URI: 
       # taz.de -- US-Autor über seine Comictrilogie „Berlin“: „1928 habe ich eher zufällig gewählt“
       
       > Die Lust am Improvisieren: Der nordamerikanische Autor Jason Lutes
       > spricht über Fiktion und die Entwicklung seiner Graphic-Novel „Berlin“.
       
   IMG Bild: Welcher Bartstil war um 1930 wohl besonders in Mode?
       
       taz: Herr Lutes, 22 Jahre lang haben Sie an Ihrer Berlin-Comictrilogie
       gearbeitet. Nun ist sie abgeschlossen. Was hat Sie an der Weimarer Republik
       und Berlin so fasziniert, wie kamen Sie als Amerikaner auf diesen Stoff für
       eine Erzählung? 
       
       Jason Lutes: Ich hatte 1992 gerade meine erste Graphic Novel, „Narren“,
       veröffentlicht. Nach den guten Besprechungen dachte ich: Jetzt muss etwas
       wirklich Großes her. Ich stieß auf eine Annonce für ein Buch, „Bertolt
       Brecht’s Berlin – A Scrapbook for the Twenties“, das vor allem Fotos aus
       der Zeit der Zwanzigerjahre enthielt. Das war die Initialzündung. Die Stadt
       Seattle, in der ich damals lebte, war durch ihre blühende Musikszene ein
       Zentrum für Künstler und hatte ein ähnliches Flair wie das Berlin der 20er.
       Auch viele Comiczeichner lebten dort, die sich miteinander austauschten.
       Obwohl ich nur wenig über die Weimarer Republik wusste, zog mich die Ära
       an, und ich hatte mir in den Kopf gesetzt, ein 600-Seiten-Werk zu zeichnen.
       
       Was dann auch geklappt hat. Zuerst wurden die insgesamt 22 Episoden in
       Heftform bei Drawn & Quarterly abgedruckt, bevor sie in Buchform
       erschienen. Wie haben Sie die Recherche betrieben? Über Archive, Fachbücher
       oder Literatur? 
       
       Ich habe zwei Jahre lang alles an Fachbüchern gelesen, was ich in
       Bibliotheken und Antiquariaten über Berlin kriegen konnte. Auf jeden Fall
       war Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ wichtig. Rückblickend
       erkenne ich viele Parallelen zwischen seinem Werk und meinem Comic: in der
       Struktur, in der Parallelerzählung mehrerer Figuren, aber auch ästhetisch.
       Ich hatte Schwierigkeiten, Fotos zu finden. Von manchen historischen Orten,
       vor allem von Innenräumen: Wie sah es in den verschiedenen Milieus zu Hause
       aus, oder wie auf einem Polizeirevier? Da musste ich manches Mal auch
       spekulieren.
       
       Welche Comicvorbilder hatten Sie? 
       
       Sicher bin ich von Hergé und „Tim und Struppi“ beeinflusst, von der
       Genauigkeit und dem Realismus seiner Zeichnungen. US-Comics mochte ich
       weniger. Sie waren mir oft zu effekthascherisch, insbesondere die
       Superheldencomics.
       
       Haben Sie Ihre Erzählung dann von Anfang an genau durchgeplant und aus der
       Recherche entwickelt? 
       
       Die Recherche war anfangs eher ein Bildungsprozess. Ich las und erfuhr viel
       Neues. Auf dem College hatten wir über die Vorgeschichte zum Zweiten
       Weltkrieg kaum etwas gelernt. Als ich dann mit dem Zeichnen begann, folgte
       ich meiner Intuition und entwarf Figuren, die die Leser durch die
       Geschichte tragen konnten. Die beiden Hauptfiguren waren ja ein Journalist
       und eine Malerin. Sie vereinen zusammen vielleicht unbewusst meine
       Fähigkeiten als Comicautor. Erst recherchierte ich die Zeithintergründe,
       die einzelnen Geschichten und Geschehnisse entwickelte ich dann durch
       Improvisation.
       
       Wie kann man sich den Entstehungsprozess Ihrer Figuren vorstellen? 
       
