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       # taz.de -- Erforschung der Biodiversität: Ökosysteme unter Glas
       
       > In den Versuchskammern des IDiv können Biodiversitätsforscher komplexe
       > Ökosysteme nachbauen und exakt regulieren.
       
   IMG Bild: Die Umweltbedingungen in den Versuchskammern lassen sich präzise verändern
       
       Bad Lauchstädt taz | Auf den ersten Blick erscheint Bad Lauchstädt wahrlich
       nicht wie ein Ort, der einen weltweit einzigartigen Forschungsstandort
       beherbergt. Die kleine Gemeinde im Süden Sachsen-Anhalts zählt nur etwas
       mehr als 8.800 Einwohner, die auf ihren historischen Stadtkern, ihr
       prunkvolles barockes Schloss und ihr renommiertes Goethe-Theater stolz
       sind. Auf den zweiten Blick ist es aber vielleicht gerade dieser Kontrast,
       der Bad Lauchstädt ideal für einen solchen Forschungsstandort macht.
       
       Denn verlässt man die Stadt in Richtung Norden, stößt man auf eine der
       modernsten Anlagen für Biodiversitätsforschung, die es derzeit auf der Welt
       gibt: In einer ehemaligen Garage für Landwirtschaftsmaschinen betreibt das
       [1][Deutsche Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv)
       Halle-Jena-Leipzig] in Zusammenarbeit mit dem [2][Helmholtz-Zentrum für
       Umweltforschung (UFZ)] hier das [3][iDiv Ecotron.]
       
       Die Anlage besteht aus 24 Versuchskammern, den so genannten EcoUnits. Deren
       Anblick erinnert ein wenig an „Jurassic Park“: Die großen,
       lichtdurchfluteten Kästen aus Kunststoff, Glas und Metall sind 1,5 Meter
       breit, 3 Meter hoch und zur Hälfte mit Erde befüllt, stellen allerdings
       keine Brutkästen für Dinosauriereier dar. Trotzdem steht hier, ebenso wie
       in Steven Spielbergs Filmklassiker, das Artensterben im Mittelpunkt.
       
       Mitte 2017 wurde das iDiv Ecotron eingeweiht. Anfang dieses Jahres ist der
       empirische Teil der ersten Pilotstudie zu Ende gegangen. „Das war ein groß
       angelegtes Projekt – und sehr erfolgreich“, sagt Projektkoordinatorin Anja
       Schmidt. Ausschlaggebend für die Durchführung waren Zahlen des
       Entomologischen Vereins Krefeld, die im Oktober 2017 bundesweit für
       Schlagzeilen sorgten: Die Biomasse von Fluginsekten, hieß es da, sei
       innerhalb von 27 Jahren um 75 Prozent geschrumpft.
       
       „Wir stellten uns die Frage, welche konkreten Auswirkungen das auf ein
       Ökosystem hat“, so Schmidt. Also setzte man zahlreiche Wiesenpflanzen in
       den EcoUnits („Das waren im vergangenen Sommer wohl die einzigen Pflanzen
       in Europa, denen es gut ging“, so Schmidt im Rückblick auf das Dürrejahr
       2018) und fügte unterschiedlich große Insektenpopulationen hinzu.
       
       ## Insect-Armageddon
       
       Acht Kammern wurden mit einer zuvor festgelegten Menge befüllt, acht
       weitere mit einem Viertel davon, die übrigen acht blieben leer. In den
       folgenden Monaten wurden die Tiere regelmäßig ausgetauscht und die
       Forscher*innen dokumentierten die biologische Entwicklung innerhalb der
       EcoUnits. Der interne Name des Projekts: „Insect-Armageddon“.
       
       Derzeit werden die Tiere per Hand ausgezählt. Es werde deshalb noch ein bis
       zwei Jahre dauern, bis die Endergebnisse publiziert werden, sagt
       Studienleiter Professor Nico Eisenhauer. Er hat sich in einem kleinen Büro
       im Leipziger Hauptstandort des iDivs eingerichtet, einem modernen Bau, der
       ebenso wie die Ecounits vorrangig aus Glas und Metall besteht.
       
       Im Gespräch kann Eisenhauer jedoch schon von den ersten Erkenntnissen der
       Studie berichten: „Es scheint, dass von einer allgemein geringeren
       Insektenpopulation vor allem pflanzenfressende Insekten profitieren: Wenn
       wir die Anzahl der Wirbellosen reduzieren, reduzieren wir auch die Arten,
       die Pflanzenfresser in Schach halten.“ Pflanzenschädlinge können ihrem
       Handwerk also effektiver nachgehen, benötigen sie doch eine größere Menge
       an Nahrung als Predatoren, deren Nahrungsquelle energiereicher ist.
       
