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       # taz.de -- Die Wahrheit: Krumme Gedanken geradeheraus
       
       > Der Deutsche verwechselt Kindererziehung noch immer mit Folter und
       > Abrichtung. Davon künden zahlreiche Ratschläge, die Eltern ungefragt
       > erhalten.
       
   IMG Bild: Anschaulicher Lehrunterricht: Der Bauer darf Bier, die anderen müssen Milch trinken
       
       Deutschland ist ein Schlachtfeld mit Telekom-Hotspots“, brachte meine
       Freundin unlängst den hiesigen Status quo auf den Punkt. Wer wissen möchte,
       warum das so ist, der kann sich natürlich die Mühe machen und
       Sozialwissenschaften oder Geschichte studieren. Wem das zu anstrengend ist,
       der kann aber auch zu Hause bleiben und ein Kind zeugen (Achtung: wird
       hinterher ebenfalls anstrengend).
       
       Als Elternteil eines neuen Menschen hat man nach wenigen Monaten genug
       Erkenntnisse gesammelt, die eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der
       Verkommenheit des speziell deutschen Sozialcharakters obsolet machen. Wer
       ein Kind hat in diesem Land, wird nämlich nur zu gerne von seinen
       Mitmenschen angehalten, es doch um Himmels Willen nicht so zu verwöhnen und
       erhält allerhand praktische Ratschläge: Regelmäßig hört man aus dem
       Verwandten- und Bekanntenkreis auch in vermeintlich fortschrittlichen
       Milieus etwa die Aufforderung, man solle das Kind nicht zu oft in den Arm
       nehmen, es werde sonst krumm. Und wer es aufhebt, wenn es in der Wiege
       schreit, kennt den Vorwurf, von seinem Kind kontrolliert zu werden.
       
       Ein Klassiker ist auch das Ammenmärchen, Babys müssten sich bisweilen
       richtig ausschreien, respektive: Schreien stärkt die Lungen.
       Erziehungsmethoden, wie sie von den Nazis propagiert wurden und heute noch
       nachgebetet werden. Doch selbst das Pädagogikmodell der Aufklärung gerierte
       sich dereinst kühl. Kinder waren demnach letztlich Tiere, die es zuerst
       einmal abzurichten galt, auf dass eines Tages ein wunderschöner
       Schmetterling – quatsch! – ein stocksteifer Bürger aus ihnen wurde.
       
       Der Deutsche verwechselt Erziehung also gerne mit Folter und misstraut
       selbst denen, die er lieben möchte. Sogar wenn sie kaum größer sind als
       sein Unterarm und ihn mit süßen Glubschaugen ansehen. Wer sein Kind nicht
       mitfoltern will, der schadet dieser Auffassung nach natürlich vor allem dem
       Kind. Weil dieses im Hacken und Stechen unter Gleichaltrigen später nicht
       richtig mitfoltern kann oder gar weniger anfällig für solcherlei Blödsinn
       ist, der unter Erwachsenen ja auch nicht urplötzlich zu existieren aufhört.
       
       Als Menschen, denen Marter und Strenge eher lästig sind, haben wir uns in
       Sachen Erziehung (in Absprache mit dem Kinderarzt, ich bitte von wütenden
       Zuschriften abzulassen) für die Weichspülvariante namens Zuneigung
       entschieden. Vielleicht mache ich den größten Fehler meines Lebens, wenn
       ich unsere Tochter nicht taktischem Leid aussetze. Vielleicht falle ich auf
       genusssüchtige Verschlagenheit herein, wenn sie mich mit einem süßen
       Brabbeln wieder einmal dazu bringt, sie in den Arm zu nehmen. Vielleicht
       werde ich unsere verwöhnte Tochter auch noch mit 30 im Fliegergriff auf die
       Arbeit tragen müssen.
       
       In diesem Fall bin ich gerne bereit zu glauben, dass das Resultat ein
       krummer Rücken ist. Dann aber wohl bei mir.
       
       4 Jun 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Lichter
       
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