       Meist begann es mit einem Foto. Ich hatte ein Buch über die legendäre
       Wochenzeitung Die Weltbühne gelesen. Deren Gründer, Siegfried Jacobsohn,
       hat mich für das Äußere der Figur des Journalisten Kurt Severing
       inspiriert. Und Marthe Müller ist einem jungen Porträtfoto von Käthe
       Kollwitz nachempfunden. Für die proletarische Familie Braun wiederum hatte
       ich mich von Bildern des Fotografen August Sander inspirieren lassen. Meine
       Lust, zu improvisieren, habe ich besonders am Charakter der Silvia Braun
       ausgelebt – dem kommunistischen Mädchen, deren Vater und Geschwister Nazis
       werden. Und so wurde ihr Part viel wichtiger, als ich ursprünglich geplant
       hatte. Als ich die Figur entwickelte, wurde ich gerade Vater einer Tochter,
       die nun zwölf Jahre alt ist und sich selbst zu einer kleinen Silvia Braun
       zu entwickeln scheint.
       
       Sie beginnen Ihre Graphic-Novel-Erzählung in der Spätphase der Weimarer
       Republik, im Jahr 1928, und beenden sie mit Hitlers Machtergreifung. Warum? 
       
       Das Jahr 1928 habe ich eher zufällig gewählt. Aber es war auch ein
       besonders spannendes Jahr, die Straßenkämpfe zwischen Kommunisten und Nazis
       wurden heftiger. Dem brutalen Verhalten der Polizei gegenüber
       kommunistischen Demonstranten im „Blutmai“ folgte kurz darauf schließlich
       die ökonomische Krise, die die Entwicklung der Weimarer Demokratie
       entscheidend beeinflusste. Ich wollte mich von Anfang an auf den Zeitraum
       bis 1933 konzentrieren, die Zeit vor der Diktatur.
       
       Durch das vielfältige Ensemble an Figuren aus verschiedenen Milieus nehmen
       Sie unterschiedliche Perspektiven ein. Auch die Genres wechseln innerhalb
       der Episoden – es gibt Lovestorys, Sozialstudien, vereinzelt auch komische
       Sequenzen. 
       
       Ich wollte vor allem ein möglichst breites Bild der Gesellschaft zeigen.
       Bei „Berlin Alexanderplatz“ ist das ja auch schon drin. In Wim Wenders’
       Film „Der Himmel über Berlin“ gibt es die Figur des Engels, der alles sieht
       und hört. Bei mir herrscht ein ähnliches Stimmengewirr, besonders deutlich
       in manchen Szenen, in denen die akuten Sorgen und Nöte vieler Passanten auf
       der Straße in Gedankenblasen zu lesen sind. Richard Linklaters früher Film
       „Slacker“ hatte mich wohl zu den „cartoony“ Szenen inspiriert, der hatte so
       eine „Mockumentary“-Struktur, die unterschiedliche Erzählstile vereinte und
       beiläufig komische Momente hatte.
       
       Die Architektur der Großstadt spielt eine Hauptrolle in „Berlin“. Wann sind
       Sie selbst das erste Mal dort gewesen? 
       
       Im Jahr 2000. Ich hatte einen Cousin, der hier lebte, und nutzte die
       Gelegenheit, um viel zu fotografieren und zu zeichnen. Vor allem suchte ich
       die Orte, die ich in Fotobüchern nicht finden konnte. Solche wie das alte
       Pissoir am Senefelder Platz in Prenzlauer Berg.
       
       Ihre Charaktere machen, ähnlich differenziert gezeichneten Romanfiguren,
       Entwicklungen durch, verändern sich – Kurt wird zeitweilig zu einem
       depressiven Alkoholiker, die anfangs brave Marthe geht eine lesbische
       Beziehung ein … 
       
       Als Zeichner ist man Regisseur, baut die Kulissen und schlüpft in die
       Darsteller. Mich hat gereizt, die Figuren so viel wie möglich zu verändern,
       auch optisch über die Frisur bei Marthe oder den Bartwuchs bei Kurt, um das
       Ikonische infrage zu stellen, das klassische Comicfiguren ansonsten haben,
       die sich meist nicht verändern dürfen.
       
       Sie lassen auch Hitler und Goebbels als wiederkehrende Figuren auftreten.
       Ist das nicht riskant? 
       
