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       # taz.de -- Brief der ermordeten Journalistin McKee: Kid, it’s going to be okay
       
       > Vor wenigen Wochen wurde Lyra McKee tödlich von Kugeln der New IRA
       > getroffen. Ihr Text von 2014 ist immer noch aktuell.
       
   IMG Bild: „Keep hanging on, Kid“, schreibt Lyra McKee 2014 in ihrem Brief an sich selbst
       
       Vor wenigen Wochen töteten Schüsse eines Mitglieds der New IRA [1][die
       Journalistin Lyra McKee], als diese sich bei Ausschreitungen im
       nordirischen Derry/Londonderry in der Nähe eines Polizeifahrzeugs aufhielt.
       Am Samstag mussten die Angeklagten in diesem Fall zum ersten Mal vor
       Gericht erscheinen. Doch auch wenn sie zur Rechenschaft gezogen werden,
       bleibt die Sorge: dass der Brexit für ein Aufbrechen alter Konflikte sorgt.
       Die Ängste sind aktuell – genau wie McKees Text über ihr Aufwachsen in
       Nordirland, den wir hier veröffentlichen. 2014 schrieb die irische
       Journalistin einen Brief an ihr 14-jähriges Ich über ihr späteres Coming
       Out. 
       
       Die Redaktion 
       
       Kid,
       
       it’s going to be okay.
       
       Ich weiß, du glaubst gerade nicht daran. Du sitzt in der Schule. Die
       anderen machen sich über dich lustig. Du hast der falschen Person erzählt,
       dass du verliebt bist, und wenig später kannten alle dein Geheimnis. Es ist
       furchtbar. Sie machen dir das Leben zur Hölle. Sie lachen dich aus,
       flüstern hinter deinem Rücken und beleidigen dich. Es ist nicht schön. Und
       du kannst keinen Erwachsenen um Hilfe bitten, denn wenn du das tätest,
       müsstest du die Wahrheit sagen, und das kannst du nicht. Sie dürfen nie
       dein Geheimnis erfahren.
       
       Das Leben ist gerade wahnsinnig hart. Jeden Tag wachst du auf und fragst
       dich, wer dein Geheimnis als Nächstes herausfinden wird und dich dann
       hasst.
       
       Es wird nicht immer so sein. Es wird besser werden.
       
       In einem Jahr wirst du an einem Programm teilnehmen, das Leute in deinem
       Alter zu Journalist*innen ausbildet. (…) Zum ersten Mal in deinem Leben
       wirst du das Gefühl haben, gut in etwas zu sein, das von Nutzen ist. Du
       wirst deine Berufung in dieser Arbeit finden. Du wirst wundervolle Menschen
       treffen. Und wenn wieder schlechtere Zeiten kommen – nur zur Info, deine
       erste Freundin ist nicht „die eine“ und du wirst die Geschichtsarbeit
       verkacken –, wird es der Journalismus sein, der dir hilft weiterzukämpfen.
       
       In zwei Jahren wirst du die Schule verlassen und auf eine Fachhochschule
       gehen. Keine Angst – du wirst Freunde finden. Das werden deine ersten
       echten Freunde als junge Erwachsene sein, die Menschen, die um 4 Uhr
       morgens ans Telefon gehen, wenn du sie anrufst. In den nächsten Jahren
       wirst du nur mit Gavyn und Jonny in Kontakt bleiben, aber du wirst die
       anderen in guter Erinnerung behalten. Mit 17 wirst du ihnen dein Geheimnis
       erzählen, und es wird ihnen nichts ausmachen. Es wird Mut brauchen, aber du
       wirst es tun. Gavyn wird zu Christian werden und du wirst Angst haben, dass
       er dich hasst, aber dann wird ein Nachmittag kommen, an dem du eine SMS
       bekommst, in der steht: „Das ändert nichts. Du wirst immer meine Freundin
       sein.“ Nimm ihn so, wie er ist – er hat auch dich so akzeptiert, wie du
       bist.
       
       Du wirst zur Uni gehen, so wie du es dir immer vorgenommen hast, aber du
       wirst das Studium abbrechen, weil es dich an die Schulzeit erinnert, als
       die Leute kalt waren und du kaum Freunde hattest. Der Campus ist zu groß
       und Angst einflößend. Aber diese Erfahrung wird dich zu dem machen, was du
       bist. Du wirst zum ersten Mal deinen Weg in diese Welt hinausgehen. Dadurch
       wirst du Menschen treffen, die deine besten Freunde werden. Sie werden dir
       helfen, all die schlechten Erinnerungen durch gute zu ersetzen. Zum ersten
       Mal in deinem Leben wirst du dich selbst mögen.
       
