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       # taz.de -- Nach Protesten zurückgezogener Entwurf: Queerpolitisches Gestolpere
       
       > Die LGBTI*-Community kritisiert ein Reformvorhaben der Koalition scharf.
       > Die Politik scheint zurückzurudern, aber ausgemacht ist das noch nicht.
       
   IMG Bild: Demonstrierende mit einer Regenbogenfahne
       
       Berlin taz | Der Satz, der im Kern das Problem ausmacht, ist Artikel 7a:
       „Die Geschlechtszugehörigkeit einer Person unterliegt dem Recht des
       Staates, dem die Person angehört.“ Sprich: Es obliegt dem Staatsrecht,
       welchem sexus seine Bürger*innen – zumindest formell – angehören. Und
       nicht dem individuellen Empfinden.
       
       Der Satz steht im neuen Gesetzentwurf zur Geschlechtseintragung von inter-
       und transsexuellen Menschen. Über den hatte das Bundeskabinett eigentlich
       am Mittwoch beraten wollen. Aber dazu kam es nicht. [1][Der Gesetzentwurf
       hatte zuvor in der LGTB*-Community für so viel Empörung gesorgt], dass die
       Bundesminister das Papier wieder vom Tisch genommen haben. Ein Sprecher des
       Justizministeriums bestätigte am Mittwoch der taz: „Der Punkt stand nicht
       auf der Tagesordnung.“
       
       Bislang entscheidet in Deutschland das sogenannte Transsexuellengesetz
       (TSG) über die Geschlechtszugehörigkeit von trans* Menschen. Der neue
       Entwurf aus dem Innenministerium und Justizministerium will das TSG nun in
       das Bürgerliche Gesetzbuch integrieren.
       
       Das hängt einerseits damit zusammen, dass das TSG dringend überholt werden
       muss. Seit 1981 in Kraft, wurden mehrere Passagen darin seitdem vom
       Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erachtet.
       
       Der Reformwille der federführenden Ministerien Inneres und Justiz hängt
       aber auch mit dem neuen Paragrafen 45b im Personenstandgesetz zusammen, der
       als „dritte Option“ bekannt ist: [2][Seit Ende Dezember können
       intersexuelle Menschen ihre Geschlechtsangabe in „divers“ umschreiben]
       sowie ihren Namen beim Standesamt ändern, dafür reicht ein ärztliches
       Attest, das eine „Variante der Geschlechtsentwicklung“ bestätigt. Diese
       Möglichkeit zur Änderung der Geschlechtseintragung in der Geburtskunde
       haben seitdem allerdings auch trans* Personen genutzt.
       
       Das ist vor allem dem Innenministerium nicht recht. Im März sagte der
       Parlamentarische Staatssekretär des Ministeriums, Günter Krings (CDU), in
       der FAZ: „Ich finde es bedenklich, wenn die von Geburt an schwierige
       Situation von intersexuellen Menschen und die für sie richtigerweise
       veränderten personenstandsrechtlichen Regeln nun von einzelnen Vertretern
       einer anderen Gruppe für sich ausgenutzt wird.“
       
       Im April betonte das Ministerium in einem Rundschreiben an die
       Standesämter, dass Transsexuelle von der Neuregelung im
       Personenstandsgesetz (PstG) ausgenommen seien. „Unhaltbar“, findet das
       Karl-Heinz Brunner, queerpolitischer SPD-Sprecher.
       „Personenstandsänderungen werden nicht aus Jux und Tollerei durchgeführt.“
       
       ## LGBTI*-Community fühlte sich überrumpelt
       
       Aber vor allem Konservative nehmen die Nutzung der „dritten Option“ durch
       trans* Menschen als „Hintertür“ wahr, die geschlossen werden muss. Beim
       neuen Gesetz soll das also nicht mehr funktionieren, und die Standesämter
       sollen strenger auf die Arztbescheinigungen von Intersexuellen achten.
       
       Als der Entwurf am Mittwoch vergangener Woche vorgelegt wurde, schlugen die
       Interessenvertretungen in der LGBTI*-Community Alarm. Die Fachverbände
       fühlten sich überrumpelt, denn die Ministerien gaben ihnen nur zwei Tage
       Zeit, um eine Positionierung zu dem gut 30 Seiten langen Entwurf
       einzureichen.
       
       „Eine Zumutung, die darauf hofft, dass die Dachverbände es nicht schaffen,
       eine Stellungnahme zu formulieren“, sagte Andrea Ottmer, Vorstand der
       Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti). In
       zwei Tagen könne man keinen juristischen Rat einholen.
       
       ## Weiterhin sollten Richter entscheiden
       
       Die Bundesvereinigung Trans* sagte, die Fristsetzung sei „kein
       demokratisch-partizipativ akzeptables Vorgehen“. Dem widersprach das
       Innenministerium: „In 48 Stunden ist eine Stellungnahme durchaus möglich“,
       sagte ein Sprecher der taz. Die Frist sei notwendig gewesen, um das
       Verfahren zügig ins Kabinett bringen zu können.
       
       Die Verbände kritisieren neben dem Vorgehen diverse Punkte im Entwurf. Etwa
       die „qualifizierte Beratung“, die laut Entwurf die psychologischen
       Gutachten ersetzen soll. Bisher mussten trans* Menschen zwei solcher
       Gutachten vorlegen, und ein Amtsgericht musste über die Anpassung des
       Geschlechtseintrags entscheiden.
       
