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       # taz.de -- Die 72. Filmfestspiele von Cannes: Gesellschaftskritik mit allen Mitteln
       
       > Die Filmfestspiele von Cannes waren ein guter Jahrgang mit einer
       > verdienten Goldenen Palme für „Parasite“ des koreanischen Regisseurs Bong
       > Joon-ho.
       
   IMG Bild: Bong Joon-Ho, der glückliche Gewinner der Goldenen Palme
       
       Komödien sind eigentlich die besten Filme. Wenn sie gelingen. Das heißt
       nicht unbedingt, dass in ihnen alles immer zum Lachen sein muss. Doch dass
       es überhaupt etwas gibt, über das sich lachen lässt, ist für einen Film
       keine geringe Leistung.
       
       Mit „Parasite“ von Bong Joon-ho hat eine Gesellschaftsfarce aus Südkorea am
       Samstag bei den 72. Internationalen Filmfestspielen von Cannes in einer
       einstimmigen Kür die Goldene Palme gewonnen. Schon vorab war der Film als
       einer der Favoriten gehandelt worden. Die Geschichte einer Familie von
       Arbeitslosen, die sich aus dem Elend ihrer Souterrainwohnung heraus nach
       und nach in einen Oberschichthaushalt hineinmogeln, bietet ein grandioses
       Spiel der Verstellung.
       
       In immer neuen Anläufen spielt Bong Joon-ho Szenarien durch, in denen die
       Vertreter der wohlhabenden Familie sich als höchst naiv erweisen in ihrem
       blinden Vertrauen auf den „guten Namen“ anderer und die Empfehlungen von
       vermeintlichen Bekannten dankbar annehmen.
       
       Auf diese Weise schafft sich die sozial zunächst abgehängte Familie um den
       Vater Ki-taek (Song Kang-ho) ihren eigenen symbolischen gesellschaftlichen
       Kitt, stellt durch geschickte Tarnung – das ist eines der effektivsten
       Mittel dieser Komödie – ein Vertrauensverhältnis her, das komplett auf
       Bluff beruht.
       
       Das Publikum weiß dabei stets um diesen Schwindel und lacht mit Ki-taeks
       Familie über ihre immer hanebücheneren Coups, von Bong Joon-ho mit
       souveränem Timing gesetzt. Wenn dann irgendwann Schluss mit lustig ist, hat
       der Film keinesfalls verloren. Er hat lediglich seine Tonlage drastisch hin
       zum Grimmig-Gewalttätigen geändert.
       
       ## Die wirklich Getäuschten sind die Armen
       
       Denn Bong Joon-ho will in aller Unerbittlichkeit demonstrieren, dass die
       wirklich Getäuschten die Armen sind, die für eine kurze Zeit glauben, sie
       könnten am Wohlstand der anderen teilhaben, gar den Platz ihrer Gönner
       einnehmen. Ein tiefschwarzes Bild der koreanischen Gesellschaft, von einem
       perfekt zusammenspielenden Ensemble geboten und in einer wunderbar
       kalt-modernistischen Villa als Ort der Handlung ins Bild gesetzt.
       
       Die Goldene Palme ist damit vielleicht nicht an den künstlerisch
       ambitioniertesten Film gegangen, aber an einen, der für seine Botschaft
       eine Form findet, die hochgradig überzeugt.
       
       Überhaupt war dieser Jahrgang einer, in dem viele gute Filme miteinander
       konkurrierten, wenn auch nur wenige wie „Parasite“ deutlich herausstachen.
       Bemerkenswert war etwa auch der französische Beitrag „Atlantics“ von Mati
       Diop, der den Großen Preis der Jury erhielt. Ihre Geschichte über das
       Schicksal von Migranten aus Senegal, die ihr Glück in Spanien versuchen,
       zählte zu den elegantesten Beiträgen dieses Jahrgangs.
       
       Einfach weil Diop gerade bei dem, was sie nicht zeigt, sehr viele gute
       Entscheidungen getroffen hat. So ist die Perspektive nicht die der
       Migranten, die sich mit ihrem Boot auf den Atlantik wagen, sondern die der
       in Dakar zurückbleibenden Frauen. Auch lässt sie einen für lange Zeit über
       das Schicksal der aufgebrochenen Männer im Unklaren.
       
       Zudem findet „Atlantics“ einige der schönsten Bilder des Wettbewerbs, ins
       Surreale gewendete Aufnahmen des Atlantiks, den die Kamera so fremd wirken
       lässt wie die Oberfläche eines unbekannten Planeten, tatkräftig unterstützt
       von der futuristischen elektronischen Filmmusik Fatima Al Qadiris, die
       dafür allemal einen Preis verdient hätte.
       
