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       # taz.de -- Überwachung in China: Der digitale Diktator
       
       > China überwacht seine Bürger jetzt auch mit einer „Lern-App“. Genossen
       > der Kommunistischen Partei müssen sie nutzen, sonst gibt es Strafpunkte.
       
   IMG Bild: Davon hätte Mao nicht mal träumen können – Überwachung per App
       
       Peking taz | Genervt blickt Haifeng auf ihr Smartphone. Sie sitzt an einem
       Sonntagnachmittag in einem Café einer Kaffeehauskette in Peking und nippt
       an ihrem Latte. Ihr Huawei-Telefon hat sie neben sich auf den Tisch gelegt.
       Schließlich nimmt sie es in die Hand und tippt mit dem Zeigefinger auf eine
       App, die sie auf dem Startbildschirm besonders prominent platziert hat. In
       der App finden sich unter anderem Videobotschaften und jede Menge Texte.
       Den einen oder anderen Artikel lässt Haifeng länger offen. Lesen mag sie
       die Texte nicht. Sie müsse diese App mehrmals am Tag nutzen, sagt sie. „Ich
       bin Parteimitglied.“
       
       Eigentlich greift Haifeng gern zu ihrem Smartphone, wie die meisten in
       ihrem Alter. Die 25-Jährige, die gerade an einer renommierten Pekinger
       Universität ihr Studium der Kommunikationswissenschaften beendet hat und
       nun auf Jobsuche ist, schaut sich darauf koreanische Seifenopern an, hat
       ein paar E-Books heruntergeladen und das eine oder andere Spiel. Am meisten
       nutzt die junge Frau ihr Smartphone, um mit ihren Freunden zu chatten oder
       ihnen Sprachnachrichten zu schicken. In den letzten Wochen ist ihr das
       Gerät aber lästig geworden.
       
       Die Führung von Chinas Kommunistischer Partei (KP) hat Anfang des Jahres
       sämtliche ihrer Mitglieder angewiesen, eine spezielle App herunterladen.
       „Xue Xi Qiang Guo“ heißt diese – übersetzt: „Studiere, um China stark zu
       machen.“ Nach offizieller Lesart handelt es sich um eine Lern-App, eine App
       zur politischen Bildung quasi. „Lerne von Xi“ – so könnten die ersten
       beiden Silben des App-Namens auf chinesisch auch ausgesprochen werden, in
       Anspielung auf Chinas seit 2013 amtierenden Staats- und Parteichef Xi
       Jinping.
       
       Noch wesentlich mehr als seine Vorgänger lässt Xi sich als besonders großen
       Staatsführer feiern. Er hat vor einem Jahr durchsetzen können, dass er bis
       zu seinem Lebensende Präsident bleiben darf. Vorher war die Amtszeit noch
       auf zehn Jahre beschränkt.
       
       ## App-Leitlinien auch in der Verfassung
       
       In der App gibt es seine Leitlinien zum Nachlesen, die inzwischen sogar
       Teil der Staats- und Parteiverfassung sind und jede Menge neuer
       Verordnungen der Partei. Aber auch alte Dokumentationen und
       Schwarz-Weiß-Filme wie der „Lange Marsch“, dem zentralen Heldenmythos der
       KP Chinas, gibt es in der App.
       
       Xue Xi Qiang Guo war zeitweilig in [1][China] das am meisten
       heruntergeladene Programm und stellte selbst die unter jungen Leuten
       derzeit beliebte App TikTok in den Schatten, in der täglich Millionen
       Teenager Kurzvideos miteinander teilen. Das wundere sie nicht, sagt
       Haifeng. Schließlich seien sämtliche Genossinnen und Genossen verdonnert
       worden, die KP-App herunterzuladen. Und Chinas Kommunistische Partei zählt
       über 90 Millionen Mitglieder. Sie ist die mitgliederstärkste Partei der
       Welt.
       
       Die App auf dem privaten Smartphone zu installieren – das ist also Pflicht.
       Doch damit ist es für die Genossen keineswegs getan. Für die Registrierung
       muss Haifeng ihren vollen Namen angeben, ebenso ihre Parteinummer und zu
       welcher Parteizelle sie gehört. Und: Sie muss die Partei-App auch eifrig
       nutzen – es zumindest suggerieren. Denn die Zeit, die sie auf der App
       verbringt, wird ihr in Punkten gutgeschrieben – sogenannte „Lernpunkte“
       erhält der Nutzer dafür.
       
       Wer einen Text mindestens vier Minuten lang liest, bekommt einen Pluspunkt.
       Schaut sich Haifeng mindestens fünf Minuten ein Video an, wird ihr dafür
       ein weiterer Punkt angerechnet. Ebenso wenn sie Artikel oder Videos an
       Freunde und Familie weiterleitet.
       
       Auch die Uhrzeit spielt beim Punktesammeln eine Rolle. Wer morgens vor halb
       neun schon die App genutzt hat, erhält die doppelte Punktzahl, ebenso in
       der Mittagspause oder abends nach 20 Uhr. Die Nutzung der App soll
       schließlich nicht die Arbeitszeit beeinträchtigen. Alle paar Tage sollen
       die Nutzer Kommentare abgeben. Wer viele Punkte gesammelt hat, kann sie
       gegen Geschenke eintauschen.
       
