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       # taz.de -- Kommentar Beschwerden über Mathe-Abi: Schülerprotest wirkt
       
       > Die Aktionen gegen das Mathe-Abi könnten das Bildungssystem umkrempeln.
       > Und das ist erst der Anfang eines neuen Rollenverständnisses.
       
   IMG Bild: Ob Klima oder Mathe-Abi: Die neue Generation hat politische Forderungen und wird sie durchsetzen
       
       Manche gesellschaftlichen Reflexe sind so vorhersehbar, dass sie
       langweilen. Zumindest auf den ersten Blick. Ein vortreffliches Beispiel
       dafür ist die Häme, die zehntausenden AbiturientInnen seit Anfang der Woche
       entgegenschlägt, weil sie ihre Mathe-Prüfungen zu schwer fanden und sich
       darüber bei den zuständigen Ministerien beschwert haben. Eltern,
       Unternehmensvertreter und sogar Beamte überbieten sich seither im Netz mit
       bissigem Spott über den Unmut der Teenager.
       
       Da witzelt die schwäbische Polizei über den „neuesten Leak zum
       #Mathe-Abitur“ („Addieren Sie Autofahren mit Handy. Multiplizieren Sie mit
       erhoehter Geschwindigkeit und Alkohol. Substrahieren Sie anschliessend
       Ihren Fuehrerschein“). Da postet der Schokoladenhersteller Ritter Sport ein
       Foto einer ausgepackten Tafel Schokolade und stellt den AbiturientInnen
       eine „(Denk-)Sport Aufgabe“ (Zitat: „Wie viele Quadrate siehst du hier?“).
       Da sinnieren Klugscheißer über Rechtschreibfehler bei den eingereichten
       Onlinepetitionen. („Wenn man sich den Petitionstext durchliest, bekommt man
       den Eindruck, dass es auch in den Deutschprüfungen schwierig werden
       könnte“). Und natürlich lassen die Ewiggestrigen in Schulfragen ihr
       ritualisiertes „Das Gymnasium ist halt nicht für jedermann!“ vom Stapel. So
       erwartbar, so daneben.
       
       Schließlich haben die AbiturientInnen – zumindest im Prinzip – recht. Das
       deutsche Abitur ist höchst ungerecht, einzelne Mathe-Aufgaben hin oder her.
       Ein [1][bayerisches Abi ist schwerer] als eines in Thüringen oder Berlin,
       auch wenn das niemand öffentlich zugeben will. Jedes Bundesland hat seine
       eigenen Standards und (bis auf die wenigen gemeinsamen Abituraufgaben)
       seine eigenen Prüfungen.
       
       Und dennoch wählen die Unis in München, Erfurt oder Berlin ihre
       BewerberInnen fast ausschließlich nach deren Abi-Schnitten aus. Von
       gerechtem Abi kann also nicht die Rede sein – nichts anderes aber fordern
       die SchülerInnen nun ein.
       
       ## Eklatanter Missstands im Bildungssystem
       
       Das wissen auch die KultusministerInnen. Es mag ein Grund dafür sein, warum
       einige von ihnen umgehend klar gestellt haben, dass sie die SchülerInnen
       ernst nähmen, deren Beschwerden prüfen und gegebenenfalls die Notenschnitte
       angleichen werden. Das ist zwar unwahrscheinlich, wie der Umgang mit
       ähnliche Beanstandungen in der Vergangenheit gezeigt hat.
       
       Der entscheidende Punkt ist aber ein anderer: Die AbiturientInnen haben es
       binnen weniger Tage geschafft, einen eklatanten Missstand im Bildungssystem
       zu benennen, Zehntausende zum Unterzeichnen ihrer Online-Petitionen zu
       bewegen, und bräsigen LandespolitikerInnen eine [2][öffentliche Reaktion
       abzuringen].
       
       Das ging ganz nebenbei deutlich schneller als bei den „Fridays for
       Future“-Protesten, wäre aber ohne sie nicht denkbar. Bei den Schülerstreiks
       taten die MinisterInnen lange so, als seien diese fürs Klima nichts weiter
       als eine verwaltungstechnische Angelegenheit (Sanktionieren ja oder nein?),
       mit denen sich die Schulen rumschlagen sollten. Dass sie dabei selbst nicht
       die beste Figur machten, ist auch ein Grund dafür, warum sich die
       SchulministerInnen nun so beflissen zu Wort melden. „Lesson learned“,
       möchte man rufen.
       
