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       # taz.de -- Musikprojekt Nola is Calling: Im Bouncesound steckt Geschichte
       
       > Das Projekt Nola is Calling mit französischen, afrikanischen und
       > US-Musikern vergegenwärtigt die Geschichte der Sklaverei in New Orleans.
       
   IMG Bild: Kannten sich vorher nicht: Die Beteiligten von Nola is Calling beim Proben
       
       Ein guter Angriff beginnt in der Abwehr, etwa bei Sammy Kuffour,
       ghanaischer Verteidiger in Diensten des FC Bayern (1994 bis 2005). Es ist
       etwas mehr als zwanzig Jahre her, da hieß es in einer großen Münchner
       Tageszeitung, der Fußballclub beschäftige „einen Neger in der Abwehr“. Der
       Satz untertitelte ein Foto, das zeigte, wie Kuffour durch Foul einen Elfer
       verursacht hatte. Zynisch, nach dem Motto, Kuffour, der Mann fürs Grobe,
       versagt bei der ihm zugestandenen Drecksarbeit im Strafraum.
       
       Das N-Wort würde heute niemand mehr schreiben, genauso wenig wie den Satz
       mit dem rassistischen Unterton. Und trotzdem sind die Zeitläufte
       durcheinandergeraten, ersichtlich an der Tatsache, dass gerade noch am
       Dienstag dieser Woche dieselbe große Münchner Tageszeitung in einem
       hanebüchenen Text darüber aufklärte, dass die Bezeichnung „Sklave“ nur noch
       eine hohle Phrase sei.
       
       Es war der Philosoph und Aufklärer John Locke, der in seinem „Second
       Treatise of Civil Government“ (1689) die Praxis der Sklaverei mit einer
       Existenz verschiedener „Menschenrassen“ rechtfertigte, die ungleich seien.
       Wie unmenschlich Sklaverei gehandhabt wurde, zeigt sich beim „Code Noir“,
       einem Gesetzbuch, das von 1685 bis 1848 im französischen Kolonialreich
       galt, also auch noch nach der Aufhebung der Sklaverei um 1800.
       
       ## Was war der „Code Noir“?
       
       Seine 60 der Segregation und Religionsausübung dienenden
       ordnungspolitischen Maßnahmen sollten Revolten verhindern und verurteilten
       Sklaven zur juristischen Nichtexistenz. Dem hatten diese vor allem Musik
       entgegenzusetzen, mit der sie klandestin kommunizierten, die sie von ihrem
       ursprünglichen religiösen Zweck in weltliche Formen abwandelten und in der
       sie Botschaften versteckten. Das Trauma der Sklaverei, die Gewalt von
       Menschen über den Körper anderer Menschen, deren Kommodifizierung und
       Benachteiligung, beschäftigt die Nachkommen bis heute.
       
       Eine Lektüre des „Code Noir“ stand am Ausgangspunkt des Projekts Nola is
       Calling, bei dem drei Musiker aus Marseille, Paris und Coutonou (Benin) auf
       drei Kollegen aus New Orleans treffen. „Code Noir“ heißt auch ein Song auf
       dem Album mit Titel „Sewing Machine Effects“. Auf Initiative der Pariser
       Filmemacherin Elodie Maillot, die alle Musiker von ihren Reisen nach Afrika
       und durch die USA kannte, traf man sich. Musik als Mittel zur Verständigung
       über Grenzen hinweg, das klingt abgegriffen und naiv, bei Nola is Calling
       lenkt nichts Folkloristisches und Harmonieseliges vom Ausgangsmotiv ab. In
       jedem der 13 Songs werden die komplizierten Kommunikationswege, die Mühen
       des Ideenpitching hörbar. „Sewing Machine Effects“ stellt die
       Komplikationen wie ein Schnittmuster dar.
       
       Hasizzle, einer der Protagonisten des Bouncesounds, eines lokalen
       HipHop-Dialekts in New Orleans, trifft auf den Percussionisten Bonaventure
       Didolanvi aus Benin. Big Chief Jermaine, MC, Wortführer von Indians, einer
       Karnevalsgang aus dem Viertel Saint-Joseph in New Orleans, spielt mit dem
       Cellisten Olivier Kounduno, der sonst in der Pariser Jazzszene unterwegs
       ist.
       
       ## Drucklufthorn und Samplebeats
       
       Die sechs Beteiligten waren sich vor der Verabredung unbekannt. Zuerst
       gejammt haben sie in einem alten Haus im Viertel Treme in New Orleans,
       dabei entstanden Aufnahmen, die eigene und disparate Einflüsse miteinander
       verbinden und Geschichte gegenwärtig machen: MC-Ansagen treffen auf
       Sample-Beats, das Drucklufthorn der Eisenbahn röhrt mit einem schmatzenden
       Kontrabass; das Cello sägt gegen ein zappendes Fingerklavier.
       
       Der Sound ist schlagzeuggetrieben, tribalistisch, mitreißend. Fast alle der
       13 Songs funktionieren nach den Gegebenheiten einer Blockparty. Die Sänger
       fordern, reimen, fragen und antworten in Call&Response und verbreiten
       upliftende Stimmung.
       
       Nola is Calling. Der Name Nola ist ein Akronym, gebildet aus den
       Anfangsbuchstaben von New Orleans und der postalischen Abkürzung des
       US-Bundesstaats Louisiana (LA), zu dem die Stadt gehört. Der Ruf von Nola
       als Musikmetropole „Big Easy“ überdauert bisher alle Naturkatastrophen,
       Politikwechsel und Formen von gesellschaftlichen Wandel.
       
       ## Wem gehören die Mythen?
       
       Nola ist ein mythenumrankter, wenn auch auf den Hund gekommener Ort: Dass
       die Wurzeln der modernen US-amerikanischen Musik hier liegen, geschenkt.
       Dass sogar auf den Beerdigungen zum Jazz getanzt wird, gilt als Folklore.
       Ebenso, dass sein Karneval, der französische, indigene und
       afroamerikanische Traditionen vereint, eine Feier der antirassistischen
       Vielfalt ist und jedes Jahr Millionen Touristen anlockt.
       
       Einige Songs von Nola is Calling spielen auf den wichtigsten Tag des
       Karnevals an, Mardi Gras, Faschingsdienstag, der Tag der Paraden, ein Tag,
       der in New Orleans nicht ungefährlich ist, weil die Faschingsumzüge oftmals
       Anlass für territoriale Streitigkeiten von Gangs geben. Die Musik von Nola
       is Calling versucht zu befrieden.
       
       New Orleans ist die US-Metropole, in der die Spuren der französischen
       Kolonialzeit am stärksten nachwirken. Dass es eine dysfunktionale und
       notorisch korrupte Stadt ist, die für alle BewohnerInnen, die nicht in den
       gut betuchten Vierteln wohnen, vor allem in den feuchtheißen Sommermonaten
       die Hölle sein kann, wird gern ausgeblendet. „Welcome to New Orleans“,
       heißt es in dem Song „Code Noir“, „City of Jazz/ of Love, of Debris, of
       Destruction“. Auch dieser Songtext erzählt von den brutalen Nachwirkungen
       der Sklaverei.
       
       21 May 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Weber
       
       ## TAGS
       
   DIR Nola is Calling
   DIR New Orleans
   DIR Mardi Gras
   DIR Historischer Roman
   DIR La Réunion
   DIR Soundsystem
   DIR Michael E.Veal
       
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