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       # taz.de -- Widerstand gegen die Nazis: „Europäische Union“ 1943 gegründet
       
       > Zwei Jahre vor dem Ende des Regimes kämpft in Berlin eine internationale
       > Widerstandsgruppe gegen die Nazis. Ihr Ziel war ein geeintes Europa.
       
   IMG Bild: In dieser Zelle sollte Robert Havemann im Auftrag der Nazis Gasabwehrstoffe entwickeln
       
       Diese Europäische Union besaß keinen Kommissionspräsidenten und kein
       Parlament. Sie verfügte über keinen Apparat, und schon gar nicht konnte sie
       Gesetze beschließen. Nein, die Arbeit dieser Europäischen Union war darauf
       gerichtet, ein mörderisches Regime zu Fall zu bringen und erste
       Vorbereitungen für eine künftige Friedensordnung auf dem Kontinent zu
       treffen. Die Gruppierung mit diesem Namen kämpfte im Jahr 1943 wenige
       Monate lang bis zu ihrer Zerschlagung gegen den Nationalsozialismus und für
       eine gerechte Zukunft – und ist doch trotz ihres wegweisenden Namens
       weitgehend in Vergessenheit geraten.
       
       Dabei lässt sich die Widerstandsgruppe in mehrerer Hinsicht durchaus als
       intellektuelle Vorhut für die Einigung Europas begreifen. Denn in der weit
       verzweigten Europäischen Union engagierten sich nicht nur deutsche
       Widerstandskämpfer, sondern auch Menschen aus anderen, damals von den Nazis
       besetzten Ländern. Und die Gruppe trat für „die Zusammenfassung aller
       antifaschistischen Kräfte Europas“ ein. In einem Flugblatt hieß es, es sei
       an der Zeit, diejenigen Menschen, die an den „alten und ewigen
       freiheitlichen Ideen, die in Europa in den großen Revolutionen geboren
       wurden“, festhielten, auf die Aufgaben nach dem Zusammenbruch des
       NS-Regimes vorzubereiten – für eine künftige „sozialistische
       Gesellschaftsordnung in einem geeinten Europa“.
       
       Auf 50.000 bezifferte der spätere DDR-Oppositionelle Robert Havemann nach
       dem Krieg die Zahl der Mitglieder. Das war wohl maßlos übertrieben. Den
       Kern der EU bildeten gerade einmal vier Männer, neben Havemann Georg
       Groscurth, Paul Rentsch und Herbert Richter, die sich nach der Gründung am
       15. Juli 1943 hinter fantasievollen Tarnbezeichnungen wie „Exekutivkomitee
       des ZK“ der Europäischen Union verbargen. Es waren Berliner Intellektuelle,
       manche gar mit Verbindungen bis nach ganz weit oben, links, aber politisch
       keine der früheren Weimarer Parteien zuzuordnen. Ihre Gegnerschaft zum
       Regime war nicht im Krieg entstanden, sondern schon zu Beginn der Diktatur.
       
       Aber ihre Verbindungen reichten weit: Der Russe Konstantin Žadkevič
       gesellte sich zu den vier. Er organisierte Widerständler unter
       ausländischen Zwangsarbeitern, darunter Russen, Ukrainer, Franzosen, einem
       Tschechen und einem schwedischen Zivilarbeiter. Die Europäische Union stand
       in engem Kontakt zu Oppositionellen am Berliner Robert-Koch-Krankenhaus,
       die unter dem Namen einer Krankenschwester als „Kunzes Kaffee-Salon“
       firmierten, und zu den unentdeckt gebliebenen Anhängern einer weiteren, von
       der Gestapo ausgehobenen Widerstandsgruppe.
       
       Die Anhänger der Europäischen Union waren realistisch genug, zu wissen,
       dass sie das Regime nicht allein stürzen konnten. Sie beließen es nicht bei
       Zusammenkünften und dem Verfassen von Flugblättern. Schon seit 1942 halfen
       sie Juden bei ihrer Flucht vor der Deportation. Sie besorgten falsche
       Papiere und vermittelten Verstecke. Georg Groskurth und seine Frau
       Anneliese verbargen gar eine untergetauchte Jüdin in ihrer Berliner
       Wohnung.
       
       ## Nur wenige Monate lang
       
       Die Europäische Union existierte nur wenige Monate lang. Den Nazis galt die
       Gruppe durch ihre Verbindungen zu Zwangsarbeitern als ganz besonders
       gefährlich, weil diese Frauen und Männer ohnehin als dem Regime feindlich
       gegenüber eingeschätzt wurden. Ab dem Spätsommer 1943 nahm die Gestapo in
       mehreren Wellen ihre Anhänger fest.
       
       Mehr als 40 Menschen wurden vom Volksgerichtshof der Prozess gemacht,
       14-mal erging ein Todesurteil. Die versteckten Juden kamen nach Auschwitz,
       nur die vom Ehepaar Groscurth versteckte Frau entkam ihrer Ermordung. Vom
       Kern der Europäischen Union überlebte nur Robert Havemann, der bis zur
       Urteilsvollstreckung immer wieder Aufschübe bekam, um an angeblich
       kriegswichtigen Forschungen mitzuarbeiten – bis zur Befreiung.
       
       Nach dem Krieg interessierte sich im Westen kaum jemand für den Widerstand.
       Die DDR gemeindete die Europäischen Union als vorgeblich kommunistische
       Gruppe ein. Mit dem SED-Parteiausschluss Havemanns im Jahr 1964 verschwand
       die Erinnerung an die E.U. auch dort in der Versenkung.
       
       15 May 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus Hillenbrand
       
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