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       # taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: In anderer Verfassung
       
       > Kann es einen europäischen Verfassungspatriotismus in Deutschland geben?
       > Überlegungen anlässlich dreier wichtiger Daten im Mai.
       
   IMG Bild: Grundgesetz-Fans beim „#wirsindmehr“-Konzert in Chemnitz, September 2018
       
       Der Wonnemonat Mai konfrontiert das Volk der Bundesrepublik in diesem Jahr
       mit mehreren bedeutsamen Terminen: der Europawahl am 26. Mai, der
       Erinnerung an die Gründung des Europarats vor 70 Jahren sowie dem Gedenken
       an die Verabschiedung des Grundgesetzes vor 70 Jahren am 23. Mai 1949 durch
       den Parlamentarischen Rat in Bonn.
       
       Es war der eher konservative Politikwissenschaftler Dolf Sternberger
       (1907–1989), einer der Begründer der deutschen Politikwissenschaft nach dem
       Kriege, der den Begriff des „Verfassungspatriotismus“ prägte, einen
       Begriff, den später der Philosoph Jürgen Habermas offensiv aufgenommen hat.
       
       Der „Verfassungspatriotismus“ sollte ein Gegenentwurf zum Nationalismus
       sein, das heißt das ebenso fröhliche wie mutige Eintreten für die
       Prinzipien des Grundgesetzes, vor allem und in erster Linie für die „Würde
       des Menschen“, die gemäß Artikel 1 „unantastbar“ ist. „Sie zu achten und zu
       schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
       
       Dieser Artikel geht unter anderem auf die Erfahrung der Schoah zurück: In
       dem nüchternen Bericht Primo Levis über seine Haft in Auschwitz wird der
       Erfahrung absoluter Entwürdigung Rechnung getragen: „Mensch ist“, notiert
       Levi kurz vor der Befreiung des Lagers, „wer tötet, wer Unrecht zufügt oder
       erleidet; kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung verloren hat und sein
       Bett mit einem Leichnam teilt. Und wer darauf gewartet hat, bis sein
       Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen
       kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen
       weiter entfernt als … der grausamste Sadist.“
       
       Und weiter: „Ein Teil unseres Seins wohnt in den Seelen der uns
       Nahestehenden: darum ist das Erleben dessen ein nicht-menschliches, der
       Tage gekannt hat, da der Mensch in den Augen des Menschen ein Ding gewesen
       ist.“
       
       Entsprechen Staatsvolk und Bevölkerung der Bundesrepublik diesem
       Verfassungspatriotismus? Dass hier Skepsis geboten ist, haben die –
       mehrdeutigen – Ergebnisse der soeben publizierten „Mitte-Studie“ gezeigt:
       Obwohl der größte Teil des Staatsvolks zwar die Demokratie bejaht, halten
       doch beinahe 50 Prozent Verschwörungstheorien für grundsätzlich plausibel.
       
       Aus diesen Ergebnissen lässt sich jedoch nicht schließen, dass eine auch
       nur numerische Mehrheit in dem Sinne verfassungspatriotisch denkt. Im
       Gegenteil: In seinen Studien zu „Autoritären Versuchungen“ belegt Wilhelm
       Heitmeyer, dass „der autoritäre Kapitalismus durch die ‚Landnahme des
       Sozialen‘ (…) die sozialen Desintegrationsprozesse weiter verstärken wird,
       mit verheerenden Folgen für schwächere Gruppen in der Gesellschaft“.
       
       Zu alledem kommt, dass sich gerade das Staatsvolk oder – was nicht dasselbe
       ist – die Bevölkerung seit Verabschiedung des Grundgesetzes dramatisch
       verändert hat. Angesichts des Umstandes, dass mittlerweile 25 Prozent – 20
       Millionen Menschen – der deutschen Bevölkerung Migranten sind, wie es der
       Historiker Jan Plamper schreibt, durchaus von einem „Neuen Wir“ sprechen.
       (Anm. d. Red.: Plamper meint die Menschen, die gemeinhin als „Menschen mit
       Migrationshintergrund“ bezeichnet werden).
       
       Plamper plädiert in seinem soeben erschienen, gleichnamigen Buch für eine
       neue kollektive Identität, „die eine stärkere emotionale Bindefestigkeit
       besitzt als die Liebe zum Grundgesetz“. Das ist illusorisch: war es doch
       schon im späten 19. Jahrhundert der Soziologe Ferdinand Tönnies, der
       kategorial zwischen „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“ unterschied.
       
       Spätestens 1933 zeigte: Es war nicht nur ein Kategorienfehler, sondern ein
       totalitärer Irrtum, die Bevölkerung Deutschlands – seine „Gesellschaft“ –
       zu einer mehr oder minder intim verbundenen „(Volks)gemeinschaft“ umformen
       zu wollen.
       
       Die Deutschen, verfassungspatriotische Europäer? Der 26. Mai wird zeigen,
       wie weit das neue deutsche Volk dieser Vorstellung entspricht.
       
       7 May 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Micha Brumlik
       
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