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       # taz.de -- Die Wahrheit: Kartoffeldiebe im Einhornparadies
       
       > Als Kindheitsparadies kann auch ein verwilderter Schrebergarten dienen.
       > Doch ist dieser geheimnisumwitterte Ort ständiger Bedrohung ausgesetzt.
       
       Das Paradies war ein alter Schrebergarten, der sich hinter dichtem
       Brombeergestrüpp verbarg und von den Blocks unserer Siedlung umstellt war.
       Abends, wenn die Blocks das Licht der untergehenden Sonne reflektierten,
       glichen sie Riesen mit glühenden Augen, die sich interessiert vornüber
       beugten, um den Garten zu betrachten.
       
       „Logisch“, sagte Bolle, „denn in einem echten Paradies gibt es auch was
       Besonderes: Einen Schatz oder Früchte, die ewiges Leben spenden …“ – „…
       oder ein Einhornpony mit goldenen Locken!“, warf Bolles Schwester ein, die
       viel zu klein war, um unserer Bande anzugehören, sich aber nicht verjagen
       ließ.
       
       Nachdem wir oftmals vergebens versucht hatten, über das verschlossene
       Eingangstor zu klettern, war es Bolle gelungen, einen Weg durch das
       Brombeergestrüpp ins Paradies zu finden. Wir buddelten hier und da Löcher,
       spähten in den Geräteschuppen und stocherten im alten Laub. „Kein Schatz
       …“, murmelte Stanko, Bolles Vize, und Bolles Schwester krähte: „Und das
       kleine Einhorn hat sich versteckt, weil Ihr so ’n Krach macht!“ Bolle
       selber aber lachte triumphierend: „Dafür“, rief er und hielt ein paar
       erdige Klumpen hoch, „gibt es Kartoffeln, die ewiges Leben verleihen!“ Wir
       brieten sie auf einem Lagerfeuer und stimmten in Bolles Lachen ein, obwohl
       sie außen verkohlt, innen jedoch roh waren und fürchterlich schmeckten.
       
       Indessen hatte der Garten auch einen Hüter, und wie bei einem Paradies zu
       erwarten, handelte es sich dabei um einen hünenhaften Erzengel: Wir hörten
       den spitzen Schrei von Bolles Schwester, die mal wieder nach dem
       Einhornpony suchte, und schon schoss sie aus einem Gebüsch heraus, verfolgt
       von dem Engel, der zwei gigantische Schwingen besaß und uns aus Augen
       anglotzte, die groß wie Spiegeleier waren. „Hab’ ich euch, ihr
       Kartoffeldiebe!“, grollte er, und wir wären verloren gewesen, wenn nicht
       plötzlich zwei Männer in orangen Overalls aufgetaucht wären.
       
       „Lassen Sie die Kinder!“, herrschte einer der Overallmänner den Engel an:
       „Und was tun Sie überhaupt noch hier?“ Wir sahen jetzt, dass der Engel gar
       kein Engel war. Seine Augen wurden durch dicke Brillengläser grotesk
       vergrößert, und was wir für Schwingen gehalten hatten, waren bloß Äste, die
       aus einer Kiepe ragten. „Das ist mein Land!“, sagte er. „Nicht mehr!“,
       sagte der Overallmann und winkte zwei Polizisten herbei, die den ehemaligen
       Engel packten und wegführten. „Jaa!“, rief Bolle: „Jetzt gehört das
       Paradies uns!“ „Und das Einhornpony auch!“, ergänzte seine Schwester.
       
       Am nächsten Morgen zogen die Overallmänner einen Bauzaun um das Paradies,
       und noch vor dem nächsten Winter standen dort ein paar Reihenhäuser, deren
       kleine rechtwinklige Gärten so sauber, akkurat und langweilig waren, dass
       niemand auf die Idee kam, dort nach Schätzen, wundertätigen Kartoffeln oder
       gar dem goldgelockten Einhornpony zu suchen.
       
       11 Jun 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Joachim Schulz
       
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