       ## Eine ganze Generation politisiert sich
       
       Und das ist erst der Anfang eines neuen Rollenverständnisses. Und zwar
       nicht nur bei der Debatte um das Mathe-Abitur. Schon jetzt haben die
       SchülerInnen die alte Diskussion um das bundesweite Zentralabitur (das die
       Länder ablehnen) neu angestoßen. Jede unterstützende Wortmeldung aus der
       Wissenschaft, von Lehrerverbänden oder Bundestagsabgeordneten – die gibt es
       alle bereits – können sie als persönlichen Erfolg verbuchen. Das wird auch
       den Jahrgängen unter ihnen nicht entgehen.
       
       Kaum vorstellbar, dass sich künftig noch ein Abiturjahrgang mit der
       Begründung abspeisen lässt, die Prüfungen seien dieses Mal halt etwas
       schwerer ausgefallen. Oder hätten, wie der Bayerische Lehrer- und
       Lehrerinnenverband lakonisch meint, halt aus sehr viel unnötigem Text
       bestanden.
       
       Besten Dank! Nein, die [3][Politisierung], die die Schulen seit den ersten
       „Fridays for Future“-Demos erfasst hat, sie richtet nun den Blick nach
       innen, zurück auf das Schulsystem. Und die AbiturientInnen von heute sind
       die Studierenden, Auszubildenden, ErzieherInnen, LehrerInnen und
       ProfessorInnen von morgen. Ganz klar, die Proteste gegen das Mathe-Abi
       haben das Zeug, das Bildungssystem umzukrempeln. Und das heißt für die
       Bildungsministerien in diesem Land: Es wird unangenehm. Denn Missstände an
       deutschen Kitas, Betrieben, Schulen und Hochschulen gibt es zur Genüge.
       
       Sei es die Chancenungleichheit zwischen Kindern mit und ohne
       Migrationshintergrund. Sei es die Überforderung vieler Lehrkräfte im Umgang
       mit Mobbing. Oder sei es die unzureichende digitale Ausstattung und
       Kompetenz an den Schulen. Oder – an den Unis – die Abhängigkeit der
       wissenschaftlichen MitarbeiterInnen vom Gutdünken eines quasi feudalen
       Lehrstuhlinhabers. Und so weiter und so fort. Wir müssen uns darauf
       einstellen – nein, wir dürfen uns darauf freuen – dass nicht mehr nur
       ForscherInnen, PädagogInnen, JournalistInnen und AktivistInnen diese
       Schwachstellen anprangern werden, sondern die aktuelle und künftige
       SchülerInnen-Generationen.
       
       ## Das neue Selbstbewusstsein der SchülerInnen
       
       Um nur ein kleines erstes Beispiel für das neue Selbstbewusstsein der
       SchülerInnen zu geben: Am Dienstag postete eine Schülerin auf Twitter eine
       Aufgabenstellung aus dem Englischunterricht, nach der sie für ein fiktives
       Streitgespräch Argumente für den Sklavenhandel vorbringen soll. Dafür
       sollte sie sich vorstellen, selbst eine Sklavenhalterin zu sein. Ihr
       Kommentar dazu („einfach nur ekelhaft und unüberlegt“) brachte weit über
       tausend Likes ein. Und das ist nach einer Schnellhochrechnung deutlich
       mehr, als die 16 BildungsministerInnen in einem gesamten Monat an
       virtueller Zustimmung einheimsen.
       
       Wie bei den beanstandeten Mathe-Prüfungen liegt auch in diesem Fall ein
       gravierendes Problem im Bildungssystem zu Grunde, das bislang noch nicht
       konsequent genug angegangen wurde: die mangelnde Qualität von Schulbüchern.
       Dass in einigen rassistische oder stereotype Darstellungen beim Thema
       Migration, Integration, Islam und Judentum verbreitet werden und diese
       Bücher immer noch zum Einsatz kommen, sagt viel aus über das Bewusstsein in
       den entsprechenden Ministerien und Schulbuchverlagen.
       
       So gesehen müssten sich KultusministerInnen dieses Landes ehrlich freuen,
       wenn SchülerInnen ihre Eindrücke vom Schulsystem wahrnehmbar artikulieren
       und sich stärker für ihre eigenen Interessen einsetzen. Denn so wird aus
       den Schulen auch das, was bei all dem Lern- und Lehrplanstress viel zu kurz
       kommt: eine wahrhaftige Demokratiewerkstatt.
       
       Und damit hätten die Schülerinnen und Schüler in Zeiten von Fake News, AfD
       und Dexit-Fantasien schon das wichtigste Lernziel überhaupt erreicht. Eines
       mit Stern. Und bitte bloß nicht wieder setzen!
       
       10 May 2019
       
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       ## AUTOREN
       
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