URI: 
       # taz.de -- EU-Spitzenkandidatin Margrethe Vestager: Die stille Herausforderin
       
       > Mit Charme und knallharter Politik spielt Margrethe Vestager in Brüssel
       > alle an die Wand. Könnte sie Junckers Nachfolgerin sein?
       
   IMG Bild: „Diese Frau ist der Hammer“, heißt es in der EU-Kommission über Vestager
       
       Brüssel/Stockholm taz | Immer lächeln – und dann überraschend zum Angriff
       übergehen. Niemand beherrscht die Kunst der freundlichen Überrumpelung so
       wie Margrethe Vestager. Auch bei der anstehenden Europawahl hat sie diese
       Taktik angewandt, als es darum ging, ob sie die [1][Nachfolge von
       Jean-Claude Juncker] in der Brüsseler EU-Kommission anstrebt. Monatelang
       ließ sich die mächtige EU-Wettbewerbskommissarin umwerben und bitten. Sogar
       Emmanuel Macron, den französischen Staatschef, hielt sie lange hin.
       
       Und dann, ganz plötzlich, stand die Dänin im Scheinwerferlicht, als sie im
       Team der Allianz der Liberalen und Demokraten (Alde) auftauchte. Nicht als
       Spitzenkandidatin, wie der Deutsche Manfred Weber (CSU/EVP) oder der
       Niederländer Frans Timmermans (Sozialdemokraten/S&D). Denn die Liberalen
       haben keine solchen, sondern ein achtköpfiges Spitzenteam benannt –
       Vestager ist die Erste unter Gleichen.
       
       Bis heute hat die Dänin nicht verraten, ob sie wirklich auf den Posten des
       Kommissionschefs will. „Natürlich sollte es eine Frau sein“, antwortet sie
       auf die Frage, ob die Zeit für einen Wechsel gekommen sei. „Wenn wir Europa
       verändern wollen, dann müssen wir auch verändern, wie wir aussehen.“ Doch
       ob sie diese Frau sein will, lässt sie offen.
       
       Dahinter steckt Kalkül. Denn zum einen kann Vestager nicht sicher sein,
       sich im Rennen um die Juncker-Nachfolge durchzusetzen. Schließlich will das
       Europaparlament nur „echte“ Spitzenkandidaten nominieren. Auch auf Macron
       kann – und will – sie sich nicht verlassen. Frankreichs Staatschef lehnt
       das Spitzenkandidatenprinzip ab; die Dänin galt lange als seine Favoritin
       für das Amt des Kommissionschefs.
       
       Außerdem würde Vestager ihren bisherigen Job gerne fortsetzen. Als oberste
       Wettbewerbshüterin hat sie nämlich schon viel erreicht – mehr als ihre
       Amtsvorgänger. Mit der Mischung aus gewinnendem Auftreten und knallharter
       Politik hat sie sogar Giganten wie Google, Amazon und Apple in die Knie
       gezwungen.
       
       Den amerikanischen Computer- und Telefonhersteller Apple verpflichtete
       Vestager zur Nachzahlung von 13 Milliarden Euro Steuern in Irland. Den
       Internet-Konzern Google belegte sie gleich dreimal mit Strafen von
       insgesamt 8,25 Milliarden Euro wegen Marktmissbrauchs.
       
       ## Charmant, aber auch machtbewusst
       
       Bei Donald Trump hat sich die 51-Jährige damit unbeliebt gemacht. Vestager
       ist für den Macho im Weißen Haus schlicht die „Steuer-Lady aus Brüssel, die
       die USA hasst“. In Europa hingegen wird sie für ihren Mut bewundert. Vor
       allem in der „Brüsseler Blase“, dem kleinen Kreis der EU-Insider, hat sie
       viele Fans.
       
       „[2][Diese Frau ist der Hammer]“, heißt es in der EU-Kommission, wo
       Vestager die anderen, meist männlichen Kommissare locker an die Wand
       spielt. Charmant sei sie, aber auch machtbewusst – eine ungewöhnliche
       Mischung.
       
       Dass sie grundsätzlich keine Lobbyisten empfängt und auf Konferenzen und
       Reisen gerne strickt, finden nicht nur ihre Mitarbeiter sympathisch. Die
       dreifache Mutter sei eigentlich ganz normal und arbeite „wenig
       hierarchisch“, loben sie.
       
       In ihrem Heimatland hält sich die Begeisterung für Vestager in Grenzen. Was
       ihre Kommissionsarbeit angeht, hat sie zwar auch viel Lob geerntet. Die
       LeserInnen der konservativen Tageszeitung Berlingske Tidende zumindest
       wählten sie etwa 2016 zur „Dänin des Jahres“.
       
       Gleichzeitig konstatieren Medien, dass im Ausland ein anderes, ein
       positiveres Bild von Vestager vorherrsche. So etwa die konservative
       Wochenzeitung Weekendavisen, die Anfang März feststellte: Während die
       meisten Europäer landesübergreifend eine positive Meinung zu Vestager
       hätten, „genießt sie in ihrer Heimat am wenigsten Unterstützung“.
       
