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       # taz.de -- Der Atomkonflikt: Eine unendliche Geschichte
       
       > Mit riesigen Subventionen wurde einst in Deutschland die Atomenergie
       > durchgedrückt. Jetzt geht der Streit beim Umgang mit dem Atommüll weiter.
       
   IMG Bild: Die Anti-AKW-Bewegung formiert sich: Besetzter Bauplatz bei Wyhl (31. März 1975)
       
       Berlin taz | In drei Jahren wird das letzte Atomkraftwerk auf deutschem
       Boden abgeschaltet. Dann ist Schluss mit der Atomenergie in Deutschland.
       Von wegen! Denn dann beginnt die Ära des Rückbaus der Atommeiler und der
       sicheren Endlagerung ihrer nuklearen Hinterlassenschaften. Eine gigantische
       technische Aufgabe steht an, die derzeit in einer umfassenden
       Vorlesungsreihe an der Freien Universität Berlin beleuchtet wird.
       
       Unter den Titel [1][„Der Atomkonflikt in Deutschland – bis in alle
       Ewigkeit?“] spannt das Forschungszentrum für Umweltpolitik (FFU) der Freien
       Universität Berlin in Kooperation mit dem [2][Netzwerk für Nukleares
       Gedächtnis (NeNuG)] in hochkarätigen Expertenvorträgen den Bogen von der
       Frühzeit der Kerntechnik in den 50er-Jahren über die große energie- und
       gesellschaftspolitischen Widerstandsbewegung gegen die Atomkraft bis hin
       zum Ausblick in das „Erblast“-Zeitalter.
       
       Die Reihe wolle einen „Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit leisten,
       jedoch nicht dabei stehenbleiben“, sagt FFU-Energieforscher und Organisator
       Achim Brunnengräber. „Die Erinnerungen an Vergangenes sollen vielmehr dabei
       helfen, dass wir uns daran erinnern, was besser gemacht werden kann und was
       noch zu tun ist.“
       
       Die zivile Nutzung der Atomkraft in Deutschland entsprang an ihrem Beginn
       keinem energiewirtschaftlichen Interesse, sondern war eine politische
       Setzung, wie der Bielefelder Historiker [3][Joachim Radkau] in Erinnerung
       brachte. „Das erste Atomprogramm von 1957 war ein glatter Fehlschlag“,
       berichtete Radkau. Von den unterschiedlichen Reaktortypen, die im
       „Eltviller Programm“ des Bundesatomministeriums – dem Vorläufer des
       Forschungsministeriums – aufgelistet waren, stießen nur wenige auf
       Interesse der deutschen Energieunternehmen, die mit ihren Kohlekraftwerken
       zur Stromproduktion eigentlich ganz zufrieden waren.
       
       Mit massiven finanziellen Anreizen und dem Aufbau einer staatlich
       getragenen Forschungsinfrastruktur, wie den damals entstandenen
       Kernforschungszentren in Karlsruhe, Jülich und Geesthacht, sollte der
       Industrie die Atomkraft schmackhaft gemacht werden. Die
       Umweltschutzorganisation Greenpeace hat berechnet, dass im Zeitraum 1950
       bis 2010 insgesamt 151 Milliarden Euro von staatlicher Seite in die
       wissenschaftliche Förderung und wirtschaftliche Subventionierung der
       Kernkraft geflossen sind.
       
       ## „Plutonium – das war das Ziel“
       
       In Fortsetzung seiner umfangreichen Recherchen zu „Aufstieg und Krise der
       deutschen Atomwirtschaft“, so der Titel des von ihm verfassten
       Standardwerks, hat Radkau inzwischen auch einen weiteren Motivationstreiber
       für das Interesse der Politik am Atomkomplex ausfindig gemacht: die
       Herstellung von Plutonium als Rohstoff für die Atombombe. So belege der
       Briefwechsel des Atomphysikers Werner Heisenberg mit dem damaligen
       Bundeskanzler Konrad Adenauer das erkennbare Interesse des Politikers an
       der Waffenoption. Radkau: „Plutonium – das war das Ziel.“
       
       Vor diesem Hintergrund wurde die Entwicklung des [4][Schnellen Brüters] von
       der Forschungspolitik massiv vorangetrieben, letztlich erfolglos. Auch der
       Bau einer deutschen Atombombe wäre unter dem Einfluss der Amerikaner
       niemals möglich gewesen.
       
       Als dann die Wirtschaft die Atomkraft zu ihrer Sache gemacht hatte –
       insgesamt wurden in Deutschland seit den 60er-Jahren 37
       Kernkraftwerks-Blöcke betrieben, derzeit sind noch sieben am Stromnetz –,
       war die Elektrizität aus der Kernspaltung keineswegs der ökonomische
       Renditebringer.
       