       Das Konzept eines Ecotrons – einer abgeschlossenen Kammer, in der
       Ökosysteme manipuliert und untersucht werden können – ist beileibe nicht
       neu. Die Idee kam bereits Ende der 1950er Jahre auf. Als eines der
       bekanntesten gilt das Silwood Park Ecotron auf dem Campus des Imperial
       College in London. Die Forschung dort konzentrierte sich, so Eisenhauer,
       aber in erster Linie auf Pflanzen. „Das iDiv Ecotron ist weltweit
       einzigartig, weil es dafür entwickelt wurde, komplexe Gemeinschaften zu
       manipulieren.“
       
       ## Umweltfaktoren können reguliert werden
       
       Das herausstechende Merkmal: Während andere Ecotrons in der Regel aus einer
       einzelnen großen, begehbaren Kammer bestehen, sind es in Bad Lauchstädt 24
       separate. Die wurden zur besseren Kommunikation mit Namen und Figuren aus
       der Film- und Popkultur versehen: „Homer Simpson“, „Millennium Falke“,
       „Super Mario“. Die Units sind mit zahlreichen über- und unterirdischen
       Sensoren ausgestattet, Umweltfaktoren wie Beregnung und Lichteinstrahlung
       können präzise reguliert werden. Mittels Plexiglasplatten lassen sie sich
       zudem in vier Teilbereiche splitten. Auf diese Weise können gar bis zu 96
       unterschiedliche Ökosysteme erschaffen werden.
       
       Das iDiv Ecotron schlage damit die Brücke zwischen Feld- und
       Laborversuchen, so Schmidt. Im Freien ließen sich Versuchsabläufe nahezu
       kaum replizieren, im Labor könne in der Regel nur ein einzelner Faktor
       untersucht werden. „Bei uns werden die Vorteile beider Ansätze kombiniert.“
       Im Falle des „Insect-Armageddon“-Experiments konnten deshalb deutlich
       validere Ergebnisse als bisher erzielt werden: Zu jeder
       Insekten-Populationsgröße existierten schließlich sieben Kontrollgruppen.
       
       Mit dem Abschluss des praktischen Teils ihrer Pilotstudie haben die
       Forscher*innen des iDiv nach eigener Aussage einen großen Schritt
       bewältigt. Während der vergangenen Monate wurden hier Wartungsarbeiten und
       kleinere Verbesserungen an den EcoUnits durchgeführt. Nun ziehen wieder
       Tier-, Pflanzen-, Mikrobiolog*innen, Chemiker*innen und Ökolog*innen
       verschiedenster Universitäten und Institute ein, um die Auswirkungen des
       Klimawandels und Insektensterbens zu untersuchen. Die Forschung in diesem
       Bereich sei – glaubt man den Worten Nico Eisenhauers – essentiell für die
       Zukunft von Mensch und Natur. Einerseits aus ganz praktischen Gründen wie
       Luftreinheit und Ackerbau. Andererseits aber auch aus ethischen Gründen:
       „Wir haben eine moralische Verantwortung, die Vielfalt der Natur zu
       schützen – oder sie zumindest nicht zu zerstören.“
       
       ## Dürre und Starkregen
       
       Aktuell stehen deshalb zwei weitere Versuchsanordnungen in den
       Startlöchern. Das erste – eine Kooperation mit der Universität Jena – läuft
       unter dem Namen „EcoXtremes“. Ziel ist es, die Auswirkungen von
       Wetterextremen und Herbivorie auf mikrobielle Gemeinschaften,
       Wassertransportmechanismen und Nährstoffkreisläufe zu untersuchen. Das
       Vorhaben: intakte Bodenkerne – so genannte Monolithe – in sechs Ecounits
       einzubringen, anstatt wie bisher ein wildes Erdgemisch zu nutzen. Auf
       diesen Monolithen wurden zuvor Buchen angepflanzt. „Dadurch können bereits
       bestehende Wechselwirkungen in natürlichen Systemen untersucht werden“, so
       Eisenhauer. Die Kammern werden anschließend mit Raupen des
       Schwammspinner-Nachtfalters bevölkert. Während eine Hälfte dann ein Leben
       in gemäßigten Wetterverhältnissen verbringen darf, wird die andere Dürre
       und Starkregen ausgesetzt.
       
       Das zweite Experiment – genannt „EcoTrack“ – soll Bewegungsmuster von
       Wirbellosen untersuchen und inwiefern diese von der Baumdiversität eines
       Ökosystems beeinflusst werden. Laufkäfer, Hundertfüßer, Asseln und andere
       Arten werden dazu mit winzigen Markern versehen. Sensoren erfassen dann
       ihre Bewegungen, die am Ende digital ausgewertet werden können. Auch wollen
       die Forscher*innen dabei erstmals die Temperatur innerhalb einzelner
       Kammern manipulieren.
       
       „Die Anlage hat enormes Potential“, sagt Nico Eisenhauer. Ausgeschöpft ist
       es noch lange nicht.
       
       12 May 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.idiv.de/de.html
   DIR [2] https://www.ufz.de
   DIR [3] https://www.idiv.de/de/forschung/plattformen_und_netzwerke/idiv_ecotron.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Neffe
       
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