URI: 
       # taz.de -- Studieren in der Türkei: Hexenjagd auf dem Campus
       
       > Wer in der Türkei studiert, erlebt Leistungsdruck und politische Apathie.
       > Seit dem gescheiterten Putsch von 2016 greift die Justiz hart durch.
       
   IMG Bild: Autokraten unter sich: Präsident Erdogan und sein weißrussischer Amtskollege Alexander Lukaschenko
       
       Zwei einsam wirkende Sticker zieren die Tür einer Damentoilette der
       Çukurova-Universität in Adana. Auf hellgelbem Grund steht in Lila und
       Schwarz ein Aufruf: „Die Rebellion der Frauen auf dem Campus kocht über –
       für Gleichheit und Freiheit: am 8. März auf die Plätze“. Eine Ecke hat sich
       gelöst, den zweiten erkennt man kaum noch. Er ist lila und ihn ziert das
       gleiche Symbol wie den ersten, ein Venussymbol mit Hexenhut. Es ist das
       Zeichen der Kampüs Cadıları, übersetzt „Campushexen“, einer feministischen
       Gruppe, die an diversen türkischen Universitäten aktiv ist und offenbar
       auch Gegner*innen hat.
       
       Außer diesen beiden Aufklebern war auf dem Campus wenig von politischer
       Aktivität zu spüren, nicht einmal während der heißen Phase des Wahlkampfes
       der türkischen Kommunalwahlen am 31. März. Schaut man auf die Erfahrungen
       kritischer Akademiker*innen in der Türkei in den letzten Jahren, erschließt
       sich, warum.
       
       Nach dem Militärputsch 2016 gerieten nicht nur Journalist*innen und
       Politiker*innen der Opposition in den Fokus der repressiven Maßnahmen
       Erdoğans. Noch im gleichen Jahr hatten 2.200 Akademiker*innen eine
       Friedenspetition unterschrieben. Viele von ihnen wurden aus dem
       öffentlichen Dienst entlassen, und mittlerweile wurden über 650 der
       Unterzeichner*innen angeklagt und 137 verurteilt.
       
       Aber nicht nur Dozierende müssen Repressionen fürchten. Der
       Politikwissenschaftler, Aktivist und Autor Max Zirngast stand im November
       2019 gemeinsam mit Hatice Göz vor Gericht, einer Aktivistin der Kampüs
       Cadıları, die laut Anklageschrift die Frontorganisation einer
       terroristischen Vereinigung seien.
       
       ## Nur wenige wollen mit mir reden
       
       Derartige Prozesse schüren Angst unter den Studierenden. Das wurde mir sehr
       deutlich, als ich mit einigen über ihre Erfahrungen an türkischen
       Universitäten reden wollte. Es war schwer, Gesprächspartner*innen zu
       finden, auch wurden im persönlichen Gespräch deutlich kritischere Dinge
       gesagt, als die Befragten abgedruckt sehen möchten.
       
       Merve*, eine 21-jährige Studentin der Internationalen Beziehungen aus
       Adana, lobt ihre Kurse und die Multikulturalität ihrer Universität. Sie
       beklagt jedoch, dass auch in den Seminaren wenig kritische
       Auseinandersetzung gefordert und gewünscht ist. Hauptsächlich müsse sie
       auswendig lernen und Inhalte wiedergeben. Zudem habe sie Angst, keinen Job
       zu finden.
       
       Umut* ist 23 und studiert Medizin in Istanbul. Er sagt, dass er so viel
       lernen muss, dass kaum Zeit bleibt, über Politik nachzudenken. Umuts
       Universität ist staatlich und die Dozierenden, so seine Einschätzung, sind
       konservativ. Dass er anders denkt, wissen sie wohl, akzeptieren es jedoch.
       Die Entlassungen von Dozierenden 2016 und in den Folgejahren seien nicht
       mehr allen im Gedächtnis, sagte er.
       
       Sein Vater, ein Dozierender an der Istanbul-Universität, hat Umut erzählt,
       dass es für ihn in seiner Position Unsagbares gibt. Auch auf mich wirkte es
       so, dass an türkischen Universitäten eine Art der Selbstzensur stattfindet.
       Gerade die türkische Politik und Geschichte betreffend gibt es Dinge, die
       aus Furcht nicht gesagt und am besten nicht thematisiert werden dürfen,
       Fragen, die nicht zu stellen sind.
       
       17 Apr 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Pauline Weiland
       
       ## TAGS
       
   DIR Proteste in der Türkei
   DIR Opposition in der Türkei
   DIR Türkei
   DIR Putschversuch Türkei
   DIR Schwerpunkt u24 taz
   DIR Opposition in der Türkei
   DIR Türkei
   DIR taz.gazete
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kommentar Kommunalwahlen Türkei: Istanbul macht Hoffnung
       
       Ekrem İmamoğlu's Wahlsieg in Istanbul wurde anerkannt – und damit die
       Niederlage der AKP. Für Erdoğan könnte das der Anfang vom Ende werden.
       
   DIR Kommentar Türkei: Eisiger Frühling
       
       Präsident Erdoğan erfuhr bei den türkischen Kommunalwahlen eine bittere
       Niederlage. Den Erfolg der Opposition wird er sabotieren.
       
   DIR Dossier Flughafen Istanbul: Ein Megaprojekt und seine Folgen
       
       Der Flughafen Istanbul soll der größte der Welt werden. Doch für ihn sind
       Bauarbeiter gestorben, und die Umwelt wurde zerstört.
       
   DIR Akademiker*innen für den Frieden: 15 Monate Haft für Friedenspetition
       
       Im Prozess gegen die Friedensakademiker*innen ist das erste Urteil
       rechtskräftig: Die Professorin Füsun Üstel muss ins Gefängnis. Das ist ein
       Präzedenzurteil.