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       # taz.de -- Erwartungen an die SPD: Schämt euch, Wähler!
       
       > Die WählerInnen wollen von der SPD die heile Welt – wenn das nicht
       > klappt, wird die Partei zum Abgrund getrieben. Wie eklig ist das und wie
       > regressiv.
       
   IMG Bild: Hoch hinaus? Geht so
       
       Alle reden von der Krise der SPD, dabei haben wir in Wirklichkeit eine
       Krise der WählerInnen, genauer gesagt eine Krise von dir, du abgewanderter
       Wähler oder abgewanderte Wählerin der Sozialdemokraten, ich nenn’ dich mal
       abgekürzt ASW. Du weißt nicht mehr, was genau du willst von der Politik,
       nur dass es irgendwie ziemlich viel ist, was du möchtest. Erst recht von
       den Sozialdemokraten.
       
       Keine Partei ist mit einem so hohen Anspruchsdenken konfrontiert wie die
       SPD. Und wenn Mama und Papa dann nicht mehr liefern (können), dann gibt’s
       eben kein Kreuzchen mehr, sondern nur noch ein Ätsch, nur noch 15 Prozent,
       wie zum Beispiel bei der Europawahl. Dann strafst du ab, ASW. Dann ergötzt
       du dich am darauf folgenden Spektakel, wenn eine Partei sich selbst
       zerlegt. Wie eklig ist das und wie regressiv.
       
       Du spürst natürlich auch, ASW, dass das ganze Gerede vom menschlichen
       Umgang innerhalb der Partei, überhaupt innerhalb der Politik, das man jetzt
       hört nach Andrea Nahles’ Abgang, letztendlich dir gilt. Die Politiker
       wollen von dir, ASW, menschlicher behandelt werden. Nicht mit dieser
       Doppelbödigkeit, diesem Doublebind, das die Partei verrückt gemacht hat. So
       dass am Ende einige Konzepte immer unrealistischer wurden und die Chefin
       das Handtuch warf und man ihr jetzt einen abgelegenen Bauernhof wünscht,
       mit vielen Tieren, die sich eindeutiger verhalten als du.
       
       Denn diese Ironie hast du geschaffen, ASW: Genau die Partei, die sich den
       Kampf gegen Ungerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben hat, wird von dir am
       ungerechtesten behandelt. Dabei haben sie streckenweise durchaus
       ordentliche Arbeit geleistet.
       
       ## Keine schlechte Bilanz
       
       Das zeigt schon ein Blick in die Geschichte: Frauenwahlrecht,
       Bildungsreform, Tarifrecht, Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung im
       Krankheitsfall. All die Sachen, warum das Ausland Deutschland für eine Art
       beschützte Werkstatt hält, gehen zu großen Teilen auf das Konto der Partei,
       die du, ASW mal gewählt hast, bevor du in der politischen Regression
       versankst.
       
       Um die Dinge zurechtzurücken, hilft auch ein Blick in die nähere
       Vergangenheit: Der gesetzliche Mindestlohn zum Beispiel war die erste
       allgemeine gesetzliche Lohnuntergrenze. Er trat 2015 in Kraft, damals war
       Andrea Nahles Ministerin für Arbeit und Soziales. Okay, etwas mehr als 9
       Euro ist nicht viel und es wird überall geschoben und betrogen. Aber ohne
       den Mindestlohn hätten wir in Deutschland ein noch ärmeres
       Dienstleistungsproletariat. Wir hätten noch mehr Hass auf Migranten, denen
       man immer vorwarf, sich zu Dumpinglöhnen zu verdingen und die Preise
       kaputtzumachen.
       
       Die Dumpinglöhne sind dir, ASW, allerdings wurscht, wenn du für vier Euro
       fuffzig ein Hauptgericht beim Syrer futterst und dich lieber nicht fragst,
       was die Leute hinterm Tresen verdienen und wie diese Preise zustande
       kommen. Du, ASW, bist ein wandelnder Widerspruch, aber das willst du lieber
       nicht wissen beim Blick in den Spiegel, und auch die Partei, die du wählst,
       soll keine Widersprüche zeigen.
       
       ## Geschenke in der Ratlosigkeit
       
       Bei dir, ASW, ist alles scheinbar glasklar: Die SPD hat die Schwachen
       verraten, damals, als die rot-grüne Schröder-Regierung Hartz IV einführte.
       Das klebt an der SPD wie Scheiße am Schuh. Dabei war die Abschaffung der
       alten Arbeitslosenhilfe von der Union zuvor schon lange geplant. Man könnte
       nun Hartz IV erhöhen, die SPD könnte dafür kämpfen. Aber würdest du sie
       dann wieder wählen, ASW? Oder würdest du dich dann beklagen, dass die
       Steuern zu hoch sind und viele Arbeitslose auf Hartz IV sich zu fein sind
       für harte Arbeit, weil der Unterschied zum Lohn zu klein ist ?
       
       Die Sozialdemokraten wissen nicht mehr, was genau du willst, ASW. Sie
       versprechen in ihrer Ratlosigkeit jetzt Geschenke, von denen jeder weiß,
       dass sie so nicht kommen werden: eine staatliche Grundrente auch für Erben
       oder reich Verheiratete, zum Beispiel. So was macht unglaubwürdig. Sie
       reden dir nach dem Mund und du wendest dich verächtlich ab. So treibt man
       eine Partei in den Wahnsinn.
       
       Auch die Grünen haben damals den Hartz-Gesetzen zugestimmt. Es sind die
       gleichen Grünen, bei denen du, ASW, vielleicht nun dein Kreuzchen machst.
       Weil die Grünen öko sind und links und so viel reiner wirken als die SPD
       mit ihrer Scheiße am Schuh. Du, ASW, willst dir die Hände nicht schmutzig
       machen. Du willst authentisch bleiben. Es wird nicht funktionieren.
       
       4 Jun 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Dribbusch
       
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