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       # taz.de -- Fußball-WM der Frauen in Frankreich: Aus der Banlieue zu den Bleues?
       
       > Kheira Hamraoui ist nicht für die französische Nationalmannschaft
       > nominiert. Dabei hat die Ausnahme-Sportlerin eine Vorbildfunktion.
       
   IMG Bild: Sie ist eine Technikerin, in der Abwehr kann sie aber auch ran gehen: Kheira Hamraoui
       
       Der Lieblingsmove von Kheira Hamraoui ist der Übersteiger. Wie bei Zidane,
       sagt sie. Sie selbst kann ihn leider nicht besonders oft machen, sie spielt
       im defensiven Mittelfeld, da sind technische Sperenzchen nicht gern
       gesehen; [1][ihr FC Barcelona stand dieses Jahr im Finale der Champions
       League].
       
       Gegen den FC Bayern machte sie ein herausragendes Spiel, im Rückspiel flog
       sie mit Gelb-Rot vom Platz, wegen Meckerns. Das große Spiel gegen Lyon
       verpasste sie dann. Es ist ein Sinnbild ihrer Karriere.
       
       Ihren Werdegang hat Hamraoui mehrfach als Kampf bezeichnet. In einem
       Interview mit Saphir News sagte sie, es sei ihre Wut, ihre Zähigkeit
       gewesen, die ihr erlaubt hätten, gegen alle Widerstände Profisportlerin zu
       werden. Sie ist im verarmten Norden Frankreichs aufgewachsen, in Roubaix,
       und beginnt das Fußballspielen auf der Straße, mit den Jungs des Viertels.
       
       Erst als sie neun Jahre alt ist und erst, nachdem sie zuvor mehrfach
       abgelehnt worden ist, tritt sie einem Fußballclub bei. Häufig genug, sagt
       sie, sei sie das einzige Mädchen der Mannschaft gewesen. Sie wechselt nach
       St. Étienne, später zu Paris Saint-Germain und Lyon.
       
       ## Die neuen Ikonen
       
       Die ersten Riots in den französischen Vorstädten starten Ende der 70er
       Jahre, sehr schnell intensivieren sich die Auseinandersetzungen. Die
       französische Regierung, die bisher die Bedürfnisse und Härten der ersten
       und zweiten Einwanderungsgeneration weitgehend ignoriert hatte, versucht
       die Situation zu befrieden.
       
       Da Frankreich seit dem Ölschock wirtschaftlich stagniert, ist für
       tatsächliche Verbesserungen wenig Geld da. Rigide polizeiliche Maßnahmen
       wechseln sich mit kulturellen Aufhübschungen des Lebensumfeldes ab. In
       manchen Banlieues beginnt man zu scherzen, dass man wohl erst zwei Dutzend
       Autos anzünden müsse, damit der Stadtpark des Viertels wieder in Stand
       gesetzt wird.
       
       Eine wichtige Rolle kommt dem Sport zu. Die linke Regierung unter Präsident
       Mitterrand setzte als Erste ein Förderprogramm auf, dem seither alle
       weiteren Regierungen folgen. Es schien eine Win-win-Situation zu sein: Die
       Sportclubs kosteten durch viel ehrenamtliche Arbeit weniger Geld, die
       Jugendlichen waren beschäftigt, und aus den Banlieues kamen neue Ikonen,
       die sowohl den Jugendlichen aus den Vororten als Role Models dienten als
       auch die gloire de la nation mehrten.
       
       ## Für hunderte Kinder gibt es keinen Platz in Fußballclubs
       
       Frankreich, bis dahin eine notorisch erfolglose Sportnation, begann
       plötzlich, international Titel zu gewinnen; bis hin zum Höhepunkt des
       Siegestaumels 1998, als Zidane und Les Bleus bei der Heim-WM den Titel
       holten.
       
       Die Helden von einst wollen die Politik von damals fortführen. „Ein durch
       den Sport disziplinierter Jugendlicher ist ein geretteter Jugendlicher“,
       heißt es in einem Appell von Ex-Tennisspieler Yannick Noah an Präsident
       Emmanuel Macron. Ein Schlachtplan zur Rettung der perspektivlosen Jugend
       sei alternativlos; die Arbeitslosenquote bei unter 30-Jährigen in den
       ärmeren Vorstädten liegt bei 35 Prozent.
       
