon
       beseitigte. Denn das Militär im Sudan scheint nun genau diesem ägyptischen
       Drehbuch folgen zu wollen.
       
       ## „Übergangsherrscher“ im Nachteil
       
       Baschir wurde von der sudanesischen Armee an einem „sicheren Ort“ in
       Verwahrung genommen, wie einst Mubarak, der vom ägyptischen Militär ins
       Krankenhaus überwiesen worden war. Ein dreimonatiger Notstand wurde
       ausgerufen und eine zweijährige Übergangszeit, in der das Militär in
       Khartum die direkte Macht übernimmt. Noch ist unklar, wie die Demonstranten
       und die Opposition darauf reagieren werden.
       
       In Algerien wurde mit Abdelkader Bensalah ein Interimspräsident der alten
       Garde und ein Spezialist für Wahlbetrug eingesetzt. Ausgerechnet er soll
       nun innerhalb von drei Monaten Wahlen organisieren. Die Clique aus
       Militärs, Geheimdienst- und Geschäftsleuten, die einst den kranken,
       altersschwachen Bouteflika so lange wie möglich als öffentliches Gesicht
       hatte halten wollen, versucht nun, Zeit zu gewinnen.
       
       Anders als die ägyptischen Militärs haben die „Übergangsherrscher“ in
       Algerien und im Sudan einen großen Nachteil: Die Demonstranten beider
       Länder kennen das ägyptische Szenario. Mit einem Salut des Militärs in
       Richtung Demonstranten, wie einst in Kairo, wird es nicht getan sein. Das
       algerische und sudanesische Militär muss mehr liefern. Bouteflika und
       Baschir wurden beide vom Militär „gegangen“, wie einst Mubarak in Ägypten.
       Aber weder in Algier noch in Khartum sind heute wie einst in Kairo die
       naiven Sprüche vom Militär und dem Volk, die an einem Strang ziehen, zu
       hören.
       
       ## Militär hat zwei Optionen
       
       Die Demonstrationen in Algerien gehen weiter. Was im Sudan passiert, bleibt
       abzuwarten. Sicher ist: Die Sudanesen haben einige Erfahrungen mit
       Militärputschen in ihrer modernen Geschichte gesammelt. In beiden Ländern
       dürfte die Skepsis gegenüber Lösungen von oben groß bleiben.
       
       Die dortigen Militärs haben nun zwei Optionen. Sie können versuchen, auf
       einige der Forderungen der Demonstranten nach Reformen einzugehen. Am
       einfachsten wird es wohl sein, Zeit zu gewinnen, indem man einige der
       korruptesten Vertreter der alten Regime verhaftet und vor Gericht stellt.
       Aber wirkliche Reformen, das wissen die Militärs, würden bedeuten, das
       System zu reformieren, dem sie ihre Macht verdanken. Ihre eigene Macht
       werden die Militärs nicht freiwillig wegreformieren.
       
       Die zweite Option ist, ihren Repressionsapparat anzuwerfen. Der
       dreimonatige Notstand im Sudan verspricht nichts Gutes. Repression
       funktioniert, das haben die Militärs an anderen Beispielen wie Ägypten
       gelernt. Aber Repression hat auch ein Ablaufdatum, besonders dann, wenn die
       Militärs weder einen verbesserten Lebensstandard noch politische Reformen
       zustande bringen.
       
       ## Prinzip der Gewaltlosigkeit
       
       Viel wird auch davon abhängen, ob und wie sich weitere Proteste formieren
       und welche Forderungen die Opposition aufstellt. In Khartum wird darüber
       diskutiert, dass sich die Opposition auf den kleinsten gemeinsamen Nenner
       für eine Reform im Sinne einer demokratischen Entwicklung einigen sollte.
       Auch das eine Lehre aus der ägyptischen Erfahrung, wo sich die Opposition
       zwischen Islamisten und Säkularisten auseinanderdividieren ließ, statt
       gemeinsam an einer Reform der staatlichen Institutionen und des
       Sicherheitsapparates zu arbeiten.
       
       So machte man es dem Militär einfach, die Nach-Mubarak-Zeit für sich zu
       gestalten, ohne echte politische Reformen einzuleiten. Am Ende landeten
       alle Islamisten und Säkularisten in Gefängnis, wenn sie ihre [7][Stimme
       gegen al-Sisi] und das Militär erhoben. Die Sudanesen müssen nur nilabwärts
       blicken, wollen sie nicht auf dieselbe Weise politisches Lehrgeld zahlen.
       
       Wichtig bleibt auch das Prinzip der Gewaltlosigkeit der Proteste.
       „Friedlich, friedlich“, riefen die sudanesischen Demonstranten immer
       wieder. Sie wissen aus der syrischen Erfahrung: Den größten Gefallen, den
       sie einem repressiven Regime und dessen Sicherheitsapparat machen können,
       ist, gewalttätig zu werden und schlimmstenfalls selbst zu den Waffen zu
       greifen.
       
       ## Langfristige politische Prozesse des Wandels
       
       Die Demonstranten und die Opposition im Sudan befinden sich auch im
       Wettlauf mit den arabischen Autokraten, die für den Sudan einen
       Baschir-Nachfolger in ihrem Sinne finden wollen. Mitte März trafen sich der
       Ägypters al-Sisi und Muhammad Bin Zayed, kurz MBZ, der Kronprinz von Abu
       Dhabi. Beide stellen, zusammen mit dem saudischen Kronprinzen Mohammed Bin
       Salman, kurz MBS, so etwas wie eine moderne „heilige Allianz“ dar, die den
       Auswirkungen der arabischen Umbrüche entgegenwirken und die arabische Welt
       im Sinne der Autokraten neu gestalten will.
       
       Doch ihr Problem im Sudan ist, jemanden zu finden, der nicht international
       verbrannt ist und wie Baschir Gefahr läuft, vom internationalen Gerichtshof
       der einstigen Kriegsverbrechen und des Völkermords in Darfur angeklagt zu
       werden, wo sich ein großer Teil von Sudans Regimeelite vor 15 Jahren die
       Hände schmutzig machte. Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, ob
       die Zukunft Algeriens und des Sudan an den grünen Tischen der benachbarten
       Autokraten oder auf den Straßen von Algier und Khartum ausgehandelt wird,
       von Demonstranten, die einen Übergang zu einer echten Demokratie fordern.
       
       Auch der Westen und vor allem die europäische Nachbarschaft haben dabei
       eine wichtige Rolle zu spielen. Dort muss man sich fragen, ob man mit den
       arabischen Autokraten tatsächlich auf Stabilität setzt oder ob sie
       Auslaufmodelle sind, die am Ende nicht nachhaltig sein werden. Und ob sie
       wirklich die richtigen Partner sind im Antiterrorkampf, um die Flüchtlings-
       und Migrationsfrage zu lösen – oder ob sie in Wirklichkeit selbst ein Teil
       des Problems sind.
       
       Eines haben die letzten Wochen deutlich gemacht: Der turbulente Umbruch in
       der arabischen Welt lässt sich nicht mit Jahreszeiten beschreiben, wonach
       der Arabische Frühling zum Winter wurde. Es handelt sich um langfristige
       politische Prozesse des Wandels. Dieser Wandel verläuft nicht gradlinig, er
       macht manchmal zwei Schritte voran und oft mindestens einen wieder zurück.
       Voran geht es dann, wenn die Arabellion 2.0 in Algerien und dem Sudan aus
       den alten Fehlern in Ägypten und Syrien tatsächlich gelernt hat.
       
       14 Apr 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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