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       # taz.de -- Die Wahrheit: Die hobelnde Klapperschlange
       
       > Bei einer kleinen Operation untenrum kommen die Eigenheiten der
       > Ostwestfalen ans Licht. Es muss ja nicht immer alles gleich erledigt
       > werden.
       
       Seit ein paar Tagen benutze ich zum ersten Mal seit ewigen Zeiten einen
       Waschlappen. Ich darf nicht duschen. Ich wurde an einer etwas schwierig zu
       erreichenden Stelle operiert – Hüfte rechts, fast hinten. Ohne Spiegel sehe
       ich die gar nicht, sie gehört aber eindeutig zu mir. Jedenfalls fehlt da
       nun ein Hautlappen von überraschender Größe, ich schätze:
       klopapierblattmäßig.
       
       Im Spiegel sah das zuerst noch gewaltiger aus, circa DIN-A4-groß, bis die
       Frau Doktor der Assistentin sagte: „Zeigen Sie ihm das doch bitte nicht mit
       der Vergrößerungsseite des Spiegels, er bekommt ja schon Angst.“ Also, zwei
       Drittel Klopapierblattgröße, quasi Spielkartenformat. Mir sollte ein Ass
       von der Hüfte gehobelt werden.
       
       Frau Doktor ist eigentlich sehr sympathisch und auch im Umgang eine
       angenehm rustikale Person. Sie behandelte mich und meine Hüfte etwa so, wie
       ich früher als Zimmermann den Balken, in den ich die Zapfenlöcher fürs
       Fachwerk stemmen musste. Für sie war ich ein Balken.
       
       Ich hatte mich – so kannte ich das aus Westernfilmen – darauf eingestellt,
       vor dem Schnitt ein paar Schluck Whisky zu trinken und mir dann ein
       Holzstück zwischen die Kiefer zu klemmen, auf das ich beißen würde, während
       sie das Bowie-Messer aus den Lagerfeuerflammen holte. Stattdessen spritzte
       sie großflächig und vor allem mehrfach. Ich zuckte einige Male. „Ja, das
       muss ich jetzt noch ein paarmal machen.“ Ich fühlte mich, als würde eine
       Klapperschlange meine Hüfte perforieren. Da ich kein Holzstück zwischen den
       Zähnen hatte, unterhielten wir uns.
       
       Sie stammt aus Südhessen und vermisst in Ostwestfalen so allerhand. Ich
       schwärmte ihr eins vor von Land und Leuten. Sie zog die Augenbrauen hoch:
       „Ich weiß, wie ihr seid!“ – „Was soll das denn heißen?“ – „Mein Mann kommt
       auch von hier. Wenn der sagt: ‚Ja, gleich!‘, dann frag ich ihn, ob er sein
       ‚gleich‘ oder mein ‚gleich‘ meint. Das ostwestfälische ‚gleich‘ kann
       nämlich schon mal ein Jahr dauern. Oder länger!“
       
       Ich hielt das für kompletten Blödsinn, wollte das in meiner Lage aber nicht
       behaupten und erinnerte mich, wie ich der Meinen neulich, also vor drei
       Monaten, ihr neues Bild „ja, gleich“ an die Wand nageln wollte. Nun hat sie
       das am vergangenen Wochenende selber gemacht.
       
       Ich fragte, als Frau Doktor kurz auf das Einsetzen der Wirkung ihrer
       Klapperschlangenbisse wartete: „Wenn Sie hier an mir schneiden, das wird
       aber keine Übertragung, weil Ihr Mann nicht in die Pötte kommt?“ – „Nee“,
       sagte sie, „keine Angst, ich mach das gleich.“ Irgendwie fand ich sie
       gerade nicht witzig.
       
       Das ist nun drei Tage her. Seither wasche ich den ganzen Körper mit einem
       Waschlappen. Hab ich von meinen Eltern geliehen. „Den brauchst du nicht
       waschen, das mache ich“, hatte meine Mutter noch gesagt. So weit kommt’s
       noch! „Nee, den wasch ich gleich.“ – „Dann seh ich den ja nie wieder!“
       Woher weiß meine Mutter das? Aber die kommt ja auch von hier!
       
       7 May 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernd Gieseking
       
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