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       # taz.de -- Ausflug in die Servicewüste
       
       > Ausspannen auf dem Land? Die Zahl der Urlauber*innen in ländlichen
       > Regionen Deutschlands steigt. Die hohe Nachfrage bringt Jobs, doch
       > Fachkräfte für Restaurants und Hotels fehlen. Mit Idylle allein können
       > viele Arbeitnehmer*innen nichts mehr anfangen
       
   IMG Bild: Gute Zeiten im Spreewald-Resort „Seinerzeit“. Chef Raymond Fränkel im Speisesaal
       
       Aus Schlepzig und Berlin Leonie Schöler
       
       Besonders groß ist Schlepzig nicht: Nur eine Hauptstraße führt durch das
       brandenburgische Dorf inmitten des Spreewalds; sie verbindet eine kleine
       Kirche, ein Brauhaus und ein Museum miteinander.
       
       In den Sommermonaten reisen dennoch Tausende TouristInnen in den Ort,
       erkunden per Boot die zahlreichen Spreearme, die das Dorf kreuzen. An
       diesem Aprilfreitag hat die Hauptsaison eigentlich noch nicht begonnen.
       Doch angesichts der warmen Frühlingstemperaturen sitzen zahlreiche Menschen
       im Garten des Brauhauses.
       
       Das Brauhaus gehört zum Hotel „Seinerzeit“. Ursprünglich wurden hier für
       die Tourist*innen neben Getränken auch Speisen aus der Hotelküche
       angeboten. Doch seit anderthalb Jahren ist der Restaurantbetrieb tagsüber
       geschlossen und wird nur noch abends für die Hotelgäste angeboten. Es fehlt
       das Personal, um die Gäste zu bekochen und zu bedienen. „Unsere Branche ist
       komplett am Aussterben“, sagt Köchin Michaela Schlag, während sie gefülltes
       Brot für das Abendessen zubereitet. Mehr als 30 Jahre habe sie in
       zahlreichen Küchen in ganz Deutschland gearbeitet, bevor sie aus familiären
       Gründen zurück in ihre Heimatregion zog.
       
       Michaela Schlag sieht schwarz für die Zukunft der Gastronomie- und
       Tourismusbranche: „Wir verlieren den Nachwuchs. Gerade auf dem Land will
       hier niemand mehr arbeiten.“ Weil immer mehr junge Leute wegziehen, fehle
       das Personal, um den Service aufrechtzuerhalten.
       
       Dabei könnte der Tourismus in Deutschland eine wahre Erfolgsgeschichte
       sein. 478 Millionen Übernachtungen zählte die Branche 2018, im Vergleich zu
       2017 ist das ein Plus von 4 Prozent. Bei der Eröffnung der Reisemesse ITB
       im März in Berlin sprach Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) davon,
       der Tourismus sei „eine enorme wirtschaftliche Chance für Wachstum und
       Wohlstand für alle Menschen auf diesem Planeten“.
       
       Doch gerade dieses Wachstum stellt sich in Deutschland zunehmend als
       Problem heraus: Immer mehr Stellen werden geschaffen, die letztendlich
       unbesetzt bleiben. Aktuell arbeiten 12 Prozent der Beschäftigten im
       Tourismusbereich. Doch die Zahl sinkt. Laut einer Umfrage der Deutschen
       Industrie- und Handelskammer (DIHK) zur Ausbildung 2017 konnten 57 Prozent
       der Betriebe ihre Ausbildungsstellen nicht besetzen. Der Durchschnitt aller
       Branchen beträgt 34 Prozent. Kein anderer Wirtschaftszweig hat derartige
       Probleme, Nachwuchs zu finden.
       
       Diese Entwicklung trifft die ländlichen Regionen am härtesten. Ausgerechnet
       dort, wo die Tourismusbranche meist der größte, oftmals einziger
       Arbeitgeber ist. Die Folge: Immer mehr Betriebe machen dicht, weil sie der
       hohen Nachfrage an Dienstleistungen nicht mehr nachkommen können.
       