       Drei Monate vor deinem 21. Geburtstag wirst du deiner Mutter das Geheimnis
       erzählen. Du wirst schluchzen und zittern, und sie wird erschrocken sein,
       weil sie nicht weiß, was los ist. Weihnachten wird nur ein paar Wochen
       entfernt sein. Du wirst es ihr erzählen müssen, weil du jemanden getroffen
       hast, den du magst, und nicht weiter mit der Schuld leben kannst. Du
       bringst keine Worte heraus, deswegen fragt sie: „Bist du lesbisch?“, und du
       wirst sagen „Ja, Mami, es tut mir so leid.“ Und anstatt wütend zu werden
       wird sie antworten: „Gott sei Dank bist du nicht schwanger.“
       
       Du wirst in ihren Schoß kriechen, schluchzend, während sie dich in den
       Armen hält und dir sagt, dass du ihr kleines Mädchen bist, und wie konntest
       du jemals denken, dass auch nur irgendwas sie dich weniger lieben lassen
       könnte? Du wirst dich wie ein Häftling fühlen, dem die Freiheit geschenkt
       wurde. Du wirst dich an all die Male erinnern, die du Gott um Hilfe gebeten
       hast, weil du solche Angst hattest, und du wirst dir töricht vorkommen,
       weil all deine Sorgen unbegründet waren.
       
       Du wirst es deinen Geschwistern erzählen. Es wir niemandem etwas ausmachen.
       (…) Die anderen werden Witze darüber reißen, dass sie es ja eigentlich
       schon immer wussten. Sie alle werden etwas sagen wie: „Ich liebe dich“ –
       „Ich bin so stolz auf dich“ oder „Das ändert nichts“.
       
       ## „Du bist normal. Nichts an dir ist falsch“
       
       Du wirst dich so glücklich schätzen. Du hast gesehen, wie James zu Hause
       rausgeschmissen wurde, als er sich bei seinen Eltern geoutet hat. Du warst
       bei Michael in der Nacht, als seine Mutter sagte, sie würde ihm „das
       Schwulsein ausprügeln“. Du wirst dich schuldig dafür fühlen, dass du Glück
       hattest und bei dir am Ende alles so einfach war, obwohl du auf dem Weg
       dorthin durch die Hölle gegangen bist.
       
       Du wirst dich zum ersten Mal verlieben. Zum ersten Mal wird dein Herz
       gebrochen werden und du wirst dich fühlen, als würdest du vor Schmerz
       sterben. Du wirst nicht sterben. Du wirst darüber hinwegkommen.
       
       Gerade jetzt fragst du dich, ob du jemals „normal“ sein wirst. Du bist
       normal. Nichts an dir ist falsch. Du kommst nicht in die Hölle. Du hast
       nichts getan, um ihren Hass zu verdienen.
       
       Das Leben wird nicht nur leichter werden, es wird auch so viel besser sein.
       Du wirst ohne Angst die Straße herunterlaufen. Keine halbstarken Jungs, die
       du nie getroffen hast, werden dich mit Dingen bewerfen und dich beleidigen.
       Du wirst die besten Freunde haben, die man sich wünschen kann. Du wirst zu
       Partys eingeladen werden. Du wirst ein Privatleben haben. Du wirst geliebt
       werden. Menschen werden dich mit Wörtern wie „umwerfend“, „cool“ und
       „originell“ beschreiben, und du wirst die Zeiten vergessen, in denen dich
       die anderen Kindern „seltsam“, „komisch“ und „Lesbe“ nannten.
       
       Du wirst „normale“ Dinge tun. Du wirst Zeit mit deiner Mutter verbringen.
       Du wirst zur Arbeit gehen und deine Rechnungen bezahlen. Jede Woche werden
       du und dein*e beste*r Freund*in ins Kino gehen, weil das euer gemeinsames
       Ritual ist – erst Abendessen und dann ein Actionfilm, in dem Dinge in die
       Luft fliegen. Du wirst dich wieder verlieben. Du wirst jeden Tag lächeln in
       dem Wissen, dass jemand dich so sehr liebt wie du sie.
       
       Keep hanging on, Kid. Es lohnt sich. Ich liebe dich.
       
       Aus dem Englischen von Lin Hierse
       
       13 May 2019
       
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