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       # taz.de -- Deutschland siegt im Laster-Vergleich: Rauchen, saufen, fressen ohne Ende
       
       > In keinem Land der EU kann man so ungestört seinen Lastern nachgehen wie
       > in Deutschland. Das zeigt der neue „Nanny-Index“.
       
   IMG Bild: Deutsche Auswahl: In keinem anderen EU-Land kann man so gut trinken, essen und rauchen
       
       Berlin taz | Deutsche sind humorlos, spaßbefreit, langweilig. Ernst ist
       hierzulande schließlich nicht nur Programm, sondern auch ein Vorname.
       Überraschend wenig nüchtern sind daher die Ergebnisse des [1][„Nanny State
       Index 2019“], auf dem die Bundesrepublik den ersten Platz belegt. In ganz
       Europa könne man sich nirgendwo so ungestört betrinken, essen und rauchen
       wie in Deutschland, [2][heißt es im Länderprofil.]
       
       Seit März 2016 erscheint der „Nanny State Index“, zu deutsch
       „Bevormundungsstaats-Index“, jährlich und wird vom European Policy
       Information Center herausgegeben, einem Zusammenschluss von neun
       europäischen marktliberalen Denkfabriken. Der Index vergibt hohe
       Punktzahlen an EU-Mitgliedsländer, wenn der Konsum von Alkohol, Nikotin und
       Lebensmitteln wenig staatlich reguliert wird.
       
       Punktabzug gibt es etwa bei steuerbedingten Preiserhöhungen, Einschränkung
       der Produktauswahl und dem Eingrenzen von verfügbarer Produktinformation
       durch Werbeverbote. Federführend verantwortlich ist Christopher Snowdon,
       Head of Lifestyle Economics des Institute of Economic Affairs, einer
       marktliberalen englischen Denkfabrik.
       
       Die AutorInnen der Studie machen kein Rätsel daraus, welchen Akteuren sie
       sich verpflichtet fühlen. Regulierungen der Lebensmittel-, Nikotin- und
       Alkoholindustrie würden die Lebensqualität reduzieren, zu viel Bürokratie
       verursachen und den Wettbewerb einschränken. Politische Ressourcen würden
       unnötigerweise verschwendet, das Gastgewerbe durch Rauchverbote geschädigt
       und der Schwarzmarkt durch zu hohe Preise angekurbelt. In dieser Art und
       Weise wird auf insgesamt 84 Seiten der Teufel des bevormundenden Staats an
       die Wand gemalt, inklusive Fallbeobachtungen der einzelnen EU-Länder.
       
       ## Steuern auf Bier und Schnaps unter EU-Durchschnitt
       
       Dort sind auch lobende Worte für Deutschland zu finden: Es sei das beste
       Land in der EU um zu rauchen, zu essen und zu trinken, weil es keine
       Zuckersteuer gebe, der Werbemarkt sehr liberal sei und Steuern auf Bier und
       Schnaps unter dem EU-Durchschnitt lägen. Außerdem seien Auflagen für
       Nikotinprodukte je nach Bundesland weniger streng als in anderen
       EU-Ländern, meistens würden Rauchverbote lediglich dazu führen, dass
       separate Räume eingerichtet werden würden. TrinkerInnen würden ebenso wenig
       verdrängt wie Raucherinnen: Eine Sperrstunde gebe es vielerorts in der
       Bundesrepublik nicht.
       
       Eines stört die AutorInnen trotzdem: Das freiwillige Abkommen zwischen
       Industrie und Regierung, Rezepturen von Lebensmitteln neu
       zusammenzustellen, um den Zucker-, Fett- und Salzkonsum zu reduzieren.
       Konkret soll die Industrie bis 2025 die Zuckeranteile in
       Erfrischungsgetränken sowie in Frühstückszerealien und Joghurts für Kinder
       signifikant reduzieren. Bei der Umsetzung sollen sie von einem
       Beratungsgremium unterstützt werden.
       