       In Schlepzig arbeiten fast alle der 600 Einwohner*innen im Tourismus. Sie
       vermieten im Sommer Paddelboote, betreiben kleine Imbisse oder bieten
       Wasserwanderungen an. Im Jahr kommen um die 12.000 Tourist*innen, schätzt
       das Statistische Bundesamt. Doch die örtliche Hotel- und Gastronomiebranche
       wird der Nachfrage an Dienstleistungen nicht mehr gerecht, weil es an
       gelerntem Fachpersonal fehlt.
       
       Raymond Fränkel, der Direktor des Hotels Seinerzeit, ist überzeugt, dass es
       die Rahmenbedingungen sind, die junge Leute davon abschrecken, in der
       Tourismus- und Gastronomiebranche zu arbeiten. 50 Personen sind momentan in
       seinem Hotel angestellt. Eigentlich müssten es noch um die 15 mehr sein, um
       alle Dienstleistungen anbieten zu können. „Nur noch wenige wollen abends,
       am Wochenende oder an den Feiertagen in so körperlich anstrengenden Jobs
       wie Kellner oder Köchin arbeiten.“
       
       Wer doch dazu bereit ist, ziehe eher in größere Städte wie Potsdam oder
       Berlin – weg aus den strukturschwachen Regionen im ländlichen Brandenburg.
       „Dieses Jahr haben wir noch niemanden für eine Ausbildung gewinnen können“,
       erzählt Fränkel, der die Ratlosigkeit in seiner Stimme kaum verbergen kann.
       Weder für den Hotelbetrieb, den Service, noch für die Küche sei Nachwuchs
       gefunden worden.
       
       Die Arbeitszeiten seien natürlich hart, sagt auch Michaela Schlag. Zudem
       sei der Lohn nicht mit dem vergleichbar, was eine studierte Juristin oder
       ein Beamter verdienen. Aber nicht jeder sei zum Studieren gemacht. Das
       Handwerk verliere in ihren Augen zunehmend an Ansehen und damit an
       Tradition. Die hochgewachsene Köchin berichtet auch von ihrer Erfahrung als
       Frau in der Gastronomiebranche. Oftmals würden Frauen weniger verdienen,
       die in der Gastronomiebranche arbeiten.
       
       „Dazu kommt ja noch: Im Grunde musst du dich als Frau zwischen
       Dienstleistung und Kindern entscheiden.“ Solange Kindererziehung immer noch
       Frauenaufgabe sei und die Betreuung in Kindergärten wenig flexibel, wäre
       ein Job im Service insbesondere für Alleinerziehende keine Option. „Wenn du
       dein Kind nur zwischen 9 und 16 Uhr betreuen lassen kannst und um 17 Uhr
       die Schicht beginnt, bist du raus. Aufteilen kann man sich ja nun mal
       nicht.“ Ein Großteil potenzieller Arbeitskräfte ginge damit verloren. Die
       Branche habe es nicht geschafft, Frauen entsprechend zu fördern.
       
       Mehrere Restaurants und Hotels aus Brandenburg, Thüringen und
       Mecklenburg-Vorpommern, die ihren Betrieb teilweise oder sogar ganz
       einstellen mussten, haben mit der taz gesprochen. „Aktuell sind wir
       personell gut aufgestellt. Aber das kann in einem Monat schon wieder anders
       aussehen“, berichtet Mandy Kleemann, Geschäftsführerin des Restaurants „Die
       Drogerie“ im südbrandenburgerischen Senftenberg. Über einen Lieferanten
       habe sie davon erfahren, dass im Umland ein Koch eine neue Stelle suche,
       und ihn sofort eingestellt – ein „glücklicher Zufall“, wie Kleemann betont.
       
       Einige Kilometer weiter in der kleinen Kreisstadt Luckenwalde hatte
       Restaurantbesitzer Raymon Ummels weniger Glück: Sein Steakhaus musste er
       vor drei Monaten schließen – wegen Personalmangel. „Das bedeutet eigentlich
       den finanziellen Ruin“, sagt Ummels, der trotzdem einen weiteren Versuch
       startet: Aktuell baut er sein Restaurant um – diesmal setzt er auf gehobene
       deutsche Küche – und hofft, dass er künftig genügend Personal findet. Sonst
       wird er erneut schließen müssen – das Ende einer über 30-jährigen Karriere
       im Gastronomiegewerbe.
       
