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       # taz.de -- Jahrestag des Genozids an den Armeniern: Mörderischer Lehrstoff
       
       > In einigen Bundesländern ist der Völkermord an den Armeniern
       > Unterrichtsthema. Das ist ein Problem für Eltern türkischstämmiger
       > Schüler.
       
   IMG Bild: Gedenkstätte für den Genozid in der armenischen Hauptstadt Jerewan
       
       „Ich hasse alle Armenier.“ Das sagte ein türkischstämmiger Schüler einer
       Schule im Berliner Stadtteil Neukölln 2018 zu seinem Musiklehrer, der einen
       armenischen Nachnamen hat. Ihm war von einem Kollegen hinter vorgehaltener
       Hand empfohlen worden, sich genau zu überlegen, ob er seinen ethnischen
       Hintergrund „an die große Glocke hänge“. Denn ein Großteil der SchülerInnen
       sei türkeistämmig und das berge Konfliktpotenzial.
       
       Anders ist die Situation am Neuen Gymnasium Bochum, einer Europaschule mit
       deutsch-englischem bilingualem Angebot bis zum Abitur. Der Geschichtslehrer
       Nils Vollert unterrichtet hier das Thema „Völkermord an den Armeniern“.
       „Ich bin dafür, dass sich der Geschichtsunterricht und der politische
       Unterricht in Deutschland endlich der Tatsache differenter Geschichtsbilder
       in einer Migrationsgesellschaft stellen sollten“, sagt der 37-Jährige, der
       zugleich Projekte für historisch-politische Bildung und Erinnerungskultur
       an seiner Schule koordiniert. Auch hier ist der Migrationsanteil hoch, er
       liegt zwischen 30 und 40 Prozent.
       
       „Das Thema Völkermord ist für die Schülerschaft zunächst einmal eines wie
       jedes andere auch. Die politische Brisanz und gesellschaftliche Relevanz
       sind ihnen nicht bewusst“, sagt Vollert. Er selbst habe keine Konfrontation
       mit türkischen Eltern erlebt, die das Thema aus dem Unterricht fernhalten
       wollten. Kollegen anderer Schulen hätten jedoch von solchen Vorfällen
       berichtet. [1][Auch die Türkische Gemeinde in Deutschland] hat in der
       Vergangenheit mehrfach gefordert, die Verbrechen an den Armeniern unter dem
       Label Genozid nicht im Unterricht zu behandeln.
       
       Der Völkermord an den Armeniern ist in keinem Bundesland obligatorischer
       Lehrstoff. Nur im Lehrplan Brandenburgs taucht das Thema als mögliches
       Fallbeispiel für Völkermord und Massengewalt auf. 2005 bringt das Land
       Brandenburg, zehn Jahre später auch Sachsen-Anhalt, Handreichungen für
       Lehrkräfte über das Thema Völkermord in Schulunterricht heraus. Jedoch kann
       jede/r LehrerIn auch Stalins Terror oder den Völkermord an den Herero und
       Nama zum Gegenstand des Unterrichts machen.
       
       Der Bochumer Geschichtslehrer Vollert hat sich dafür entschieden: „Ich
       möchte dem Thema Völkermord an den Armeniern aus seiner Isolation
       heraushelfen.“ Er hat ein Jahr lang nach Lebensgeschichten von Überlebenden
       am Lehrstuhl für Diaspora- und Genozidforschung der Ruhr-Universität Bochum
       geforscht. Das sei, wie er sagt, eine emotional fordernde Aufgabe gewesen.
       
       ## Doppeltes Leid für die Opfer
       
       „Mir ist beim Lesen dieser schrecklichen Geschichten bewusst geworden, dass
       den Opfern ein doppeltes Leid widerfahren war: die Gewalt, mit der sie aus
       ihrem Leben, ihren Familien und ihrer Heimat 1915 herausgerissen wurden,
       und die Tatsache, dass ihnen zeit ihres Lebens niemals zugehört wurde, sie
       im öffentlichen Raum immer wieder als Lügner dargestellt wurden. Danach war
       mir klar, dass ich auf die Schicksale dieser Menschen aufmerksam machen
       möchte“, sagt Vollert.
       
       Das will auch seine Kollegin Sibylla Hesse in Potsdam. Sie unterrichtet
       Geschichte in den Klassenstufen 10 bis 13 an der einzigen Waldorfschule in
       der brandenburgischen Landeshauptstadt und thematisiert [2][die Schuld
       Deutschlands am Beispiel des Genozids an den Herrero und Nama]. Sie gehört
       auch zu den wenigen Lehrkräften, die eine entsprechende Fortbildung hinter
       sich haben.
       
       Seit 2015 bietet das Lepsiushaus in Potsdam – eine Forschungs- und
       Bildungsstätte, die sich vor allem mit dem Völkermord an den Armeniern
       beschäftigt – Weiterbildung für Lehrkräfte aller Schulen mit gymnasialer
       Oberstufe in Berlin und Brandenburg an. Jährlich nehmen etwa 15 LehrerInnen
       daran teil. Ihren SchülerInnen erzähle sie nicht nur von einer
       gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit im Osmanischen Reich und der
       Tatsache, wie Türken Armenier in die Wüste jagten sowie Frauen und Kinder
       brutal umbrachten. Auch die Persönlichkeit des [3][Menschenrechtlers und
       Theologen Johannes Lepsius (1858–1926)] stehe im Mittelpunkt. Er hatte
       vergeblich versucht, die Massaker öffentlich zu machen, Memoranden zu
       schreiben und sich bei der Deutschen Regierung Gehör zu verschaffen.
       