       Macron selbst hat einen Sonderbeauftragten eingesetzt, der Vorschläge
       einreichen sollte. Statt diese Vorschläge umzusetzen, hat Macron sich dazu
       entschieden, eine „neue Herangehensweise“ zu wählen, die Kritikern eher
       vorkommt wie eine uralte Strategie: ein bisschen mehr Polizei, und der Rest
       sind warme Worte, große Gesten.
       
       Dabei bräuchten die chronisch unterversorgten sensiblen Viertel eine
       tatkräftige, auch praktische Unterstützung. Es fehlt an Infrastruktur, es
       fehlt auch an professionellen MitarbeiterInnen. Die Zeitung Le Parisien
       berichtet, dass in einem Vorort wie Pierrefitte nördlich von Paris 200 bis
       300 Kinder pro Jahr vom Club abgewiesen werden müssen, weil die Mittel
       nicht ausreichen, und das bei einer Gesamteinwohnerzahl von 30.000
       Menschen.
       
       ## Das Leben einer Profifußballerin ist prekär
       
       Besonders vom Ausschluss bedroht: die Mädchen und Frauen der Vororte.
       Insgesamt steigt die Anzahl der Frauen im französischen Fußballverband. Um
       die Jahrhundertwende herum waren es an die 35.000 lizenzierte Kickerinnen,
       im Jahr 2016 bereits 103.000. Es ist aber ein Wachstum auf überschaubarem
       Niveau: Nur ungefähr fünf Prozent der Verbandsmitglieder sind weiblich.
       
       Und gerade in den sensiblen Vierteln ist es schwierig für fußballspielende
       Frauen: die Kaskade des Mangels – Mangel an Plätzen, Mangel an Trainern,
       Mangel an Material – schlägt sich dort besonders nieder. Im gesamten
       Frankreich betreiben 63,7 Prozent der Frauen einen Sport, in sensiblen
       Vierteln sind es nur 44,2 Prozent.
       
       Es ist nicht nur die Infrastruktur, es kommen auch kulturelle Vorurteile
       hinzu. Noch immer hält sich die Idee, dass ein Kontaktsport wie der Fußball
       den weiblichen Körper entfraulicht, dass der eine Brutstätte der
       Homosexualität sei.
       
       Es fehlen auch wichtige Push-Faktoren: Während eine Karriere als
       Profisportler für einen jungen Mann in der Banlieue ein lukratives Ziel
       sein kann, und angesichts der Jugendarbeitslosigkeit nicht einmal der
       unwahrscheinlichste, ist das Leben einer Profifußballerin in aller Regel
       prekär. Weltklasse-Spielerinnen verdienen zwischen 120.000 und 150.000 Euro
       im Jahr, und auch das nur bei den ganz großen Vereinen; also ungefähr das,
       was ein Drittligaspieler bei den Männern verdient.
       
       In der deutschen Frauen-Bundesliga liegt der Durchschnitt bei 39.000 Euro.
       Frauensport ist privates Vergnügen, kein Mittel des sozialen Aufstiegs.
       Hamraoui würde wohl nicht unwesentlich weniger verdienen, wäre sie – wie
       ihre großen Brüder – in den Bäckereibetrieb der Eltern eingestiegen.
       
       Ganz im Sinne Macrons wird mit Großveranstaltungen die Hoffnung verbunden,
       der Frauensport würde als Ganzes aufgewertet. Bisher ist diese Hoffnung
       immer enttäuscht worden. Auch Hamraoui bezeichnet nur Männer als Vorbilder,
       neben Zidane noch Karim Benzema und Ngolo Kanté. „Gesellschaftlich gesehen
       ist die Frau nichts ohne den Mann“, schrieb Simone de Beauvoir; der Sport
       ist dafür ein beredtes Beispiel, immer noch.
       
       Kheira Hamraoui wurde nicht für die WM im eigenen Land nominiert. Schon vor
       Jahren hatte sie das Turnier als Höhepunkt ihrer Karriere bezeichnet. Aber
       sie passe nicht in dieses „funktionierende Kollektiv“, hatte [2][die
       französische Nationaltrainerin Corinne Diacre] gesagt.
       
       7 Jun 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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