       So wie den Kolleg*innen in Brandenburg geht es auch Rita Reinhard, die mit
       ihrer Familie das Hotel Quisisana in Oberhof führt. Dies liegt mitten im
       Thüringer Wald, gerade mal 1.600 Menschen leben hier. Oberhof ist nach
       Erfurt und Weimar das beliebteste Reiseziel Thüringens. Hotels, Pensionen
       und Ferienwohnungen reihen sich eng aneinander. 34 Stück sind es insgesamt,
       die 2018 gut 364.000 Gäste beherbergten. Das stärkste Zugpferd für den
       Tourismus in Oberhof ist der Wintersport. Es gibt zahlreiche Anlagen und
       Rennstrecken für Wintersportler*innen, regelmäßig finden internationale
       Wettbewerbe wie der Biathlon-Worldcup statt.
       
       Doch anders als vor einigen Jahren buchen die Tourist*innen heute spontan
       und bleiben oft nur für ein verlängertes Wochenende. „Die Leute schauen
       sich den Wetterbericht an und entscheiden daran, ob sie für ein paar Tage
       raus in die Berge fahren wollen“, sagt Rita Reinhard.
       
       Trotzdem boomt der Tourismus. Umso mehr überrascht es, dass auch dort kaum
       jemand in der Branche arbeiten möchte. Weil sie keine Kellner*innen finden,
       musste das Quisisana im Frühjahr 2018 den Restaurantbetrieb schließen –
       nach 25 Jahren. „Eigentlich wollten mein Mann und ich hier noch zwei Jahre
       weitermachen, bevor wir in Rente gehen.“ Auf die Stellenanzeigen im
       Internet und in regionalen Zeitungen gab es keine Bewerber*innen.
       
       Zwei junge Frauen, die im Hotel eine Ausbildung beginnen sollten,
       entschieden sich letztendlich dagegen und nahmen einen Bürojob auf. „Wer
       will schon noch abends, am Wochenende und an Feiertagen arbeiten, für das
       branchenübliche wenige Geld und in so einem kleinen Ort wie Oberhof“, sagt
       Reinhard resigniert. Die Tourist*innen strömen weiterhin herbei –
       insbesondere die jüngeren Einheimischen ziehen weg oder arbeiten in einer
       der größeren Städte der Region, in Erfurt, Gotha oder Ilmenau.
       
       Als Lösung will die Branche jetzt vermehrt auf Fachkräfte aus dem Ausland
       setzen. In Brandenburg wurden bis vor einigen Jahren polnische Fachkräfte
       angeworben, doch mittlerweile ist das Personal auch im Nachbarland knapp.
       Eine größere Rolle spielt deshalb die Integration von Geflüchteten.
       „Mittlerweile arbeitet fast jeder fünfte Geflüchtete mit einem
       sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz im Gastgewerbe“, sagt Alexander
       Schirp, Geschäftsführer der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg. Auch
       Fachkräfte aus Südeuropa, wo die Jugendarbeitslosigkeit besonders groß sei,
       könnten sich über europäische Sprach- und Förderprogramme auf
       Ausbildungsplätze bewerben.
       
       Zusätzlich bemühe man sich, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, wie durch
       Zuschüsse bei den Fahrtkosten, ergänzt Carsten Bönstrup von den
       Unternehmensverbänden Brandenburg.
       
       Nicht alle sind davon überzeugt: Auf lange Sicht werden vor allem
       Familienbetriebe das Nachsehen haben, meint Raymond Fränkel vom Hotel
       „Seinerzeit“ zu den Ideen aus der Branche. Mittelständische Betriebe wie
       sein Hotel werden auch zukünftig Probleme haben, Stellen zu besetzen und
       alle Dienstleistungen anzubieten. Wenn sich nicht grundlegend die ländliche
       Infrastruktur verändert und auch für jüngere Menschen wieder attraktiv
       wird, werden Arbeits- und Ausbildungsplätze vermutlich auf lange Zeit
       unbesetzt bleiben.
       
       6 May 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Leonie Schöler
       
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