       Das liberale Ekstra Bladet schrieb einmal über die 51-Jährige, Vestagers
       Geheimnis sei „ihr enormes Talent zur Selbstinszenierung“: „Anscheinend
       reicht das aus, damit sich im politisch-journalistischen Milieu in Brüssel
       die Karusselle drehen.“
       
       Dabei hat die studierte Wirtschaftswissenschaftlerin auch in ihrer Heimat
       schon früh eine steile Karriere hingelegt. 1968 als Älteste von vier
       Kindern in einer Pfarrersfamilie geboren, trat sie mit 15 bei der
       sozialliberalen Radikale Venstre ein, in der auch beide Elternteile
       Mitglieder waren.
       
       Mit 29 Jahren wurde sie 1998 als Bildungs- und Kirchenministerin das
       jüngstes Kabinettsmitglied, das Dänemark bis dahin gehabt hatte. Ins
       dänische Parlament, das Folketing, wählten sie die BürgerInnen erstmals
       2001 – 2007 übernahm sie schließlich Partei- und Fraktionsvorsitz.
       
       ## „So ist das eben!“
       
       Vor allem der neoliberale Richtungswechsel der „Radikalen“ hinterließ in
       der Wirtschafts- und Sozialpolitik Dänemarks Spuren. Vestagers Partei
       verhalf der rechtsliberal-konservativen Minderheitsregierung im Frühjahr
       2011 zusammen mit der rechtspopulistischen „Dänischen Volkspartei“ zu einer
       Parlamentsmehrheit für eine Arbeitsmarkt-„Reform“. Die hatte es in sich:
       Die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds wurde halbiert, gleichzeitig die
       erforderliche Beschäftigungsdauer, um Leistungsansprüche zu erwerben,
       verdoppelt. Auch das Rentenalter wurde erhöht.
       
       Davon ließ Vestager auch nicht ab, als sie sechs Monate später als Innen-
       und Wirtschaftsministerin in eine von der Sozialdemokratin Helle
       Thorning-Schmidt geführte Mitte-links-Regierung eintrat. Dafür stellte sie
       die Bedingung, dass die Leistungsverschlechterungen nicht rückgängig
       gemacht werden sollten. Außerdem verlangte sie von den Sozialdemokraten,
       auf ihr zentrales Wahlversprechen zu verzichten – der Einführung einer
       Millionärssteuer.
       
       In dieser Zeit trat Vestager knallhart auf. Mit der Aufforderung an
       Arbeitslose, „mehr Flexibilität“ zu zeigen, machte sie sich jedenfalls
       wenig Freunde. Gäbe es in Dänemark keine Arbeit, so erklärte sie damals,
       sollten sie ihr Glück eben in Deutschland oder Norwegen versuchen. Ihr
       damals geäußertes „So ist das eben!“ hängt ihr bis heute nach.
       
       Linke wie der Autor und Journalist Bjarne Lundis warfen ihr „rohen und
       kalten Zynismus“ vor. Für viele ist die Kommissarin heute noch ein rotes
       Tuch. „Ich kann nur alle Linken davor warnen, ihr Vertrauen in Margrethe
       Vestager zu setzen“, sagt Pelle Dragsted, Abgeordneter der linken
       Einheitsliste, noch 2016. Sie tauge „jedenfalls nicht als Symbolpolitikerin
       für den Kampf für faire Steuern“.
       
       Ihre Arbeit in der dänischen Regierung ab 2011 könnte sich auf Vestagers
       Zukunft in Brüssel auswirken. Dänemark wählt am 5. Juni ein neues
       Parlament, der oder die neue Regierungschefin würde entscheiden, wen
       Dänemark künftig in die EU-Kommission schickt. Gute Chancen für das Amt der
       Ministerpräsidentin werden Mette Frederiksen ausgerechnet, der Vorsitzenden
       der Sozialdemokraten.
       
       Doch für die sei Vestager wohl „die Person auf der Welt, bei der sie am
       meisten rotsieht“, meint Martin Krasnik, Chefredakteur von Weekendavisen.
       Als Sozialministerin saß Frederiksen damals in einer Regierung mit
       Vestager: drei Jahre Dauerclinch.
       
       ## In Paris in Ungnade gefallen
       
       So gut ihr resolutes Vorgehen in Brüssel ankommen mag, hat sich die Dänin
       aber auch in der EU Feinde gemacht. In Irland, den Niederlanden oder
       Luxemburg hat Vestager die Regierungen gegen sich aufgebracht, indem sie
       gegen Steuerspar-Modelle für Großkonzerne vorging. Die großzügigen
       Arrangements seien illegale staatliche Beihilfen für die Multis, so ihr
       Verdikt – so weit hatte noch niemand das Wettbewerbsrecht ausgelegt.
       
