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       # taz.de -- Kommentar Greta Thunberg: Sie ist keine Kassandra
       
       > Die Kassandra ist eine Hellseherin aus griechischen Sagen. Dem Anspruch
       > kann die Klimaaktivistin nicht genügen. Sie verdient unser Mitgefühl.
       
   IMG Bild: Die Funktion einer jeden Kassandra liegt in ihrer ganz und gar unmöglichen Rolle
       
       Kassandra ist eine historische Figur, überliefert in griechischen Sagen aus
       der Antike. Darin schenkt Apollon, schwerst verliebt und zu aller Gunst
       bereit, ihr die Fähigkeit zu sehen – die Kassandra auch fortan in sich
       trägt. Sie ahnt nicht mehr nur, sie weiß um die Zukunft, sie kann sehen.
       Persönlich endet ihre Geschichte tragisch, auch, weil sie Apollon nicht
       erhört.
       
       Die Figur dieser Griechin mag geschichtlich korrekt oder nur vage
       zutreffend geschildert worden sein – was aber gewiss ist, ist, dass es zu
       allen Zeiten Menschen, vor allem Frauen, mit kassandrischen Fähigkeiten
       gegeben haben soll – beziehungsweise das Publikum ihnen diese Gabe
       zuschrieb. In jüngerer Zeit war es in Deutschland die Schriftstellerin
       Christa Wolf, die daraus einen ganzen Roman gestrickt hat. „Kassandra“ war
       Anfang der 1980er Jahre das passende Vademecum der linksalternativen
       Kreise: Friedensbewegung, Frauenpolitiken.
       
       Dass es zu keiner atomaren Apokalypse gekommen ist, dass feministische
       Topoi keineswegs erstarben, vielmehr als geschlechterdemokratische
       Fragestellungen bis weit in die konservative Union hinein erörtert werden,
       mochte man an der „Kassandra“ der dräuenden DDR-Schriftstellerin nicht
       kritisieren. Kassandren stehen außerhalb jeder Kritik, literarisch bündeln
       sie Hoffnungen jenseits aller Konkretion, sie äußern Ängste und
       Furchtsamkeit kollektiver Art.
       
       Die Funktion einer jeden Kassandra liegt in ihrer ganz und gar unmöglichen
       Rolle, in ihrer spintisierenden Sprecher:innenfunktion zu sagen, was kommen
       wird. Dabei kann das niemand. Vielleicht kann es ein Gott, aber dessen
       Existenz ist ja auch nicht sicher. Was möglich ist, sind Einschätzungen zu
       dem, was wahrscheinlich sein könnte. Aller Leben ist eines im Dauerzustand
       des Vagen – und weil alle gern wissen möchten, was geschehen wird, was
       kommt, macht das die Figur der Seherin so attraktiv und erzählbegehrlich.
       
       ## Die unschuldig anmutende Greta
       
       Eine moderne Kassandra ist uns höchst aktuell geschenkt worden, und sie ist
       keineswegs wie das während der Antike lebende Vorbild dissidenter Art, sie
       ist kein Outcast, keine am Rand stehende junge Frau. Das ist ein Mädchen
       aus Schweden, es heißt Greta Thunberg.
       
       Sie ist inzwischen 16 Jahre alt, entstammt einer erfolgreichen
       Künstler:innenfamilie aus Stockholm und hat sich einen globalen Namen
       gemacht, nachdem sie mit einem handbemalten Schild vor dem schwedischen
       Landesparlament Platz nahm und in den Streik trat. Eine unschuldig
       anmutende Person, die mit antiaggressiver Geste (und deshalb umso
       nachdrücklicher) nur sagt, dass es Zeit für einen Klimastreik werde.
       
       Das war im vorigen Jahr – inzwischen hat sie in Deutschland von der
       TV-Zeitschrift Hörzu die „Goldene Kamera“ zuerkannt bekommen, für den
       Friedensnobelpreis ist sie auch schon vorgeschlagen worden, sie war bei
       einem Klimagipfel in Kattowitz, sie sprach im britischen Parlament und in
       Brüssel, natürlich war sie auch beim Papst.
       
       Sie ist die entscheidende Person, die die Schüler:innenbewegung „Fridays
       for future“ begründet hat. Schulstreiks an Freitagen als Teil des
       politisch-schulischen Herzens- und Bildungskanons, da kann [1][Christian
       Lindner von der FDP noch so sehr meckern]: Gegen Thunberg und ihre fellows
       ist kein Stich zu kriegen. Gegen wohligschauernde Botschaften einer
       Kassandra, so funktioniert die Kraft von Mythen, ist kein Kraut gewachsen.
       
       ## Krankheit als Zeichen der politischen Gesundheit
       
       Was sollen die politischen Eliten, die mehr der automobilen Agenda
       verpflichtet sind, einer, die den Klimawandel ernsthaft zu einem
       politischen Rettungsprojekt macht, auch sagen? Würde das, was Greta
       Thunberg botschaftet, von Hubertus Heil, Anton Hofreiter oder Sahra
       Wagenknecht kommen, würde dies nicht einmal eine Notiz in den Medien
       hinterlassen. Aber eine junge Frau, mit einem psychischen Handicap namens
       Asperger (eine Form des Autismus) versehen, die hat den heiligen, besser:
       kassendrischen Superbonus.
       