       Der Ökonom [5][Christian von Hirschhausen vom Deutschen Institut für
       Wirtschaftsforschung (DIW)] in Berlin hat sich Finanzierungsstrukturen der
       Atomkraftwerke in Deutschland und international angeschaut. Sein Befund:
       „Keiner der rund 600 Reaktoren weltweit war jemals wirtschaftlich
       wettbewerbsfähig.“ Vergünstigungen und Subventionen haben überall die hohen
       Kosten des Atomstroms bis heute verschleiert. Mit dem Vordringen der
       erneuerbaren Energien aus Sonne und Wind und ihren sich jährlich
       verbessernden Produktionskosten wird die wirtschaftliche Lage der Atomkraft
       immer aussichtsloser. Das große Geld-Thema der nächsten Jahre, das von
       Hirschhausen mit einem Forschungsprojekt begleitet, wird die Finanzierung
       der Entsorgung sein.
       
       Zu diesem Thema hatte die FU-Ringvorlesung an diesem Mittwoch einen
       prominenten Referenten: Jürgen Trittin, erster grüner Bundesumweltminister,
       stellte den [6][„Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung“
       (KENFO)] vor, dessen Kuratorium er angehört. Aus den Mitteln des vor zwei
       Jahren eingerichteten Fonds sollen bis zum Ende des 21. Jahrhunderts die
       Entsorgungskosten bestritten werden.
       
       Grundstock des Fonds ist die Überweisung von 24,1 Milliarden Euro durch die
       Kraftwerksbetreiber Eon, RWE, EnBW und Vattenfall, die sie bisher an
       Rückstellungen gebildet hatten. „Dieses Geld liegt jetzt bei der Bundesbank
       und ist damit konkursfest“, berichtete Trittin. Hintergrund war die
       Besorgnis, das bei Insolvenz der Energieunternehmen auch ihre
       Entsorgungsrücklagen in der Konkursmasse verschwinden.
       
       ## Ein Milliarden-Fond
       
       Dem sollte mit dem KENFO-Fonds begegnet werden. Mit seinem Volumen von 24,1
       Milliarden Euro stellt der Fonds die größte öffentlich-rechtliche Stiftung
       in Deutschland dar. Trittin gab Einblicke in die derzeitige Anlagestrategie
       des Fonds, der seine Mittel in ökologisch korrekte Investments anlegen
       will, um im Jahresschnitt um zwei Prozent zu wachsen. Damit könnte bis 2099
       ein Fondvolumen von rechnerisch 131 Milliarden Euro erreicht werden.
       
       Zur Abdeckung der kompletten Entsorgungskosten wird das aber nicht reichen.
       So wird von den KENFO-Experten die Endlagerung mit einem Kostenaufwand von
       169 Milliarden Euro kalkuliert, die Stilllegung und der Rückbau der
       Reaktoren mit 19,7 Milliarden. Die Kosten für die Transportbehälter
       (Castoren) tauchen mit 4,5 Milliarden Euro in der Rechnung auf.
       DIW-Energieexpertin Claudia Kemfert war in der FU-Diskussion dagegen
       skeptisch, ob sich die Zukunft der Atomenergie so genau berechnen lässt.
       Nicht auszuschließen sei, dass über die Entsorgungsfrage letztlich ein
       „Kosten-Tsunami“ hinwegfegen werde.
       
       Die interessante [7][FU-Reihe] wird am kommenden Mittwoch um 17 Uhr
       fortgesetzt, dann mit Vertretern der neuen Klimaprotestgeneration Fridays
       for Future, die sich dazu äußern, wie Jugendliche in die Standortsuche nach
       einem Atomendlager einbezogen werden können. Am 12. Juni geht es um das
       Thema „Atommüll in der Europäischen Union – eine Gemeinschaftsaufgabe?“,
       eine Woche später geht es dann um den Berliner Forschungsrekator am Wannsee
       und das dortige „Dialogverfahren zum Rückbau“.
       
       Nach einem weiteren Vortrag zu „Beteiligungsverfahren im Realexperiment“
       schließt die Reihe am 3. Juli mit dem „Ausblick: Von der Zwischen- zur
       Endlagerung – was bringt die Zukunft?“ mit dem Präsidenten des Bundesamtes
       für kerntechnische Entsorgungssicherheit (BfE) Wolfram König, und der
       grünen Bundestagsabgeordneten Sylvia Kotting-Uhl.
       
       9 Jun 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.fu-berlin.de/sites/offenerhoersaal/sose-2019-kalender-atomkonflikt/index.html
   DIR [2] http://nenug.de/
   DIR [3] http://www.joachim-radkau.de/
   DIR [4] /Vergnuegungspark-um-schnellen-Brueter/!5098729
   DIR [5] https://www.diw.de/de/diw_01.c.87779.de/ueber_uns/menschen_am_diw_berlin/hirschhausen_christian_von.html
   DIR [6] http://www.entsorgungsfonds.de/
   DIR [7] https://www.fu-berlin.de/sites/offenerhoersaal/sose-2019-kalender-atomkonflikt/index.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Manfred Ronzheimer
       
       ## TAGS
       
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
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