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       # taz.de -- Krankenhaus-Serienmörder Niels Högel: Erst versetzt, dann weggelobt
       
       > Im Prozess gegen den Krankenpfleger und Serienmörder Niels Högel zeigt
       > sich: Der Verdacht der Kolleg*innen wurde von den Kliniken ignoriert.
       
   IMG Bild: Mörder mit den meisten Opfern in der deutschen Nachkriegsgeschichte: Niels Högel
       
       OLDENBURG taz | Die Strichliste entstand 2001. Auf ihr stehen die Namen der
       Pflegekräfte von Station 211 im Klinikum Oldenburg, der herzchirurgischen
       Intensivstation. Die Striche stehen für Reanimationen und Todesfälle von
       Patient*innen. Manchmal steht da kein Strich, manchmal wenige, bei einem
       Pfleger sind es zehn. Doch einer hat mit Abstand die meisten: 18 Striche.
       Sie stehen hinter [1][dem Namen Niels Högel].
       
       Högel ist bislang der Mörder mit den meisten Opfern in der deutschen
       Nachkriegsgeschichte. Wegen 100fachen Mordes steht er vor dem Oldenburger
       Landgericht. Er hat Patient*innen nicht angeordnete Kreislaufmedikamente
       gespritzt. Die eingeleiteten Wiederbelebungen waren oft erfolglos.
       
       Die Taten soll er zwischen Februar 2000 und Juni 2005 im Klinikum Oldenburg
       und im Krankenhaus Delmenhorst begangen haben. Sein jüngstes Opfer war 34
       Jahre alt, sein ältestes 96. Am heutigen Donnerstag wird nach mehr als
       sieben Monaten das Urteil gesprochen.
       
       Högel sitzt wegen sechs weiterer Taten bereits eine lebenslange Haftstrafe
       ab. Das Urteil wird an diesem Strafmaß nichts ändern. Das, was dieser
       Prozess vor allem bringt, ist Gewissheit für die Angehörigen der Opfer.
       Högel gestand 43 Morde, an 52 Taten will er sich nicht erinnern, fünf Morde
       stritt er ab. Und auch wenn es in dem Prozess eigentlich darum ging, Högels
       Schuld oder Unschuld zu beweisen, so standen immer wieder die Fragen im
       Mittelpunkt: Was wussten Högels Kolleg*innen? Haben sie einfach
       weggeschaut?
       
       ## „Sensen-Högel“
       
       „Rettungs-Rambo“ und „Sensen-Högel“ haben sie ihn genannt. Die Ermittlungen
       deuten darauf hin, dass er schon früh verdächtigt wurde. Nur ein Indiz
       dafür ist die achtzehn Jahre alte Strichliste. Unten auf dem Papier ist
       handschriftlich vermerkt, dass eine Gefährdung der Abteilung und der Klinik
       nicht zu akzeptieren sei. Die Verdachtsmomente würden nicht ausreichen, um
       die Staatsanwaltschaft zu informieren, heißt es zudem in der Notiz.
       
       Högel wurde, nachdem die Liste erstellt wurde, zunächst hausintern in die
       Anästhesie versetzt, dann, 2002, mit einem guten Arbeitszeugnis weggelobt.
       Er fing auf einer neuen Stelle im Krankenhaus Delmenhorst an und mordete
       dort weiter, bis er 2005 am Bett eines Patienten auf frischer Tat ertappt
       wurde.
       
       Die Oldenburger Strichliste von 2001 soll der damalige Leiter der
       Intensivstation, Bernd N., erstellt haben. Im Verfahren trug sie seinen
       Namen, die N.-Liste. N. sagte vor Gericht nichts dazu, er berief sich auf
       sein Aussageverweigerungsrecht. Gegen ihn wird wegen Totschlags durch
       Unterlassen ermittelt.
       
       Immer wieder zeigte der vorsitzende Richter Sebastian Bührmann Zeug*innen
       die Liste. N.s Vertreter Johann K., der stellvertretende Stationsleiter,
       will nichts von der Liste gewusst haben. Die hohe Anzahl von Reanimationen
       sei ihm nicht aufgefallen. Bührmann ließ keinen Zweifel daran, dass er N.s
       Aussage wenig glaubte. Er ließ ihn vereidigen, so wie sieben weitere
       Zeug*innen. Mittlerweile laufen gegen diese acht Ermittlungen wegen
       Meineids. Gegen zwei weitere wird wegen uneidlicher Falschaussage
       ermittelt.
       
       Darauf hat das Klinikum Oldenburg reagiert und die betroffenen
       Mitarbeiter*innen, die noch dort angestellt waren, im Februar freigestellt.
       Eine mögliche Falschaussage torpediere die Bemühungen der Klinik um
       lückenlose Aufklärung, hieß es dazu.
       
       ## Zeugen „auf Linie bringen“
       
       Doch diese Bemühungen der Klinik wurden im Prozessverlauf in Zweifel
       gezogen. Das Klinikum zahlte allen Zeug*innen aus Oldenburg einen Anwalt.
       Der heutige Geschäftsführer Dirk Tenzer begründete das vor Gericht mit
       seiner Fürsorgepflicht und kam selbst mit einem Rechtsbeistand. Manche
       Zeug*innen sagten, sie hätten das Gefühl gehabt, man wollte sie „auf Linie
       bringen“. Auch Richter Bührmann fand, dieses Vorgehen erwecke den Verdacht
       der Zeug*innenbeeinflussung.
       