       Auch in Deutschland und Frankreich ist Vestager nicht mehr überall
       wohlgelitten. Seit sie die Fusion von Siemens mit Alstom untersagt hat, ist
       sie vor allem in Paris in Ungnade gefallen.
       
       Bei einer Diskussion mit Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier in
       Brüssel erläuterte Vestager im April ihre Philosophie. Die europäische
       Wirtschaft, dozierte die Ökonomin, bestehe nicht nur aus Großkonzernen wie
       Siemens oder Alstom. Nein, die EU lebe von einem „Ökosystem“ aus kleinen
       und großen Firmen.
       
       Genau wie in der Natur gehe es in der Wirtschaft um „Diversität“ und
       „Resilienz“ – und die hänge eben nicht nur von „großen Spezies“ ab, sondern
       auch von den kleinen Tieren. Ein wenig klingt es wie im Biologie-Unterricht
       – nur dass Vestager, die Liberale, nicht mit Darwin argumentiert, so wie
       Altmaier.
       
       Der deutsche CDU-Politiker sieht [3][Europa in einem Existenzkampf mit
       China]. Er will „europäische Champions“ fördern, damit die kleinen Fische
       aus der EU gegen die großen Staatskonzerne aus Fernost eine Chance haben.
       Vestager hält davon herzlich wenig. „Wir wären lausige Chinesen“, hält sie
       Altmaier entgegen.
       
       Vestager möchte, dass wir bessere Europäer werden – allerdings nicht durch
       staatliche Eingriffe, sondern mithilfe des Markts, der sich frei entwickeln
       soll. Sie ist eine Marktliberale des Internet-Zeitalters: Für Vernetzung,
       aber gegen Monopole, für die Rechte der Verbraucher, gegen Bevormundung
       durch Google & Co.
       
       Ob das reicht, um die marktliberale EU aus der Krise zu führen, ist unklar.
       Immerhin hat sie dem Image der EU-Kommission ein Upgrade verpasst. Im
       Vergleich zum deutschen EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) und seiner
       Klientelpolitik für die alte (Auto-)Industrie steht sie für die EU 2.0. Und
       das ist ja auch schon was.
       
       18 May 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Bilanz-ueber-Junckers-Rolle-in-der-EU/!5591833
   DIR [2] /Moegliche-Juncker-Nachfolgerin-Vestager/!5579529
   DIR [3] /Linke-debattiert-Industriestrategie/!5581223
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Reinhard Wolff
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Europawahl
   DIR europawahl Politik
   DIR Europawahl
   DIR Margrethe Vestager
   DIR Jean-Claude Juncker
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Apple
   DIR Schwerpunkt Europawahl
   DIR Niederlande
   DIR Schwerpunkt Europawahl
   DIR Ska Keller
   DIR Jean-Claude Juncker
   DIR Schwerpunkt Europawahl
   DIR Schwerpunkt Europawahl
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Apple versus EU-Kommission: Steuerstreit vor Gericht
       
       Apple und die EU-Kommission haben sich vor dem EU-Gericht getroffen. Es
       geht um Steuernachzahlungen in Milliardenhöhe – doch nicht nur.
       
   DIR EVP-Spitzenkandidat für die Europawahl: Der viel Versprechende
       
       Manfred Weber könnte Juncker beerben. Er ist kein Polterer – doch Taten
       folgen seinen wohlklingenden Reden selten.
       
   DIR EU-Wahl in den Niederlanden: Sozialdemokraten liegen vorn
       
       In den Niederlanden läuft die EU-Wahl schon. Den ersten Nachwahlbefragungen
       zufolge, liegt die Arbeiterpartei mit 18 Prozent überraschend vorn.
       
   DIR Spitzenkandidat Frans Timmermans: Der beseelte Eurokrat
       
       Der Niederländer kann viel schultern. Doch reicht das, um als
       Spitzenkandidat die Sozialdemokratie zu retten – und Europa noch dazu?
       
   DIR Ska Keller über die Europawahl 2019: „Dies ist eine Klimawahl“
       
       Den Menschen ist bewusst geworden, dass die Klimakrise real ist, sagt Ska
       Keller, Spitzenkandidatin der Grünen für die Europawahl.
       
   DIR Bilanz über Junckers Rolle in der EU: Der Mann, der Europa liebte
       
       … und sich selbst erst recht: An Jean-Claude Juncker, dem scheidenden
       EU-Kommissionspräsidenten, gibt es einiges zu kritisieren.
       
   DIR Kommentar Europawahl-Kandidatin: Keine aus der Klüngelecke
       
       EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager ist unbequem. Mächtigen
       gegenüber teilte sie oft aus. Ihre Präsidentschaft wäre ein Glücksfall.
       
   DIR Mögliche Juncker-Nachfolgerin Vestager: „Diese Frau ist der Hammer“
       
       Margrethe Vestager hat Google zu Milliardenstrafen verdonnert. Nun will sie
       bei der Europawahl mitmischen – als Spitzenkandidatin der Liberalen.