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       # taz.de -- Wahlmotivation für Arme: Pilotprojekt Wahl
       
       > In Bremen sind überparteiliche „Wahlscouts“ unterwegs. Sie sollen vor
       > allem Unentschlossene und Nichtwähler*innen an ihr Wahlrecht erinnern.
       
   IMG Bild: Leere Stühle, keine Kreuze: In einigen Wahlkabinen ist kaum was los.
       
       Bremen taz | Gröpelingen wählt nicht. Nur 37 Prozent der Einwohner*innen
       machten bei der Bürgerschaftswahl 2015 ihre Kreuzchen. Das ist selbst für
       Bremer Verhältnisse unterirdisch. Lisa Peyer und Kevin Röttger von der
       Bremer Landeszentrale für politische Bildung (LZPB) wollen das ändern.
       
       Sie klingeln dafür an zahllosen Türen großer Wohnblöcke im Bromberger
       Viertel und werden meist freundlich begrüßt: „Ihr kommt genau zum richtigen
       Zeitpunkt“, sagt der junge Mann an der Tür fast andächtig. Gerade gestern
       habe er sich gefragt, ob er wählen gehen soll. „Bringt das denn was?“,
       fragt er.
       
       Peyer und Röttger erklären, dass sich das Wahlergebnis dadurch verändern
       könne. „Gröpelingen ist im Parlament unterrepräsentiert, wenn die
       Wahlbeteiligung hier gering ist.“ Peyer ist Referentin für Wahlbeteiligung
       und Partizipation bei der LZPB und leitet das Projekt „Wahlscouts“. Mit
       ihren Teams führt sie überparteilichen Haustürwahlkampf, um unschlüssige
       und Nichtwähler*innen zu aktivieren, am 26. Mai ihr Wahlrecht zu nutzen.
       
       Wer nicht aufmacht, bekommt einen Flyer mit den wichtigsten Informationen
       in den Briefkasten geworfen. „Der ist so simpel formuliert wie möglich“,
       sagt Peyer. Durchgeführt wird das Projekt an insgesamt sechs Tagen jeweils
       in den Abendstunden im sozioökonomisch benachteiligten Stadtteil
       Gröpelingen.
       
       ## Wähler müssen nicht Experten sein
       
       „Wir brauchen uns nicht einzubilden, dass alle zu unseren akademischen
       Veranstaltungen in der Innenstadt kommen“, so Peyer. Auch in den Quartieren
       erreiche die Landeszentrale nur die bereits mobilisierten Menschen. „Manche
       haben genug damit zu tun, ihren Alltag zu bewältigen.“ Oder halten sich für
       zu unwissend.
       
       „Du musst nicht Experte sein, um wählen zu gehen“, versichern die
       Wahlscouts immer wieder. „Manche haben auch einfach noch nie gewählt und
       wissen nicht, warum“, sagt Röttger. Peyer ergänzt: „Das gehört nicht zu
       deren Verhaltensrepertoire.“
       
       Eine Mieterin antwortet auf jede von Peyers Fragen mit einem rigorosen
       Nein. Haben Sie Ihre Wahlbescheinigung schon erhalten? Nein. Wissen Sie
       schon, ob Sie wählen gehen? Nein. Wissen Sie, ob Sie wahlberechtigt sind?
       Nein. Der nächste sagt, er habe früher SPD gewählt – „Jetzt will ich gar
       nicht mehr.“ Aber er nimmt den Flyer und wolle nochmal darüber nachdenken.
       Seine Nachbarin geht wählen: „Das nicht zu tun, ist doch immer eine Stimme
       für die anderen.“
       
       Peyer erinnert sich an eine kuriose Situation: „Letzte Woche hatte einer
       seinen Personalausweis verloren, dabei will er gerne wählen.“ Er habe
       gefragt, wo ihm jemand umsonst einen neuen besorgen kann.
       
       Im Land Bremen wählten 2015 insgesamt 50 Prozent – ein schlechter Wert.
       2016 formierte die Bürgerschaft daher einen Wahlrechtsausschuss, um Ideen
       zu spinnen, wie die große Zahl der Nichtwähler*innen künftig wieder
       erreicht werden könnte.
       
       Matthias Koch, Sprecher der SPD-Bürgerschaftsfraktion, fasste damals
       zusammen: „Was man an der letzten Wahl besonders sehen kann, ist, dass
       Reichtum wählt, Armut nicht.“ Das Hauptergebnis des Ausschusses war
       spärlich: eine Änderung des Wahlrechts, bei der es um die Auswirkungen der
       Personenstimmen auf die Sitzverteilung geht. Eine weitere Idee des
       Ausschusses, die Verlängerung der Wahl auf mehrere Tage, ist in diesem Jahr
       aufgrund der zeitgleich stattfindenden Europawahl aber nicht umsetzbar.
       
       Die Linke agierte schneller und mietete direkt nach der letzten Wahl ein
       Büro in Tenever an, um vor Ort zu informieren. Hier im Südosten der Stadt
       wählten 2015 nur 32 Prozent. In dem Büro wird eine Bürgersprechstunde
       angeboten, Parteimitglieder sprechen mit den Menschen über Demokratie.
       
       ## Sprachliche Hürden
       
       Zurück in den Norden nach Gröpelingen: Eine ältere Frau spricht kaum
       Deutsch. Den Flyer nimmt sie trotzdem lächelnd an. Solche Begegnungen sind
       für Peyer erkenntnisreich. „Wenn wir herausfinden, dass viele aufgrund
       sprachlicher Hürden nicht wählen, könnte man ja mal die Sprache in den
       Unterlagen vereinfachen.“
       
       Die Aktion der LZPB ist ein Pilotprojekt. Es gehe darum, Erfahrungen zu
       sammeln, um das für die nächste Wahl auszuwerten und vielleicht
       umfangreicher und von anderen Akteuren durchführen zu lassen. „Es gibt noch
       ganz andere Stadtteile, in denen das sinnvoll wäre“, weiß auch Peyer.
       
       Aus der nächsten Wohnung dröhnt Musik. Ihr Bewohner ist zwar interessiert,
       weiß aber nicht einmal von seinen fünf Stimmen für die Wahl zur Bremischen
       Bürgerschaft. Das überrascht Peyer. Doch geduldig erläutert sie
       Volksentscheid und Wahl-O-Mat, einer von mehreren Diensten, die bei der
       Wahlentscheidung helfen sollen.
       
       Peyer erklären ihm dann noch, dass der Senat von der Bürgerschaft gewählt
       wird. Der Mann freut sich über das Hilfsangebot. „Das ist lieb“, sagt er
       gegen Ende des Gesprächs. Peyer erwidert: „Politik ist ja aber auch
       kompliziert.“
       
       16 May 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alina Götz
       
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