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       # taz.de -- Istanbul nach der Wahl-Annulierung: „Wir werden am Ende siegen“
       
       > Istanbuls Noch-Bürgermeister Imamoğlu inspiriert seine Anhänger für ihre
       > Rechte zu kämpfen. Auch will er sich nicht geschlagen geben.
       
   IMG Bild: Ekrem Imamoğlu spricht am späten Montagabend in Istanbul vor Anhängern.
       
       ISTANBUL taz | Es dauerte ungefähr eine Viertelstunde, bis sich der
       noch-Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu, so in Form gebracht hatte,
       dass er seine Rede kurz unterbrach, um sein Jackett und seine Krawatte
       abzulegen. Danach legte er dann richtig los: „Die Entscheidung der
       Wahlkommission uns unseren Sieg abzuerkennen ist ein Verrat an der
       Istanbuler Bevölkerung“, rief Imamoğlu einen Anhängern zu.
       
       Die hatten sich um kurz vor Mitternacht am Montagabend vor dem Rathaus in
       Beylikdüzü zu Tausenden eingefunden, um gegen die Wahlkommission und den
       [1][türkischen Präsidenten Erdoğan zu protestieren]. „Wir werden ihnen das
       nicht durchgehen lassen“, rief Imamoglu und versprach: „Am Ende werden wir
       siegen“.
       
       In diesem Moment war der Funke bereits übergesprungen. Aus dem Haufen
       deprimierter und etwas desorientierter Oppositioneller war da bereits eine
       Schar hochmotivierter Kämpfer geworden. Sie sind bereit, die türkische
       Demokratie mit aller Kraft zu verteidigen.
       
       Die in einigen Oppositionskreisen favorisierte Idee eines Wahlboykotts bei
       den nun für den 23. Juni angesetzen Neuwahlen war nach Imamoğlu bereits
       begraben, bevor sie richtig diskutiert werden konnte. Am Dienstagmittag
       beschloss denn auch der Vorstand von Imamoğlus sozialdemokratischer CHP
       formal, bei den Neuwahlen wieder anzutreten.
       
       ## „Es wird alles gut werden“
       
       „Imamoğlu ist ein Phänomen“, schrieb einer seiner Anhänger in den sozialen
       Medien. „Vor einer Stunde wusste ich nicht mehr was ich machen soll, jetzt
       bin ich davon überzeugt, dass alles gut wird“.
       
       „Her şey çok güzel olacak“ (Es wird alles gut werden), ist die Parole, die
       [2][Imamoğlu schon in seinem Wahlkampf] benutzt hatte und die seit letzter
       Nacht zum Twitter Hashtag für die neue Kampagne der Opposition geworden.
       Noch bevor die Wut in Resignation umschlagen konnte, hat Imamoğlu in eine
       Kampagne der Hoffnung kanalisiert.
       
       In der Nacht hatten sich die Leute nicht nur in Beylikdüzü, wo Imamoğlu vor
       der Wahl fünf Jahre lang Bezirksbürgermeister war, versammelt. Sondern auch
       in anderen Istanbuler Bezirken gingen aufgebrachte Bürger in einem
       spontanen Protest auf die Straße, nachdem sie erfahren hatten, dass der
       Wahlsieg Imamoğlus für ungültig erklärt worden war.
       
       ## Druck auf die Wahlkommission
       
       Vier Wochen lang war die zentrale Wahlkommission von Präsident Recep Tayyip
       Erdoğan und der gesamten AKP-Spitze jeden Tag aufs Neue unter Druck gesetzt
       worden. Am Montagabend hatten die elf Richter, die die Kommission bilden,
       den Drohungen dann nachgegeben und mit sieben zu vier Stimmen eine
       Wiederholung der Istanbul-Wahl angeordnet.
       
       „Die Mitglieder der Wahlkommission sind bedrängt und bedroht worden“,
       erklärte Imamoğlu noch in der Nacht von Montag auf Dienstag. Schnell machte
       das Gerücht die Runde, Erdoğan hätte den Richtern gedroht, sie würden als
       Anhänger der Fetullah Gülen Sekte angeklagt, die für den Putschversuch von
       2016 verantwortlich gemacht wird, sollten sie die Istanbul-Wahl nicht für
       ungültig erklären.
       
       Sadi Güven, der integere Vorsitzende der Wahlkommission, der schon in der
       Wahlnacht am 31. März verhindert hatte, dass sich der AKP Kandidat Binali
       Yıldırım vorschnell zum Sieger erklären konnte, stimmte dennoch gegen den
       AKP Antrag. Als er um 1 Uhr Nachts kreidebleich den Sitz der Wahlkommission
       in Ankara verließ, weigerte er sich, eine Stellungnahme abzugeben.
       