       Das klingt nach einer Vereinfachung für alle betroffenen trans* Menschen –
       allerdings soll die „qualifizierte Beratung“ von denselben Psychologen und
       Fachärzten durchgeführt würde, die bislang Gutachten erstellten, was die
       Verbände kritisieren. Genau wie die Tatsache, dass die finale
       Entscheidungsgewalt nach wie vor in richterlichen Händen liegen soll. Neu
       ist auch, dass trans* Menschen bei Ablehnung erst nach drei Jahren einen
       neuen Antrag einbringen können.
       
       ## Scharfe Kritik an geplanter Ehepartner*innen-Anhörung
       
       „Der Gerichtszwang bleibt“, kritisiert Andrea Ottmer von der Deutschen
       Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti). Sie ist der
       Meinung, Beratung bringe nur etwas, wenn sie freiwillig ist: „Und bitte mit
       Leuten aus der Peergroup, die praktische Erfahrung haben und erzählen
       können, wie das ist, wenn man auf der Straße gefragt wird, ob man Frau oder
       Mann ist.“ Sven Lehmann, queerpolitischer Sprecher der Grünen, twitterte:
       [3][„Wann hört dieser Zwang endlich auf, über Körper und Geschlecht
       bestimmen zu wollen?!“]
       
       Eine weitere Ergänzung in dem Entwurf sieht vor, dass in dem richterlichen
       Verfahren der Ehepartner oder die Ehepartnerin angehört werden soll. Ottmer
       findet das skandalös: „Darauf ist man nicht mal in den Achtzigern
       gekommen.“
       
       Dass der Entwurf nun erst einmal nicht im Kabinett verhandelt wird, ist
       eine Reaktion auf den Aufschrei von Opposition und Betroffenen. 24.000
       Menschen haben binnen weniger Tage eine [4][Onlinepetition des Bloggers
       Linus Giese] unterzeichnet, die ein „Ende der Diskriminierung und
       Begutachtung“ von trans* Personen fordert.
       
       Der Ärger hängt mit den Details des Entwurfs zusammen, aber auch mit dem
       Verhalten der Regierung. Jahrzehntelang haben sich die konservative
       Regierungskreise im Innenministerium beim Thema Transsexualität keinen
       Millimeter bewegt. Die Union saß das Thema aus, trotz der Urteile aus
       Karlsruhe. Auch die Arbeitsgruppe „Intersexualität/Transsexualität“, wurde
       2018 mit der neuen Regierung aufgelöst.
       
       Bei dem neuen Entwurf war zum ersten Mal das Justizministerium unter
       Führung von Katarina Barley (SPD) beteiligt. [5][Bis dahin war allein das
       Innenministerium für das TSG zuständig gewesen].
       
       Die inhaltlichen Kompromisse mit dem Haus von Horst Seehofer (CSU) sorgen
       in Barleys eigener Partei für Unmut. Die Arbeitsgruppe SPDQueer spricht in
       einer Erklärung von einer „Verschlechterung der aktuellen rechtlichen
       Situation“ und nennt den Entwurf einen „Kuhhandel“ sowie „Augenwischerei“.
       Der queerpolitische SPD-Sprecher Karl-Heinz Brunner sagt: „Der Entwurf
       würde in der jetzigen Fassung dem Verfahren keine Verbesserung bringen.“
       
       ## EU-Resolution als Vorbild
       
       Allerdings gibt er sich auch versöhnlich: „Wir müssen und wollen im
       Gesetzgebungsverfahren eine Einigung mit dem Koalitionspartner erzielen.“
       Durch die kurze Frist sei endlich Bewegung in die Sache gekommen.
       
       Kommenden Sonntag stehen die Europawahlen an, danach wird
       SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley wohl nach Brüssel wechseln und ihren
       Posten als Justizministerin aufgeben. Ein paar Tage bleiben noch, um das
       Gesetz erst im Kabinett zu beschließen und dann ins Parlament zu bringen.
       Für Transsexuelle wie Ottmer wäre die Reform eine Demütigung: „Der Entwurf
       basiert auf dem Familien- und Geschlechterbild der 50er und 60er Jahre und
       hat mit wissenschaftlichen Erkenntnissen über Transsexualität gar nichts zu
       tun.“
       
       Übrigens: Die Europäische Union, Barleys künftiger Arbeitgeber, hat schon
       2015 in einer Resolution ein „schnelles transparentes und zugängliches
       Verfahren auf der Grundlage der Selbstbestimmung“ für die Namensänderung
       und Geschlechtseintragung von trans* Menschen empfohlen.
       
       17 May 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Dritte-Geschlechtsoption/!5558793
   DIR [2] /Aenderung-des-Personenstandsgesetzes/!5554623
   DIR [3] https://twitter.com/svenlehmann/status/1126388088601759745
   DIR [4] https://www.change.org/p/transsexuellengesetz-beteiligt-betroffene-beendet-diskrimininierung-begutachtung-justizministerium-innenministerium-tsg
   DIR [5] /Drittes-Geschlecht-bleibt-Streitfall/!5523657
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simon Wörz
       
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