       ## Es geht um Kontrolle
       
       Die KP-App „liest sich wie eine Nachrichten-App“, sagt Haifeng. Die seien
       in China eh allesamt staatlich kontrolliert. Der Fokus der KP-App liege auf
       noch mehr Propaganda. Immerhin würden sich viele Texte auf der App nicht so
       trocken und altbacken lesen, wie sie es lange Zeit von Pamphleten der KP
       gewohnt war, sagt Haifeng. Neben bunten Comics finden sich Quizspiele auf
       der App. Sie bringen ebenfalls Punkte.
       
       Die Fragen drehen sich alle um die KP. „Was zeichnet den Sozialismus
       chinesischer Prägung aus?“, lautet etwa eine Frage. Oder: „Welchen Traum
       hat der Vorsitzende Xi?“ Und man kann gegeneinander spielen. Chinas
       kommunistische Führung gibt sich mit der App modern. Haifeng kann zudem
       einmal die Woche die Punktezahl aller Genossinnen und Genossen ihrer
       Parteizelle sehen. Der Durchschnittswert aller Mitglieder der Parteizelle
       wird wiederum mit dem anderer Parteizellen verglichen. „Eine niedrige
       Punktzahl zeigt, dass du kein leidenschaftliches Mitglied bist“, sagt
       Haifeng. „Ganz klar, es geht um Kontrolle.“
       
       Mit dem sogenannten [2][social scoring ist China] derzeit dabei, für alle
       Bürger ein soziales Bewertungssystem einzuführen. Es sieht nicht nur vor,
       eifrig die Daten jedes Einzelnen zu sammeln, sondern die Bürger für ihr
       Verhalten auch zu bewerten. Verkehrsdelikte, Steuersünden, rüpelhaftes
       Verhalten, rauchen in öffentlichen Räumen, urinieren auf der Straße – die
       Liste des Bewertungskatalogs ist lang. Und da sich vieles längst online
       abspielt, wird auch das Verhalten, etwa beim Surfen, Online-Shoppen und
       selbst beim Chatten, erfasst.
       
       Das Ziel: Musterbürger im Sinne der kommunistischen Führung zu schaffen.
       Wer viele Pluspunkte gesammelt hat, soll Gutscheine etwa für Bahn- und
       Flugreisen erhalten, günstiger an Kredite herankommen und bei der Vergabe
       von Kindergarten-, Schul- und Uniplätzen bevorzugt werden. Niemand soll
       sich diesem Bewertungssystem entziehen können. Landesweit hat die
       chinesische Führung bereits Millionen Überwachungskameras installieren
       lassen. Viele davon sind bestückt mit Gesichtserkennungssoftware.
       
       ## Parteibuch entscheidet über Karriere
       
       Erst kürzlich hat China bekanntgegeben, dass allein 2018 mehr als 20
       Millionen Menschen verboten wurde, mit dem Zug oder Flugzeug zu reisen. Der
       Grund: Die Betroffenen hatten ein zu schlechtes Sozialpunkte-Konto. Die
       KP-App ist daher nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zur totalen
       Überwachung.
       
       „Wir sind ja auch die Avantgarde“, sagt Haifeng und verdreht dabei die
       Augen. Sie sagt das ironisch. Tatsächlich aber ist es gar nicht so einfach,
       Mitglied von Chinas Kommunistischer Partei zu werden. 90 Millionen
       Mitglieder hat die KP zwar. Doch die Volksrepublik zählt fast 1,4
       Milliarden Menschen. Nur einer Minderheit also gelingt es, aufgenommen zu
       werden. Haifeng hatte sich schon in jungen Jahren um eine Aufnahme in die
       KP-Jugendorganisation bemüht. Von den Noten her war sie in ihrer
       Heimatstadt Jahrgangsbeste. Der Rektor schlug sie der örtlichen Parteizelle
       vor. Mehrere Aufnahmetests folgten. Sie musste Aufsätze zu politischen
       Fragen verfassen und vor einem Parteigremium bestehen.
       
       Ob sie den Lehren Marx, Mao und nun Xi folge? Sie schmunzelt. Sie halte den
       Sozialismus durchaus für erstrebenswert und das chinesische System für
       erfolgreich. Ihre Mutter habe noch Armut erlitten. Nun gehe es ihr und
       ihrer Familie gut. Sie könnten sich Auslandsreisen leisten, ein eigenes
       Auto. In der Partei sei sie vor allem aus Karrieregründen. In den
       Staatsdienst, bei den großen Staatsunternehmen und für viele andere
       prestigeträchtige Jobs habe sie nur mit Parteibuch eine Chance auf eine
       Anstellung.
       
       Und wie steht sie zur sozialen Überwachung? „Es sind doch ein bisschen
       viele Kameras“, sagt die junge Frau und blickt sich um. Erst am Ende des
       Gesprächs sagt sie, dass sie gar nicht Haifeng heißt. Ihren wahren Namen
       möchte sie nicht nennen. Für all das, was sie erzählt habe, könnte sie
       schließlich sehr viele Minuspunkte erhalten.
       
       29 Apr 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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