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       # taz.de -- Debütroman über weibliche Normen: „Das Buch hat mein Leben gerettet“
       
       > Ariana Harwicz über ihren Roman „Stirb doch, Liebling“. Das Debüt der
       > Argentinierin ist eine literarische Abrechnung mit der Mutterschaft.
       
   IMG Bild: „Die Familie ist wie ein Zirkus oder eine Theaterinszenierung“, meint Autorin Harwicz
       
       taz am wochenende: „Stirb doch, Liebling“, Ihr viel beachteter
       Erstlingsroman, bildet den Auftakt einer Trilogie. Unter welchen Umständen
       entstand Ihr Debüt, das von der Entfremdung einer jungen Frau zu ihrem Kind
       und dem Partner handelt? 
       
       Ariana Harwicz: Ich lebte in Frankreich auf dem Land, hatte studiert und
       wusste nicht, ob ich weiter Theater oder Film machen wollte. An Literatur
       habe ich überhaupt nicht gedacht. Ich war etwas verloren. Für das Theater
       schrieb ich zu literarisch, für das Kino zu dramatisch. Immer scheiterte
       ich aus irgendwelchen Gründen, als ob ich keine angemessene Form finden
       würde. Doch eines Tages, ohne es geplant zu haben, begann ich mit diesem
       ersten Satz: „Ich legte mich auf das Gras zwischen umgestürzten Bäumen, und
       die Sonne, die auf meiner Handfläche brannte, gab mir das Gefühl, ein
       Messer zu halten – ein flinker Schnitt in die Halsschlagader, und ich werde
       verbluten.“ Diese Passage, die an einen Thriller oder einen fesselnden
       Liebesfilm erinnert, war der Anfang von „Stirb doch, Liebling“.
       
       Wie verlief der weitere Schreibprozess? 
       
       Ich wusste nicht, ob ich für das Kino, das Theater, Poesie oder eine
       Erzählung schrieb. Ich hatte zuvor nichts Fiktionales, keine Literatur
       veröffentlicht. In der größten Einsamkeit begann ich zu schreiben. Es war
       niemand da, und ich kannte niemanden aus der Literatur. Dieses Buch hat mir
       das Leben gerettet. Ich war verzweifelt, allein auf dem Land mit einem
       Baby. Wie der Hirsch in dem Roman tauchte dieses Buch für mich auf.
       
       Der Roman wurde zuerst in Argentinien veröffentlicht? 
       
       Nein, er erschien in Spanien und Argentinien gleichzeitig, im November
       2012.
       
       War es schwierig für Sie, aus Frankreich Zugang zur argentinischen
       Literaturszene zu knüpfen ? 
       
       Ohne literarische Erfahrung und ohne jemanden zu kennen, ist es nicht
       einfach. Vielleicht half mir die Veröffentlichung in Spanien. In
       Argentinien ist Spanien immer noch eine Referenz. Umgekehrt interessiert
       man sich in Spanien sehr für argentinische Literatur. Dadurch gibt es einen
       Austausch und Handel. Zunächst existierte nur eine kleine Auflage, und das
       Buch begann auf fast klandestine Weise zu zirkulieren. Doch bekam es viel
       Aufmerksamkeit von Seiten der Kritik, die das Thema der Mutterschaft und
       die Form, in der darüber geschrieben wurde, interessierte.
       
       Ihr Roman spielt in der französischen Provinz und erzählt aus der
       Perspektive einer jungen Mutter von ihren Krisen am Rande des Wahns. Gibt
       es biografische Bezüge? 
       
       Klar, es besteht die Versuchung, die Geschichte biografisch zu lesen. Die
       Antwort wird immer Nein sein, auch wenn es so hätte sein können. Was mich
       interessiert, ist die Wahrheit eines Buches. Biografisch teile ich mit der
       literarischen Figur die gleiche Verzweiflung und die gleiche Empfindung.
       Aber die Ereignisse sind nicht selbst erlebt. Ich habe die Erzählerin
       komponiert, wie einen Frankenstein, Golem oder Superman. Ich habe sie
       erfunden, aber mit der Absicht, sie so wahr wie möglich zu gestalten. In
       einem Buch interessiert mich nicht so sehr, Realität abzubilden, sondern
       Wahrheit.
       
       Distanz oder Fremdheit, die Ihre Erzählerin im Roman gegenüber den
       Schwiegereltern, den Nachbarn, dem Kind oder dem eigenen Ehemann empfindet,
       ist das eine Gefühl, das Sie im Alltag in Frankreich kennengelernt haben? 
       
