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       # taz.de -- Inobhutnahme durch das Jugendamt: Wenn die Mama als Risiko gilt
       
       > Das Jugendamt Hannover nimmt einer Frau ihren Säugling weg, obwohl sie
       > versuchte, sich das Leben zu nehmen, als ihre früh geborenen Zwillinge
       > starben.
       
   IMG Bild: Kein leichter Start in Leben: Das Mädchen hat Entzugserscheinungen
       
       Hamburg taz | Tatjana Schulepa befürchtet, dass man ihr ihr Kind wegnimmt.
       „Wie ihnen bereits persönlich mitgeteilt, wurde Amela am 06.06.2019 gem.
       [1][§42 SGV II] (Kinder- und Jugendhilfeschutzgesetz/siehe Anlage) in Obhut
       genommen“, schrieb ihr das Fachamt Jugend und Familie der niedersächsischen
       Landeshauptstadt Hannover. Sie habe die Möglichkeit, „unverzüglich zu
       widersprechen“, wobei sie sich gegebenenfalls an den Kosten beteiligen
       müsse.
       
       „Die wollen sie in eine Pflegefamilie geben“, sagt Schulepa. „Ich kann das
       nicht zulassen.“ Für die 28-jährige Frau ist das Schreiben ein besonderer
       Schock, weil sie vor zehn Jahren Zwillinge kurz nach der Geburt verloren
       hat. Danach versuchte sie, sich selbst zu töten und war in psychologischer
       Behandlung. „Die Vorstellung, ihr Kind abzugeben, hat zu einer psychischen
       Destabilisierung geführt“, attestiert nun ihr Hausarzt.
       
       Eine Inobhutnahme durch das Jugendamt ist bei einer „dringenden Gefahr für
       das Wohl des Kindes“ vorgesehen. Widersprechen die Erziehungsberechtigten,
       muss das Jugendamt das Familiengericht entscheiden lassen.
       
       Das hannoversche Jugendamt begründete die Inobhutnahme Schulepa zufolge mit
       ihrer Medikamentenabhängigkeit. Gegenüber der taz stellte die Pressestelle
       der Stadt Hannover eine Stellungnahme für den heutigen Dienstag in
       Aussicht.
       
       ## Dauerschmerzen nach dem Kaiserschnitt
       
       Nach ihrem Kaiserschnitt vor zehn Jahren habe sie andauernd Schmerzen
       gehabt, erzählt Schulepa, und immer stärkere Schmerzmittel genommen –
       zuletzt Tilidin, ein Opioid, das körperlich abhängig machen kann – auch das
       ungeborene Kind. „Andere Mütter verschweigen solche Sachen“, sagt Schulepa.
       „Ich wollte ehrlich sein wegen meines Kindes.“ Sie habe mehrfach versucht,
       das Medikament in der Schwangerschaft abzusetzen, sei jedoch daran
       gescheitert und habe dann die Dosis in Absprache mit ihrem Arzt reduziert.
       
       Trotzdem habe das Kind am dritten Tag nach der Geburt Entzugserscheinungen
       gezeigt, sagt Schulepa. „Sie war vermehrt unruhig.“ Aber es sei nicht so,
       dass Amela beispielsweise nicht richtig esse. „Sobald ich sie auf dem Arm
       habe, ist alles gut.“
       
       Das Jugendamt habe Schulepa aufgefordert, einen Entzug zu machen. „Ich kann
       mich nicht wochenlang stationär behandeln lassen“, sagt die 28-Jährige
       jedoch. Sie habe deshalb am vergangenen Freitag mit einem kalten Entzug
       begonnen, der von ihrem Arzt ausweislich des Attests überwacht wird. Dem
       Amt reiche das aber nicht. Erst wenn sie über Wochen nachweisen könne, dass
       sie das Medikament nicht mehr nehme, könne sie ihr Kind zurückbekommen,
       habe die Sachbearbeiterin ihr gesagt, berichtet Schulepa. Im Krankenhaus
       darf sie ihre Tochter besuchen.
       
       „Sie ist bei uns nicht in Gefahr“, sagt Schulepa, die mit ihrem
       Lebensgefährten zusammenlebt und mit diesem bereits eine elfjährige Tochter
       großzieht. Die taz hatte über die Familie berichtet, da sie aus ihrer alten
       Wohnung in Hannover [2][zwangsgeräumt] wurde und versucht hatte, sich
       gemeinsam mit Aktivisten des Netzwerks „Wohnraum für alle“dagegen zu
       wehren.
       
       Unklar ist, warum das Amt den Vater bei dem aktuellen Verfahren außen vor
       lässt. Der hat es zwar versäumt, die Vaterschaft anzuerkennen, das wäre
       aber mit einer einfachen [3][Erklärung] gegenüber einer amtlichen Stelle
       mit Zustimmung der Mutter zu bewerkstelligen. „Die wissen, dass mein Mann
       der Vater ist“, sagt Schulepa, „das Jugendamt kennt uns ja.“
       
       Der ehemalige Abteilungsleiter der Jugendhilfe in Hamburg, Wolfgang Hammer,
       findet, der Fall weise auf ein „hochaktuelles Thema“ hin: nämlich dass der
       Kinderschutz auch zu einer staatlichen Kindeswohlgefährdung werden könne.
       
       ## Übereifrige Behörden
       
       „Wenn eine Mutter zusammen mit dem Vater ihre Erziehungsfähigkeit unter
       Beweis gestellt hat, wäre eine Inobhutnahme nicht nur inhuman, sondern auch
       rechtswidrig“, sagt er. Wenn das Medikament verschrieben gewesen sei und
       die psychischen Probleme länger zurücklägen, wüsste er nicht, wo die Gründe
       für eine Inobhutnahme liegen sollten.
       
       Hammer erkennt in diesen Fällen ein Muster. 27 Fälle aus dem ganzen
       Bundesgebiet hat er auf Basis einer Aktenauswertung und
       Hintergrundgesprächen untersucht. „Das Grundmuster ist, dass manche
       Jugendämter noch so entfernt liegende Risiken ausschließen wollen und dafür
       das Risiko in Kauf nehmen, die Kinder ohne Not ihren Eltern wegzunehmen“,
       sagt der Jugendhilfeexperte.
       
       10 Jun 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://dejure.org/gesetze/SGB_VIII/42.html
   DIR [2] /Zwangsraeumung-mit-Folgen/!5429006&s=Tatjana+Dino/
   DIR [3] https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__1592.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gernot Knödler
       
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