       „Wir müssen darüber nachdenken und miteinander reden, um eine Wiederholung
       jedes Genozids zu vermeiden“, sagt Hesse, die schon 28 Jahre lang
       Geschichte unterrichtet. Sie hat im vergangenen Jahr erstmals das
       Genozidmahnmal in der armenischen Hauptstadt Jerewan besucht, was sie
       emotional bis heute prägt. „Ich bin sehr beeindruckt davon, wie das
       armenische Volk immer wieder aufsteht“, sagt sie.
       
       Nur mit einem eigenen Erkenntnisinteresse der LehrerInnen wird
       offensichtlich etwas erreicht. Dem stimmt auch Ulrich Rosenau zu,
       Geschäftsführer des Lepsiushauses. „Es ist fast ein Luxus, wenn eine
       Lehrkraft den Völkermord an den Armeniern im Unterricht thematisiert. Mehr
       zu fordern geht an der Wirklichkeit vorbei“, sagt er.
       
       ## Anerkennung durch den Bundestag
       
       Viele Jahre war das Thema in den Schulen, aber auch in der deutschen
       Öffentlichkeit überhaupt nicht präsent. Insofern hat sich für Rosenau
       einiges verändert. Das sei, sagt er, auch mit der Resolution 2016
       verbunden, [4][als der Deutsche Bundestag die Verbrechen an den Armeniern
       als Völkermord anerkannte].
       
       Dabei stellte der Bundestag fest: „Heute kommt schulischer, universitärer
       und politischer Bildung in Deutschland die Aufgabe zu, die Aufarbeitung der
       Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Teil der Aufarbeitung der
       Geschichte ethnischer Konflikte im 20. Jahrhundert in den Lehrplänen und
       -materialien aufzugreifen und nachfolgenden Generationen zu vermitteln.“
       
       Trotzdem bleibt das Thema im Schulunterricht eine Herausforderung. Die
       LehrerInnen müssen ein Zeitfenster finden, um das Thema Völkermord in ihren
       Unterricht zu integrieren. Obligatorische Inhalte, wie der Holocaust, haben
       Vorrang. Kommen Unterrichtsausfälle hinzu, bleibt nicht viel Zeit für
       anderes.
       
       Vollert widmet sich diesem Thema vor allem in den Zusatzkursen Geschichte
       in der Oberstufe. Das sind verpflichtende Kurse im letzten Schuljahr für
       alle, die Geschichte abgewählt haben. Das Thema Völkermord ist Teil einer
       Einheit über die Entwicklung vom Osmanischen Reich zur Republik Türkei
       sowie über die deutsch-türkischen Beziehungen in der ersten Hälfte des 20.
       Jahrhunderts.
       
       Hesse verknüpft das Thema Genozid mit der aktuellen Politik. Anlass waren
       der 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern 2015 und die damit
       verbundene Debatte im Bundestag. Das Thema kam aber auch [5][im
       Zusammenhang mit der Samtenen Revolution in Armenien 2018] vor – „als
       aktueller Aufwärmer zu Stundenbeginn“.
       
       „Es gibt viel Stoff und wenig Zeit. Ich bedauere das sehr, aber ich muss
       mich beschränken“, sagt Hesse und fügt hinzu, dass Geschichtsthemen im
       Brandenburger Abitur auf Deutschland beschränkt seien.
       
       ## Studie zu Kompetenzen von GeschichtslehrerInnen
       
       „Dass es keine Zeit für das Thema Völkermord gibt, ist ein vorgeschobenes
       Argument. Es geht immer auch um eine bewusste Entscheidung für
       Schwerpunktsetzungen“, sagt Waltraud Schreiber, Professorin für Theorie und
       Didaktik der Geschichte. Schließlich gebe es mehrere Unterrichtsstunden für
       die Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg.
       
       Sie leitet an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt eine
       didaktische Studie, die die Kompetenzen von GeschichtslehrerInnen
       evaluiert. Als ein Beispiel wurde der Völkermord an den Armeniern
       ausgewählt.
       
       An der derzeit laufenden Pilotumfrage haben bundesweit etwa 300 Lehrkräfte
       teilgenommen. Das Forschungsteam fragt auch nach Kriterien, wie Lehrkräfte
       mit brisanten Themen umgehen und welche Materialien sie warum einsetzen.
       
       „Ein Aspekt guten Geschichtsunterrichts ist, so zu unterrichten, dass
       SchülerInnen nicht nur Fakten und Daten über die Vergangenheit lernen,
       sondern sie am Beispiel historisch-politisch relevanter Themen lernen, wie
       man durch die Beschäftigung mit Vergangenem auch Orientierung für die
       Gegenwart bekommen kann“, sagt Schreiber. Ein positives Beispiel sind
       vielleicht der türkische Schüler und sein armenischer Musiklehrer in
       Berlin-Neukölln. Sie kommen jetzt gut miteinander aus.
       
       24 Apr 2019
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Tigran Petrosyan
       
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