       Alle meine Bücher können von sich behaupten, dass sie von Fremdheit
       handeln. In „Stirb doch, Liebling“ wird dieses Gefühl auf die Spitze
       getrieben – sogar in der eigenen Familie fühlt sich die Frau als Fremde.
       Vielleicht ist das die Hauptaussage des Romans. Ich glaube, dass sie dich
       nicht verstehen und du anders bist als sie, das ist eine Erfahrung, die du
       als Ausländerin machst.
       
       Als Ausweg bietet der nahe gelegene Wald der Protagonistin ein Refugium, wo
       ein Hirsch oder andere Tiere Trost spenden. Was hat Sie in dieser
       Gegenüberstellung von Mensch und Natur interessiert? 
       
       Einerseits ist die Natur für sie als Fremde ein Ort voll unberechenbarer
       Gefahren, gleichzeitig bietet ihr dieser Wald Asyl. Nur hier kann sie mit
       dem Sohn Frieden finden. Sie imitiert die Tiere und beschreibt dort sehr
       unwahrscheinliche Handlungen fern der Realität, wie etwa das Baby, das in
       die Baumwipfel klettert. Vielleicht entdeckt sie hier im Wald ihre
       animalische Seite, was sie tröstet.
       
       Der Roman stellt nicht nur die Vorstellung von Mutterglück infrage, sondern
       präsentiert eine wütende Frau mit Gewaltfantasien und sexueller Begierde.
       Was hat Sie an diesem weiblichen Tabu gereizt? 
       
       Die Familie ist wie ein Zirkus oder eine Theaterinszenierung, in der jeder
       eine Rolle spielen muss und Treue als eine Verpflichtung angesehen wird.
       Mich interessierte, diese menschlichen Simulationen, Mutter, Ehefrau oder
       Schwiegertochter zu sein, offenzulegen. Ein Mensch kann all diese sozialen
       Rollen nicht glücklich bewerkstelligen. Er kann nur scheitern. Man muss
       Mutter sein – aber wie? Man soll dem Kind eine glückliche Kindheit
       ermöglichen – aber wie? Das sind Konflikte, in der die Erzählerin gefangen
       ist. Diese großen Themen der menschlichen Komödie reizen mich.
       
       Sie haben erwähnt, dass Ihr Bruch mit dem Mythos des Mutterseins von der
       Literaturkritik in Argentinien willkommen aufgegriffen wurde. Dort
       formierte sich 2018 mit breiter Unterstützung der Zivilgesellschaft die
       Kampagne zur Aufhebung des Abtreibungsverbots. Knapp scheiterte die
       Gesetzesinitiative allerdings im Senat. Wie beurteilen Sie die Entwicklung? 
       
       Als ich den Roman schrieb, gab es noch kein #MeToo. Ich glaube, die großen
       „Ni una menos“-Proteste gegen Frauenmorde begannen erst 2015. [1][Die
       feministische Bewegung in Argentinien] war noch nicht so stark wie heute.
       Das Thema lag sicher schon in der Luft, aber ich schrieb das Buch in meinem
       persönlichen Drama, meiner Verzweiflung, meiner Angst und meinem Chaos.
       Doch offensichtlich gab es darauf ein Echo.
       
       [2][Durch den aktuellen Fall einer Zehnjährigen], der nach einer
       Vergewaltigung in der Provinz Salta ein Schwangerschaftsabbruch verwehrt
       wurde, erhielt die Debatte um das Recht auf Abtreibung in Argentinien
       erneut traurige Aktualität. 
       
       Dass junge Mädchen schwanger werden, weil sie vom Nachbarn, vom Vater oder
       Stiefvater vergewaltigt wurden, das ist kein Einzelfall in Argentinien. Die
       Kampagne für die Straffreiheit der Abtreibung ist zwar in der Abstimmung
       gescheitert, trotzdem wird weiter darum gekämpft, vielleicht am Ende mit
       Erfolg. Aber die Kirche und der Opus Dei sind stark, und sie üben sehr viel
       Druck aus, damit es zu keiner Legalisierung kommt – immer mit der Ausrede,
       beide Leben retten zu wollen. Doch eigentlich geht es darum, den Körper der
       Frau zu kontrollieren. Das geschieht auf ganz heuchlerische Weise, weil
       Abtreibungen heimlich stattfinden und das jeder weiß. Eine Frau aus der
       Mittel- oder Oberschicht, die das Geld dazu hat, kann von einem Arzt eine
       Abtreibung vornehmen lassen. Da passiert nichts. Nur die Armen haben diese
       Wahl nicht.
       
       28 Apr 2019
       
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