URI: 
       # taz.de -- Soziologe über Niedersachsens Demokratie: „Nicht verhandelbare Kernpunkte“
       
       > Eine Studie stellt in Niedersachsen eine hohe Affinität zu
       > Verschwörungstheorien fest. Motor für den Rechtsruck sei das Land aber
       > nicht.
       
   IMG Bild: Thema nicht erst seit Facebook: englisches Pamphlet gegen eine „Popisten-Verschwörung“ (1678)
       
       taz: Herr Finkbeiner, die Menschen in Niedersachsen sind nicht „Motor“
       eines bundesweit zu beobachtenden Rechtsrucks, schreiben Sie im
       [1][„Demokratie-Monitor 2019“]. Woran machen Sie das fest? 
       
       Florian Finkbeiner: An dieser Stelle beziehen wir uns vor allem auf das
       AfD-Wahlergebnis aus unserer Sonntagsumfrage. Die elektoralen Erfolge
       dieser Partei sind in den letzten Jahren ja schließlich zu so etwas wie dem
       Symbol der gesellschaftlichen Umbrüche und Konflikte geworden. Eine in der
       letzten Zeit immer wieder geäußerte Erklärungsfolie für den Erfolg von
       Parteien rechts der Mitte besagt, dass es allein die Enttäuschten,
       Frustrierten und die sich abgehängt Fühlenden wären, von denen solche
       Parteien profitieren würden. Unsere Ergebnisse widersprechen dieser These
       zum Teil.
       
       Inwiefern? 
       
       Wir haben in unserer Studie zum Beispiel die Menschen offen gefragt, was
       sie als die wichtigsten Probleme im Land ansehen, wie viel Vertrauen sie
       beispielsweise Parteien und Politikern entgegenbringen. Betrachtet man nun
       die Antworten, dann zeigt sich relativ deutlich, wie viel Enttäuschung und
       Frustration da offensichtlich mitschwingt, wie viel Misstrauen gegen ganz
       unterschiedliche Formen von politischen Phänomenen vorhanden ist. Doch nach
       unserer Sonntagsumfrage würde die AfD hiervon kaum profitieren können.
       Wären also diese Enttäuschungen allein der „Motor“ für einen Rechtsruck,
       dann hätten die Ergebnisse dieser Partei eigentlich höher sein müssen. Aber
       das sind sie in Niedersachsen bislang nicht.
       
       Es hat sich gezeigt: Fast ein Viertel der Befragten glaubt, dass staatliche
       Behörden alle Bürger genau überwachten; nahezu ein Drittel stimmt der These
       zu, dass hinter vermeintlich unzusammenhängenden Ereignissen geheime
       Aktivitäten stünden; und sogar mehr als 43 Prozent gehen davon aus, dass
       geheime Organisationen großen Einfluss auf politische Entscheidungen
       hätten. 
       
       Diese relativ hohen Werte mögen im ersten Moment vielleicht überraschen.
       Aber betrachtet man die Ergebnisse anderer Untersuchungen wie
       beispielsweise die [2][„Mitte-Studien“ von Andreas Zick], dann zeigt sich,
       dass auch diese Werte in eine ähnliche Richtung gehen. Aber: Ganz genau im
       Detail vergleichen kann man solche Erhebungen mit unserer Studie oftmals
       nicht.
       
       Ist Verschwörungsglaube immer politisch rechts – oder ist das
       komplizierter? 
       
       Natürlich ist es etwas komplizierter. Es scheint zwar durchaus einen
       gewissen Zusammenhang zu geben, aber dies bedeutet keineswegs automatisch,
       dass Verschwörungstheorien immer politisch rechts wären. Vielmehr findet
       sich eine gewisse Affinität zu verschwörungstheoretischen Versatzstücken
       auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft sowie im politisch linken
       Spektrum. Allerdings gibt es hierbei teilweise deutliche Unterschiede, je
       nachdem, welche Indikatoren für diese Affinität betrachtet werden. Wir
       haben uns dabei besonders auf drei Fragenkomplexe bezogen …
       
       … also: staatliche Überwachung, geheime Zusammenhänge und einflussreiche
       Organisationen.
       