       Hinzu kommt, dass Tenzer den Behörden Unterlagen erst verspätet
       aushändigte. Die besagte Strichliste beispielsweise hatte er seit 2014, gab
       sie aber erst 2016 an die Ermittlungsbehörden. Er habe ihr keine Bedeutung
       zugemessen und sie zeitweise sogar vergessen, sagte Tenzer.
       Betriebsarztakten gab er jedoch viel früher freiwillig ab. Die Frage, warum
       er die Bewertung von Beweisen nicht den Ermittler*innen überließ, blieb
       offen.
       
       Es gab aber auch Zeug*innen, die offenbar ganz frei aussagten. Sie
       erklärten, dass sie nichts bemerkt hätten. Oder dass sie ihrem Vorgesetzten
       einen Verdacht meldeten, aber nichts unternommen wurde. Manche kämpfen
       deshalb bis heute mit Schuldgefühlen.
       
       126 Angehörige haben sich als Nebenkläger*innen dem Verfahren
       angeschlossen. Ihnen standen Opferbetreuer*innen des Weißen Rings zur
       Seite. Die ersten Stuhlreihen in der Oldenburger Weser-Ems-Halle waren für
       sie reserviert. Wegen der vielen Verfahrensbeteiligten und des großen
       öffentlichen Interesses wurde die Halle zum Gerichtssaal umfunktioniert.
       Wenn Zeug*innen befragt wurden, wurde ihr Bild per Video auf zwei große
       Bildschirme über den Plätzen für Richter und Schöffen übertragen. So konnte
       ihnen jeder dabei ins Gesicht sehen.
       
       ## „Kompetenter Lügner“
       
       Auch wenn die Zahl von 106 möglichen Opfern schon unvorstellbar ist, die
       Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein. Darin waren sich auch in diesem
       Prozess fast alle Beteiligten einig. Zum einen sind nicht alle Menschen,
       denen Högel etwas spritzte, gestorben. Opfer sind sie trotzdem. Hinzu
       kommt: Zwischen den hier angeklagten Taten liegen teilweise mehrere Wochen.
       Högel selbst sagte, er erinnere sich nicht, jemals eine längere Pause
       gemacht zu haben.
       
       In seinen letzten Worten vor Gericht wandte er sich an die Angehörigen der
       Opfer. Er wolle sich „bei jedem Einzelnen für all das, was ich ihnen über
       Jahre angetan habe“, entschuldigen. In früheren Aussagen hatte er noch auf
       das Leben seiner Tochter geschworen, in Oldenburg nicht getötet zu haben,
       erst später dann hatte er gestanden. Ein Gutachter bezeichnete ihn als
       „kompetenten Lügner“.
       
       Högels Worte, die Zeug*innenaussagen, der gesamte Prozess wird für die
       Angehörigen ein schwerer Weg gewesen sein. Erst verloren sie einen
       geliebten Menschen, dann mussten sie erfahren, dass ihre Mutter, ihr Mann,
       ihr Vater, wahrscheinlich umgebracht wurde.
       
       Diesen Menschen gab Rechtsanwältin Gaby Lübben, die über 100 Hinterbliebene
       vertritt, in ihrem Abschlussplädoyer ein Gesicht. Sie zeigte Fotos einiger
       Verstorbener auf den Leinwänden, erzählte aus ihrem Leben, davon, welche
       Träume sie hatten, worauf sie sich gefreut hatten und was sie nicht mehr
       erleben durften. Immer wieder brach dabei ihre Stimme. Als Lübben ihr
       Plädoyer beendet hatte, brach im Gerichtssaal Applaus aus.
       
       Staatsanwältin Daniela Schiereck-Bohlmann forderte eine lebenslange Haft
       sowie die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Högels
       Schuldfähigkeit wurde von keiner Seite angezweifelt.
       
       Allerdings ist aus Schiereck-Bohlmanns Sicht Högel bei nur bei 97 Menschen
       der überführte Mörder. Für Högels Verteidigerinnen gelten nur 55 Morde als
       bewiesen, 14 Taten stuften sie als „versuchten Mord“ ein, für alle anderen
       forderten sie Freispruch. Dass das Gericht für Högel die
       Sicherungsverwahrung anordnet, wollten weder die Staatsanwältin noch die
       Verteidigerinnen, weil aus ihrer Sicht nicht die rechtlichen
       Voraussetzungen dafür gelten. Manche Nebenklageanwält*innen sahen das
       anders.
       
       Klar ist, dass mit Abschluss des Prozesses nur ein Kapitel im Fall Högel
       geschlossen werden wird. Gegen vier ehemalige Kolleg*innen aus Delmenhorst
       wird wegen Totschlag durch Unterlassen Anklage erhoben werden. Sie sollen
       von Högels Taten gewusst und geschwiegen haben. Sobald Högel rechtskräftig
       verurteilt ist, werden diese Prozesse starten. Ermittlungen wegen desselben
       Vorwurfs laufen auch gegen Kolleg*innen aus Oldenburg, hinzu kommen die
       Vorwürfe des Meineids. Bei diesen Verfahren und Ermittlungen wird wohl auch
       die Strichliste des Stationsleiters eine Rolle spielen. Denn allein die
       Tatsache, dass diese Liste erstellt wurde, bedeute, dass bestimmte Personen
       Auffälligkeiten bemerkt und Högel im Visier hatten, sagte
       Schiereck-Bohlmann in ihrem Plädoyer.
       
       5 Jun 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Prozess-zu-Krankenhausmorden/!5592964
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marthe Ruddat
       
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