       ## Der erstaunlichste Film im Wettbewerb
       
       Ein weiterer Film, der in der Gunst vieler Kritiker sehr hoch stand, war
       der brasilianische, wie „Parasite“ als Farce angelegte „Bacurau“ von Kleber
       Mendonça Filho und Juliano Dornelles. Die fröhlich die Genres vermischende
       Zukunftsvision über ein Land, in dem Gewalt zum Zeitvertreib reicher
       Touristen geworden ist, ergab definitiv einen der erstaunlichsten und
       hemmungslosesten Filme im Wettbewerb.
       
       Dass er sich den Preis der Jury mit „Les Misérables“ von Ladj Ly aus
       Frankreich teilt, ergibt Sinn, auch wenn Lys Schilderung des Alltags in der
       Pariser Banlieue aus Sicht dreier Polizisten weit konventioneller gestaltet
       sein mag. Für ein Spielfilmdebüt ist er dafür umso stilsicherer.
       
       Verdient schließlich auch der Preis als Bester Schauspieler für den Spanier
       Antonio Banderas. Seine zurückgenommene Darbietung eines alternden
       Regisseurs in Pedro Almodóvars „Dolor y Gloria“ war von so anrührender
       Zerbrechlichkeit – allein wenn er sich stoisch ein Kissen unter die Knie
       legt, um an seinen Nachttisch zu kommen, weil der Rücken nicht mehr
       mitmacht –, dass er außer Konkurrenz war.
       
       Selbst wenn sein italienischer Kollege Pierfrancesco Favino als
       Cosa-Nostra-„Verräter“ Tommaso Buscetta in Marco Bellocchios „Il
       Traditore“ einen bei aller Markigkeit fast ebenso preiswürdig nuancierten
       Auftritt hatte. Überraschend hingegen, dass der Preis für das beste
       Drehbuch an die Französin Céline Sciamma für „Portrait of a Lady on Fire“
       ging.
       
       Denn die Thesenhaftigkeit, mit der diese Begegnung zweier ungleicher Frauen
       im 18. Jahrhundert in Dialoge und symbolträchtige Bilder – unter anderem
       ein Spiegel vor dem Unterleib von Adèle Haenel, in dem das Gesicht ihres
       Gegenübers, gegeben von Noémie Merlant, auftaucht –, war eher eine Schwäche
       in diesem ansonsten überragend inszenierten und mit zwei elektrisierend
       aufeinander reagierenden Hauptdarstellerinnen besetzten Kostümfilm. Ein
       Preis für die beste Regie hätte sich besser angeboten.
       
       ## Mutige Filme auch in den Nebenreihen
       
       Sehr stark präsentierte sich in diesem Jahr genauso die Reihe „Un certain
       regard“, in der einige der mutigsten Filme zu finden waren. Und einige der
       schönsten. So ging der Preis Un certain regard sehr verdient an „A vida
       invisível de Eurídice Gusmão“ des Brasilianers Karim Aïnouz.
       
       Seine Verfilmung des Romans „Die vielen Talente der Schwestern Gusmão“ der
       brasilianischen Schriftstellerin Martha Batalha fängt die getrennten
       Biografien zweier Schwestern in wunderbar grobkörnigen Bildern ein, in
       denen die Schwüle Rio de Janeiros fast körperlich spürbar wird. Aïnouz
       gelangen zugleich einige der unglamourösesten Sexszenen dieses Jahrgangs,
       mit einer Erektion, die weniger triumphal als lächerlich ins Bild schnellt.
       
       In diesem Punkt teilt er sich seinen Ansatz mit dem Spanier Albert Serra.
       Dass dessen Film „Liberté“ in derselben Reihe den Spezialpreis der Jury
       erhielt, ist eine kühne Wahl. Denn wie der Spanier zwei Stunden lang die
       Exzesse der Libertinage in keinesfalls gloriosen Versuchsanordnungen mehr
       bloßstellt als verherrlicht, hat durchaus etwas Extremes. Im guten Sinn.
       
       Das europäische Kino wie überhaupt das Weltkino ließen in Cannes jedenfalls
       wenig erkennen, dass dem Kino insgesamt derzeit Ungemach durch die
       Marktmacht von Streamingdiensten droht. An cineastischer Vielfalt war kein
       Mangel zu beklagen.
       
       Von ins Fantastische gewendeter Gesellschaftskritik aus Tunesien („Tlamess“
       von Ala Eddine Slim) bis zu einem ungewöhnlichen Blick auf die kaum
       bekannten Schicksale von Militärfrauen in der Sowjetunion am Ende des
       Zweiten Weltkriegs (Kantemir Balagovs „Beanpole“, der in der Reihe „Un
       certain regard“ den Preis für die beste Regie bekam) oder einer
       Zombie-Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Voodoo-Kultur auf
       Haiti („Zombi Child“ von Bertrand Bonello) gab es vieles, dem man ein
       Publikum jenseits von Festivals wünscht.
       
       Es braucht also nur Verleiher, die sich trauen, diese Filme ins Kino zu
       bringen, und Zuschauer, die sie auf der Leinwand sehen wollen.
       
       26 May 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tim Caspar Boehme
       
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