       Bei manchen dieser Fragen ist es keineswegs so, dass die AfD-Wähler diesen
       Aussagen unbedingt mehr zustimmen würden als beispielsweise Linken-Wähler.
       Bei einzelnen Fragen gibt es kaum wesentliche Unterschiede, bei anderen
       wiederum deutliche Differenzen. Betrachtet man allerdings das
       Antwortverhalten zu allen genannten Fragen, würde ich vorsichtig
       formulieren, dass es zumindest einen Zusammenhang gibt zwischen der
       Affinität zu verschwörungstheoretischen Erklärungs- und
       Rationalisierungsversuchen und der Neigung zur Wahl von Parteien rechts der
       Mitte.
       
       Wenn die Menschen etwa an die Existenz geheimer einflussreicher
       Organisationen glauben: Wen genau vermuten sie da am Werk? 
       
       Wenn es beispielsweise um die vermeintliche Existenz solcher geheimen
       einflussreichen Organisationen geht, dann liegt die Vermutung zumindest
       nahe, dass es sich dabei um Assoziationsformen von geheimen Machenschaften
       handeln kann. Dies wiederum wäre ein prototypisches Anzeichen von
       Antisemitismus, weil der antisemitische Wahn ja genau darin eine seiner
       Grundlagen findet, dass es „der Jude“ sei, der hinter diesen geheimen
       Machenschaften stehen würde.
       
       Aber? 
       
       Ob den Befragten eine solche Assoziation überhaupt bewusst ist oder ob
       diese damit nicht doch etwas ganz anderes meinen, all dies können wir nur
       auf Basis der bisherigen quantitativen Erhebungen nicht sagen. Diese
       inneren Zusammenhänge müssen noch tiefer gehender untersucht werden.
       
       Was Sie ja auch tun. 
       
       Genau solchen Fragen und vermeintlichen Widersprüchen, wie übrigens auch
       bezüglich der unterschiedlichen Demokratievorstellungen, gehen wir derzeit
       in unserem ersten Anschlussprojekt nach, indem wir diese qualitativ
       vertiefend untersuchen. Die ersten Ergebnisse hierzu sollen bis Ende des
       Jahres vorliegen.
       
       Wo Sie gerade den Aspekt der „Demokratie-Vorstellungen“ erwähnten: Was
       haben Sie da bisher erfahren? 
       
       Wir haben die Menschen ganz offen danach gefragt, was „Demokratie“ für sie
       bedeutet, welche Prinzipien und Leitvorstellungen sie damit verbinden.
       Dabei hat es uns gewissermaßen überrascht, dass es für unsere Befragten
       keineswegs „die eine“ Demokratievorstellung gibt, sondern dass es
       offensichtlich ganz unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, was die
       Menschen mit „der“ Demokratie verbinden. Aber es gibt gewisse Kernpunkte,
       die die meisten Befragten teilen, die dann auch nicht verhandelbar sind.
       
       „Meinungsfreiheit, Respekt vor Andersdenkenden, Chancengleichheit und
       Machtwechsel“, schreiben Sie, gehörten „für drei Viertel der Niedersachsen
       unbedingt zur Demokratie dazu“.
       
       Es zeigen sich zum Teil aber auch deutliche Unterschiede, was die
       Demokratie neben diesen zentralen Leitvorstellungen noch weiter ausmacht.
       Zum Beispiel sind die Aspekte, ob Experten über grundlegende Probleme der
       Gesellschaft entscheiden sollten oder ob eine „nationale Leitkultur“ zu
       einer Demokratie gehöre, weithin umstritten.
       
       Was mich vielleicht am meisten überrascht hat: die ausgeprägte Skepsis
       gegenüber den sozialen Medien. Die Wahrnehmung ist doch: Wer bestimmten
       Weltbildern zuneigt, wird sich eher via Facebook oder Twitter Bestätigung
       durch Gleichgesinnte suchen, als sich herausfordern zu lassen durch
       angebliche „Systemmedien“. 
       
       Natürlich entsteht oftmals der Eindruck einer politischen Verwahrlosung,
       wenn man sich teilweise Online-Kommentarspalten ansieht. Aber dieser
       Ausschnitt spiegelt offensichtlich nicht die Realität. Denn nach unserer
       Untersuchung misstrauen die meisten Befragten den sozialen Medien.
       
       Rund drei Viertel, lese ich. 
       
       Und nur ein Viertel gibt an, ihre politischen Informationen über die
       sozialen Medien zu beziehen. Es scheint auch kein Zufall zu sein, dass
       genauso wenige angeben, soziale Medien als politische Ausdrucksformen zu
       nutzen oder dort regelmäßig aktiv zu sein. Diese und weitere Faktoren –
       auch aus anderen Untersuchungen – lassen vermuten, dass die Bedeutung der
       sozialen Medien nur für einen relativ kleinen Ausschnitt aus der
       Bevölkerung zutrifft, aber gerade dieser Teil scheint besonders aktiv zu
       sein.
       