       Kritik an der deutschen Verbraucherpolitik kommt auch vom
       Verbraucherzentrale Bundesverband. „Deutschland hat noch einiges
       nachzuholen“, sagt Vorstand Klaus Müller zur taz. Dass Deutschland auf dem
       „Nanny State Index“ auf dem ersten Platz landet, sei kein Anlass zur
       Freude. Diese Studie ist für Müller ein „Kampfinstrument“, um Werbung für
       Produkte zu machen, die zwar Spaß machten, aber auch Verantwortung an
       zahlreichen Folgekosten für die Gesellschaft trügen.
       
       Nachweislich falsch nennt Müller die Behauptung der StudienautorInnen, es
       gebe zu wenige Beweise, dass Bürger streng regulierender Staaten gesünder
       lebten. Die Mehrheit aktueller Studien spreche dagegen. „Die Tabaksteuer
       funktioniert, auch gesellschaftlich ist das Rauchen nicht mehr cool. Es
       gibt also eher eine Korrelation in die andere Richtung“, sagt Deutschlands
       oberster Verbraucherschützer.
       
       Müller warnt zudem davor, die drei Themen Rauchen, Trinken und Essen in
       einen Topf zu werfen. Am schwierigsten sei es im Bereich der besonders
       zucker- und fetthaltigen Lebensmittel, ein Problembewusstsein zu
       entwickeln. Hier ist es für Müller besonders wichtig, in Bildung zu
       investieren: „Wir brauchen eine gute Verbraucherinformation, die
       Orientierung gibt.“
       
       ## Mehr Skandalisierung als Sachlichkeit
       
       Die lässt der „Nanny Index“ tatsächlich vermissen. Allein die Wortwahl im
       Titel deutet darauf hin, dass es den AutorInnen eher um Skandalisierung als
       um Sachlichkeit geht. „Nanny“ ist das englische Wort für Kindermädchen.
       Dass es in der Gesundheitspolitik nicht um Kinderbetreuung, sondern um den
       Ausgleich der Folgekosten geht, die sich Gesellschaften mit einer
       ungesunden Lebensweise selbst aufbürden, sollte eigentlich offensichtlich
       sein. Das Institute of Economic Affairs und das European Policy Information
       Center sind da wohl anderer Meinung. Der Lobby der Nikotin-, Alkohol- und
       Lebensmittelindustrie dürfte das gelegen kommen.
       
       Also doch schlechte Nachrichten für Deutschland? Durch den „Nanny Index“
       werden wir nicht cooler. Stattdessen ist die Erstplatzierung auf der Liste
       ein Hinweis darauf, wie die Politik mit ihren Regulierungen in der
       Gesundheits- und Verbraucherpolitik auf Kuschelkurs mit der Industrie geht.
       Es liegt also noch ein weiter Weg vor uns.
       
       Wie es besser geht, verraten auch diejenigen EU-Mitgliedsländer, die im
       Ranking schlechter abschneiden, also mehr regulieren. In Frankreich gibt es
       zum Beispiel ein Gesetz, das es verbietet, Menschen zum Komasaufen zu
       ermutigen. Im Bereich der Lebensmittelkennzeichnung haben EU-Staaten wie
       Großbritannien, Belgien und Spanien schon einen länderübergreifenden
       Vorstoß gewagt. Die Lebensmittelampel findet sich auf zahlreichen
       verarbeiteten Lebensmitteln und soll auf den Gehalt von Zucker, Salz und
       Fett in den Produkten aufmerksam machen.
       
       Fest steht auch für Klaus Müller, dass übertriebene Eingriffe in das
       Konsumverhalten der Verbraucher vermieden werden sollten. Dazu müsse
       Ernährungspolitik, anders als von den MacherInnen der Studie nicht
       wirtschaftlich, sondern sozial gedacht werden. „Wir wollen gerade Menschen
       erreichen, die noch nicht überzeugt sind.“, so der
       Verbraucherzentralenchef.
       
       1 May 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://nannystateindex.org/
   DIR [2] http://nannystateindex.org/germany-2019/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julia Springmann
       
       ## TAGS
       
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