URI: 
       # taz.de -- Unabhängigkeit Europas: Am Westkap Asiens
       
       > Europa ist schon oft der Verführung zu übergroßer Selbstsicherheit
       > erlegen. Das Ergebnis sind rechte Regierungen wie in Italien.
       
   IMG Bild: Auf der Suche nach dem Sonnenplatz, wird Europa von multipolarer Weltordnung in den Schatten gestellt
       
       Dass Putins Russland rechtspopulistische Schmutzfinken von Palermo bis
       Bautzen zu unterstützen versucht, um die EU zu destabilisieren – davon
       nichts wissen wollen nur rechte Trolle und verpeilte Sowjetnostalgiker.
       
       Allerdings handelt es sich bei solchen Maßnahmen nicht um etwas grundlegend
       Neues, sondern um einen den Gegebenheiten angepassten taktischen Zug
       russischer Außenpolitik, die seit ein paar hundert Jahren aus
       nachvollziehbaren Gründen Einfluss auf die westlicheren europäischen Dinge
       nehmen möchte.
       
       Und dass die USA nicht einverstanden sind mit den aktuellen Plänen für den
       EU-Verteidigungsfonds, weil er US-Rüstungsfirmen benachteiligt, und sie
       eine größere Unabhängigkeit der Europäischen Union in Weltpolitik,
       Rüstungsexport- und Kriegsfragen grundsätzlich skeptisch sehen, lässt sich
       in seinen politischen Grundzügen auch schon und sehr rational begründet bis
       spätestens 1945 zurückverfolgen.
       
       Europa, das zerklüftete Westkap Asiens, ist immer mal wieder in Versuchung,
       sich auf die Suche nach einem Platz an der Sonne zu begeben, der dann
       regelmäßig von der Realität einer multipolaren Weltordnung in den Schatten
       gestellt wird.
       
       Volker Stanzel, ehemals bundesrepublikanischer Spitzendiplomat, hat gerade
       in einem Buch („Die ratlose Außenpolitik und warum sie den Rückhalt der
       Gesellschaft braucht“) dargelegt, woran der letzte Versuch, die EU auf
       Weltniveau hochzupumpen, gescheitert ist: Die deutsche Seite habe in der
       Finanz- und Eurokrise als stärkste Volkswirtschaft herrisch den Ton angeben
       wollen und sei „der Verführung zu übergroßer Selbstsicherheit erlegen“.
       
       Das Ergebnis ist zum Beispiel [1][eine Regierung in Italien], die neben
       rassistischer Hetze gegen Geflüchtete und Einwanderer einen großen Teil
       ihres Konsenses aus der Polemik gegen die nach preußischem Oberlehrer
       schmeckende deutschen Krisenpolitik der letzten Jahre zieht.
       
       ## Die Regel, nicht die Ausnahme
       
       Die fixe Idee, Europa müsse unbedingt vereint sein, um bei der
       Ausplünderung der Welt ganz vorne mitzumachen, schwappte über die
       Jahrhunderte regelmäßig zwischen den europäischen Großmächten hin und her.
       Das führte zu wechselnden Koalitionen, die sich insbesondere – und
       dankenswerterweise – gegen die barbarischen und verbrecherischen
       Zwangsvereinigungsideen der deutschen Eliten richteten.
       
       Als der deutsche Spuk endgültig vorbei schien, blieb Europa bis 1989 dann
       aufgeteilt zwischen dem Hegemon USA im Westen und dem Hegemon Sowjetunion
       im Osten.
       
       Der Westen beobachtete argwöhnisch jede Versuchung der westdeutschen
       Eliten, zu einer nach dem deutsch-russischen Vertrag von 1922 „Rapallo“
       genannten Schaukel-Politik zurückzukehren. Selbst wenn es, wie etwa im
       Dezember 1962, nur ums Viel-Geld-verdienen ging: Mit der gestoppten
       Lieferung von Stahlrohren zum Gasexport aus der Sowjetunion „ließ Bonn auf
       Druck Washingtons ein bereits geschlossenes Geschäft der Firmen Mannesmann
       und Hoesch platzen“, wie es im bis zur Langeweile soliden, bei Beck
       erschienen Grundlagenwerk „Deutsche Außenpolitik von 1945 bis zur
       Gegenwart“ von Gregor Schöllgen heißt.
       
       Solche Eingriffe waren weit über den Epochenbruch von 1989 hinaus die
       Regel, nicht die Ausnahme. Und deutsch-russische Pipeline-Projekte erregen
       bis heute den Argwohn der Nachbarn.
       
       Geschadet hat den Westdeutschen eine solche, leicht eingeschränkte
       Souveränität nicht, im Gegenteil – und Europa genauso wenig. Über die
       verbliebene Bedeutung der [2][sprichwörtlichen europäischen Werte] wird
       nicht beim Kräftemessen der Mächte entschieden, sondern bei der Rettung
       Ertrinkender im Mittelmeer.
       
       „Hide your wives and daughters, Hide your groceries too, Great nations of
       Europe coming through“, heißt es in Randy Newmans bitter-schönem Song über
       die Verheerungen, die europäische Weltpolitik seit Jahrhunderten über den
       Globus gebracht hat.
       
       Ein neuer europäischer außenpolitischer Konsens, wie Volker Stanzel ihn in
       seinem Buch einfordert, müsste als Ausgangspunkt und kleinstem gemeinsamen
       Nenner jenen haben, die Balgerei um den Platz an der Sonne anderen zu
       überlassen: Heiß genug wird es in der nahen Zukunft ja sowieso und im
       Windschatten fährt es sich immer noch am besten.
       
       17 May 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Rechtsruck-Braindrain-Frust/!5558377
   DIR [2] https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/europa/sie-behandeln-uns-wie-tiere/story/31596055
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Europawahl
   DIR europawahl Kultur
   DIR Europawahl
   DIR Europa
   DIR Schwerpunkt Europawahl
   DIR Europawahl
   DIR Italien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kolumne Sternenflimmern: Ein europäisches Trauma
       
       Zu Europas Zukunft gehört auch seine Vergangenheit. Erinnerungen ans Jahr
       2015, in dem der ganze Kontinent auf Griechenland blickte.
       
   DIR Europawahl und rechte Parteien: Diese Rechten sollten Sie kennen
       
       Auf ca. 20 Prozent könnten die rechten Parteien bei den EU-Wahlen kommen.
       Wer tritt an, wer wird in den nächsten Jahren eine Rolle spielen?
       
   DIR Rechtsruck, Braindrain, Frust: Italien kann zur Hölle fahren
       
       Wie viele seiner akademisch gebildeten Landsleute hat unser Autor sein
       Heimatland verlassen. Was nun dort vorgeht, macht ihn fassungslos.