       In dem von Thunbergs Mutter Malena Ernman verfassten und Ende April auf
       Deutsch erschienenen Buch „Szenen aus dem Herzen – Unser Leben für das
       Klima“, werden die Urbedingungen des Making of … Greta Thunberg
       geschildert. Um eine archaische Weisheit zu zitieren: Unter jedem Dach ist
       ein Ach! Heißt: Auch bei der Familie Malena Ernmans und Svante Thunbergs
       mit ihren beiden Töchtern Greta Thunberg und Beata Ernman ist sehr viel
       los, mit dem man wirklich nicht so konkret zu tun haben möchte.
       
       Ein anekdotenreiches Kompendium über eine mittelschichtsbewusste,
       leistungsbewusste Künstler:innenfamilie, in der die Mutter als
       Opernsängerin beruflich (und weil sie es gut findet) viel in der Welt
       herumfliegt; in der der Mann den Hausvater gibt; und die Töchter irgendwann
       nicht mehr, so heißt es, „funktionieren“, wie es in leistungs- und
       meritenorienterten Mittelschichtsfamilien so zu laufen hat – nämlich wie
       ein Uhrwerk der lifestyligen Hochbegabtheiten. Greta Thunberg wird
       irgendwann verhaltensauffällig – sie isst nicht mehr, sie, so muss man es
       sagen, unterjocht ihre Familie mit ihrem Anderssein.
       
       ## Kinder als moralische Taktgeber
       
       Greta bleibt nicht allein, auch Schwester Beata erhält eine Diagnose, ein
       ADHS-Problem, ein Aufmerksamkeits- und Hypernervositätssyndrom: allesamt
       nur füreinander zugänglich über psychische Abweichungen mit hohem
       Potential, von außen als besonders mitgefühlig respektiert zu werden. Denn
       am Ende sind auch die Eltern nicht im klassischen Sinne funktionsfähig, die
       Mutter bekommt ebenfalls eine ersehnte Diagnose: Sie ist ein ADHS-Mensch,
       der Vater nicht minder in der Norm vom Intakten verankert.
       
       Die Kinder sind die moralischen Taktgeber:innen der Familie, die Eltern
       folgen ergeben. Das kommt einer Verkehrung generationeller Traditionen
       gleich, und das ist kein leichter Befund: Kinder – die über ihre von den
       Eltern diagnostizierten Krankheiten oder psychischen Abweichungen zu den
       Diktator:innen des familiären Geschehens werden.
       
       Und dass sie dies mit Billigung, ja, unbewusster Förderung der Eltern tun,
       spricht nicht für die Unvolljährigen, sondern gegen die offenkundig
       überforderten Eltern. Eine Krankheit, die sehend macht, am Ende die ganze
       Familie – Krankheit als Zeichen der politischen Gesundheit: Alle, die sich
       gesund fühlen, ja, nur wähnen, sind die wahrhaft Unerleuchteten, also
       Kranken. Greta Thunberg muss uns leidtun, das ihre Mutter das aus ihrer
       Krankheit macht.
       
       Die leistungsbewusste Mutter Malena kann ihren Stolz kaum verhehlen, kann
       als Asperger-Geplagte (oder besser: Gesegnete?), „gehört zu den wenigen,
       die unsere Kohlendioxide mit bloßen Augen erkennen können. Sie sieht, wie
       die Treibhausgase aus unseren Schornsteinen strömen“. Dass das gar nicht
       geht – geschenkt. Freilich ist der Satz auch mehr als mütterlicher
       Größenwahn, das ist die Aufbereitung von Indizien, die eine menschliche
       Person als Heilige ausweisen, und zwar, das ist im Vergleich mit Kassandra
       historisch neu, zu Lebzeiten.
       
       Was Greta Thunberg sagt – dass alle vom Klimawandel reden, die
       Politiker:innen aber wenig oder nichts tun, die anderen, etwa die Fülle von
       Mittelschichtsangehörigen wie die der Thunberg-Eltern, durch die Welt
       jetten, als seien Flüge nicht klimaschädlich –, mag richtig sein: [2][Ihr
       seid Heuchler:innen!] Worüber sie aber nicht spricht, was in der Feier
       dieser Kassandra untergeht, ist das, was man politisches Handeln nennen
       muss.
       
       Eine andere Klimapolitik – global!, nicht nur innerfamiliär – hat nach
       allem, was man weiß, eine Änderung der politischen Verhältnisse zur Folge.
       Mit Regierungen, die die Transformation zu einer klimaneutralen Ökonomie so
       moderieren, dass ihnen die Mehrheit nicht flöten geht. Also mit
       demokratisch gewählten Regierungen. Bei Kassandra Thunberg indes bleibt die
       Frage übrig: Würde sie mit globalen, nicht nur innerfamiliären Wut- und
       Trotzanfällen nötigenfalls auch diktatorischer Art re(a)gieren, täte die
       Welt ihre politisch-moralischen Wünsche nicht erhören?
       
       6 May 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Parteitag-der-FDP/!5590914
   DIR [2] /Essay-zum-neuen-Oeko-Kulturkampf/!5585593
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
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