       Goebbels darzustellen war einfacher. Da er sehr viel geschrieben hat,
       konnte ich mich etwa auf die Tagebücher stützen. Ich wollte auch Hitler
       nicht einfach als Monster darstellen, sondern als Menschen und als Anführer
       einer sich wandelnden Partei. Sicher, es ist heikel, die beiden
       naturalistisch darzustellen. Karikaturisten können das Wesen eines realen
       Charakters oft viel besser treffen und auch durch Übertreibung mehr
       Ähnlichkeit erreichen.
       
       Sehen Sie Parallelen zwischen der Weimarer Republik und der gespaltenen
       Gesellschaft in den USA heute? 
       
       Geschichte kann sich zwar nicht wiederholen, aber möglicherweise können
       gesellschaftliche Entwicklungen zyklisch ablaufen. Ich stelle mir das wie
       unterirdische Strömungen vor, die nicht linear verlaufen und an
       unerwarteter Stelle wieder an die Oberfläche dringen. Ökonomische Gründe
       spielen für die Unzufriedenheit von Menschen eine große Rolle. Die negative
       Entwicklung in den USA liegt auf der Hand. Trump dekonstruiert die
       Demokratie systematisch, grenzt Flüchtlinge und andere Minderheiten aus.
       Aber Amerika ist so divers, dass die Hoffnung besteht, dass wir wieder das
       Ruder herumreißen können.
       
       27 Apr 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralph Trommer
       
       ## TAGS
       
   DIR Graphic Novel
   DIR Berlin
   DIR Adolf Hitler
   DIR Schwerpunkt Nationalsozialismus
   DIR Schwerpunkt Nationalsozialismus
   DIR Lesestück Interview
   DIR Debütroman
   DIR Großstadt
   DIR Comic
   DIR Kriegsgefangene
   DIR Deutsche Geschichte
   DIR Graphic Novel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Debütroman aus dem Weimarer Berlin: Gegen Dr. Popper
       
       Lili Grüns Roman „Alles ist Jazz“ aus dem Jahr 1931 ist jetzt wieder zu
       entdecken. Er zeigt Berlin während der Weimarer Republik.
       
   DIR 2020: Feiern zu 100 Jahre Groß-Berlin: Wie kann Großstadt gelingen?
       
       Am 1. Oktober 1920 wurde Berlin mit dem Groß-Berlin-Gesetz zur Weltstadt.
       Die Feierlichkeiten zum 100-Jährigen sind Anlass, die Stadt weiterzudenken.
       
   DIR Drei Comic-Klassiker in Belgien: Reisen in gezeichnete Traumwelten
       
       Hergé, Hugo Pratt, Didier Comès – drei Ausstellungen in Belgien zeigen
       Klassiker des Comics. Sie alle waren große Erzähler und Zeichner.
       
   DIR Graphic Novel von Jacques Tardi: Kriegsgefangenschaft als Comic
       
       Comiczeichner Jacques Tardi hat die Geschichte seines Vaters als Graphic
       Novel verarbeitet. Dieser war französischer Soldat im Zweiten Weltkrieg.
       
   DIR Das Gespenst von Berlin: Die flamboyante Hochstaplerin
       
       Vor einem Jahrhundert machte die berüchtigte „Gräfin Colonna“ mit ihrer
       Diebesbande Berlins Villenviertel unsicher.
       
   DIR Comics über das Berlin der 30er Jahre: Mythischer Moloch
       
       Spanische und amerikanische Comic-Künstler zeichnen Hommagen an „Babylon“
       Berlin. Bolschewisten und Frauenliebe sind darin inklusive.
       
   DIR Graphic Novel "Berlin - Bleierne Stadt": Tanz der Marionetten
       
       In der Graphic Novel "Berlin - Bleierne Stadt" erzählt Jason Lutes über das
       Ende der Roaring Twenties in Berlin in einem Mosaik aus Jazz und linker
       Geschichte.
       
   DIR Das Buchmessen-Wochenende: Cosplayer und Prosumenten
       
       Wenn die Publikumstage in Frankfurt anbrechen, verdrängen plötzlich Elfen
       und japanische Schulmädchen die in schwarz, weiß, grau und braun gekleidete
       Verlagsbranche.