       ## Keine offizielle Erklärung der Wahlkommission
       
       Bis heute gibt es keine offizielle Erklärung der Wahlkommission, sondern
       nur die Stellungnahme der AKP über die Entscheidung der Richter. Danach sei
       die Wahl annulliert worden, weil angeblich die Wahlleiter in einigen
       Wahllokalen keine Beamte waren, wie es das Wahlgesetz seit eineinhalb
       Jahren vorschreiben würde.
       
       „Würde man dasselbe Kriterium an die Präsidentschaftswahl des letzten
       Jahres anwenden, müsste die auch für ungültig erklärt werden“, sagte
       Imamoğlu, „weil dort dieselben Leute in den Wahllokalen saßen“.
       
       Wie wenig die erzwungene Entscheidung der Wahlkommission mit Recht und
       Gesetz zu tun hat zeigt sich schon daran, dass in allen Wahllokalen neben
       dem Oberbürgermeister auch die Bezirksbürgermeister und die Muhtars, die
       Vertreter im Kiez, gewählt wurden, aber nur die Wahl des Oberbürgermeisters
       annulliert wurde.
       
       Alle anderen bleiben im Amt. Die Entscheidung ist so offensichtlich
       ungerecht, dass Imamoğlu sich nun für die Neuwahlen am 23. Juni auf eine
       Welle der Empörung stützen kann. „Bisher“, schrieb der angesehene Kolumnist
       Murat Yetkin heute, „war es immer so, dass Erdogan das psychologische
       Moment des von der angeblichen Elite ungerecht behandelten Mannes auf
       seiner Seite hatte. Das ist jetzt umgekehrt. Jetzt ist Erdoğan der
       Unterdrücker“.
       
       ## Opposition samt Kurden geeint
       
       Bereits am Dienstagmittag haben sämtliche Oppositionsparteien erklärt, dass
       sie Imamoğlu bei der Neuwahl unterstützen werden. Nicht nur die Vorsitzende
       der offiziell mit Imamoğlus CHP verbündeten IYI-Partei, Meral Akşener, auch
       die pro-kurdische HDP, die zur Unterstützung von Imamoğlu am 31. März
       [3][auf einen eigenen Kandidaten verzichtet hatte], kritisierte, die
       Entscheidung der Wahlkommission habe „keinen Funken demokratischer
       Legitimität“.
       
       Trotzdem wird Erdoğan versuchen, die kurdischen Wähler, ohne die Imamoğlu
       nicht gewinnen kann, auf seine Seite zu ziehen. Es ist kein Zufall, dass am
       Montag bekannt wurde, dass der historische Führer der PKK, Abdullah Öcalan,
       nach acht Jahren Isolation auf der Gefängnisinsel Imrali, plötzlich wieder
       seine Anwälte sprechen durfte. Kurz bevor die Entscheidung der
       Wahlkommission bekannt wurde, gaben die Anwälte dann im Namen Öcalans eine
       Erklärung ab, in der dieser zur Versöhnung aufrief.
       
       Die Entscheidung, mehr als vier Wochen nach der Wahl den Sieg der
       Opposition nun für ungültig zu erklären, ist auch international scharf
       kritisiert worden. Die Außenbeauftragte der EU, Frederica Mogherini und der
       EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn, forderten, die Gründe für die
       intransparente Entscheidung offen zu legen und Wahlbeobachter für Neuwahlen
       zuzulassen.
       
       ## Heiko Maas: „Nicht nachzuvollziehen“
       
       Auch Bundesaußenminister Heiko Maas sagte, die Entscheidung sei „nicht
       nachzuvollziehen“. Schärfer kritisierten Claudia Roth und Cem Özdemir von
       den Grünen, Erdogan habe mit der Entscheidung die letzten Reste der
       türkischen Demokratie beseitigt.
       
       Mehr als diese Kritik wird Erdoğan die Reaktion der internationalen
       Finanzmärkte schmerzen. Die türkische Lira verlor in wenigen Stunden fast
       zwei Prozent auf Dollar und Euro und rutscht damit wieder in eine Zone, die
       für die kriselnde, hoch in Dollar verschuldete türkische Wirtschaft zum
       endgültigen Kollaps führen kann.
       
       „Erdoğan wird diese Entscheidung noch leid tun“, sagte ein türkischer
       Kollege, der schon seit längerem nicht mehr in den großen [4][Zeitungen
       schreiben] darf.
       
       7 May 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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