       Zur besseren Einordnung ihrer Erkenntnisse aus Niedersachsen könnte
       beitragen, wenn es bundesweite Zahlen gäbe. 
       
       Es gibt bundesweite Befragungen und Untersuchungen, die auch diese Themen
       bearbeiten. Natürlich orientieren wir uns auch an diesen Zahlen. Aber diese
       Studien arbeiten teilweise mit anderen Fragen, sodass wir diese Ergebnisse
       auch nicht immer miteinbeziehen können. Wir haben unsere Untersuchung ja
       mit Steffen Kühnel gemacht …
       
       … Inhaber des Lehrstuhls für [3][Quantitative Methoden der
       Sozialwissenschaften] an der Universität Göttingen …
       
       … der früher auch mit Wilhelm Heitmeyer an den [4][„Deutschen Zuständen“]
       gearbeitet hat …
       
       … einer ein Jahrzehnt lang regelmäßig durchgeführten Erhebung über den
       Zusammenhang zwischen sozialen und ökonomischen Verhältnissen und der
       Entwicklung von Vorurteilen gegenüber Minderheiten.
       
       Kühnel hat immer wieder auf die Schwierigkeit einer solchen
       Vergleichbarkeit hingewiesen. Wenn Fragen anders gestellt sind, gibt es
       einen ganz anderen Spielraum zur Interpretation der Antworten. Deshalb
       können bundesweite Zahlen beispielsweise zu Verschwörungstheorien nur sehr
       eingeschränkt mit unseren Zahlen verglichen werden. Zumindest aber sehen
       wir grobe Ähnlichkeiten.
       
       11 Jun 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.fodex-online.de/publikationen/niedersaechsischer-demokratie-monitor-2019/
   DIR [2] https://www.fes.de/forum-berlin/gegen-rechtsextremismus/mitte-studie
   DIR [3] https://www.uni-goettingen.de/de/27012.html
   DIR [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Zust%C3%A4nde
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alexander Diehl
       
       ## TAGS
       
   DIR Krise der Demokratie
   DIR Demokratie
   DIR Verschwörungsmythen und Corona
   DIR sozialforschung
   DIR Niedersachsen
   DIR Meinungsbildung
   DIR AfD Niedersachsen
   DIR Antisemitismus
   DIR Studie
   DIR Göttingen
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Niedersachsen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Demokratie-Befragung in Niedersachsen: Jugend schützt vor Pessimismus nicht
       
       Der Demokratie-Monitor untersucht alle zwei Jahre Einstellungen im Land.
       Zentrale Erkenntnis: Das Vertrauen in die Politik schwindet.
       
   DIR Niedersachsens Verfassungsschutz: AfD als Prüffall eingestuft
       
       Der Verfassungsschutz behandelt die AfD in Niedersachsen offenbar als
       Prüffall. Am Donnerstag sickerte die Information aus dem Landtag durch.
       
   DIR Umgang mit Antisemitismus: Unsichtbar und frei
       
       Was geht es denn euch an, wer ich bin? Unser Autor, ein jüdischer
       Schriftsteller, plädiert für das Recht, seine Identität verbergen zu
       können.
       
   DIR Debatte Analyse rechter Einstellungen: Das Manko der Mitte-Studie
       
       Die Mitte-Studie sollte antidemokratische Tendenzen aufspüren. Doch sie
       schadet dem Kampf gegen Verschwörungstheoretiker.
       
   DIR Vorwürfe gegen Göttinger Wissenschaftler: Überwachung oder Unsinn?
       
       Linke Aktivist*innen erteilen Mitarbeiter*innen des Göttinger Instituts für
       Demokratieforschung Hausverbot. Es arbeite dem Verfassungsschutz zu.
       
   DIR Forscher über Verschwörungstheorien: „An Gottes Stelle treten Verschwörer“
       
       Verschwörungstheorien sind seit der Frühen Neuzeit beliebt – und nicht
       ungefährlich. Warum gibt es sie überhaupt? Michael Butter forscht seit
       Jahren.
       
   DIR Landeszentrale für Politische Bildung: „Der Umgang muss respektvoll sein“
       
       Niedersachsen schaffte seine Landeszentrale 2004 ab. Nun ist sie wieder da.
       Leiterin Ulrika Engler über die Gründe dafür, Hate Speech und Geocaches.