URI: 
       # taz.de -- Intendanz der Berliner Volksbühne: Arbeiten am Mythos
       
       > Kultursenator Klaus Lederer beugt sich der alten Theatercrew: René
       > Pollesch wird 2021 Intendant der Berliner Volksbühne.
       
   IMG Bild: Historisch: Klaus Lederer (links) ernennt den zukünftigen Volksbühnen-Intendanten René Pollesch
       
       Berlin taz | Berlins Kultursenator Klaus Lederer hat entschieden: Die
       Berliner Volksbühne wird ab der Spielzeit 2021/22 von René Pollesch
       geleitet. Damit geht das Haus an einen Regisseur, der unter der 25-jährigen
       Regentschaft Frank Castorfs groß wurde. Und der heute mit gutem Ego
       ausgestattet ist – und um seinen Stellenwert weiß.
       
       „Das postdramatische Theater, zu dessen wichtigen VertreterInnen ich
       gehöre, ist eigentlich eine Brecht-Dramatik ohne Brecht“, sagt Pollesch auf
       der Pressekonferenz am Mittwoch in der Volksbühne. Und es sei ein Theater,
       „in dem das Drama nicht auf der Bühne entsorgt wird, sondern im Kopf der
       Beteiligten ankommt“, so Pollesch weiter.
       
       Er bezeichnete sich mehrfach als Autor, der seine Inszenierungen mit den
       Schauspieler*innen, Künstler*innen und dem Handwerk gemeinsam erschaffe.
       Der klassische Regie und Rollen im partizipativen Spiel überwunden hätte.
       Und als einen, der nach dem Streit über die Castorf-Nachfolge nun die
       Belegschaft, das ganze Haus mitnehmen wolle, wenngleich er sich nicht als
       Klein Castorf begreife: „Ich bin ganz klar von Castorf zu unterscheiden.“
       Das ist er in seiner ästhetischen Praxis sicherlich. Aber auch als
       Intendant?
       
       ## Den Kräften der Stadt nachgegeben
       
       Lederer und die Linke, so scheint es, haben den Kräften in der Stadt
       nachgegeben, die ihnen in der Kulturpolitik eine Fortsetzung eines
       Blockbusters versprachen. Eines, wohlgemerkt, den das Publikum und die
       Leute am Hause zwischendurch gar nicht mehr selber sehen wollten. Die
       Volksbühne als „Die Kinder Castorfs Teil 3“ könnte so jetzt ein riskantes
       Spiel werden, das auch schon in der Castorf-Ära die Hälfte seiner
       Auslastung nur durch theaterferne Events und im Bereich der Popkultur
       erzielte. Diese waren die Ansaugstutzen, um all die jungen und eher
       theaterskeptischen Leute in den Musentempel zu kriegen.
       
       Auf der Pressekonferenz machte Pollesch sehr deutlich, dass für ihn
       weiterhin das Theater vor allem aus dem Theater lebt. Und er verschanzte
       sich außer hinter dem großen Brecht hinter den großen Namen der Berliner
       Volksbühnen-Schauspieler-Szene. Er berief sich auf so prominente
       MitstreiterInnen wie Kathi Angerer, Martin Wuttke, Fabian Hinrichs,
       Christine Groß oder Sophie Rois. Letztgenannte muss allerdings noch ihren
       Vertrag am Deutschen Theater erfüllen.
       
       Er schwärmte von jüngeren Kräften wie Florentina Holzinger und versprach,
       Ida Müller zur Chefbühnenbildnerin zu machen. Aber auch wenn er sagte, er
       stelle kein trojanisches Pferd dar, durch das die alten Volksbühnen-Kräfte
       nun allesamt zurückkehrten, so klang doch so manches danach. Die
       Pressekonferenz lebte doch sehr vom reichlich angemoosten
       Volksbühnen-Mythos, dessen Wiederauferstehung Pollesch letztlich
       verspricht, ohne Castorf sein zu wollen.
       
       ## Erleben wir hier die Immunisierung gegen Kritik?
       
       Denn es klingt von Pollesch arg selbstbezüglich, wenn er, der
       Antiautoritäre, mit Verweis auf die eigene Praxis und die tolle
       Schauspielkunst des (alten und) künftigen Ensembles weiteren Fragen zum
       Theater ausweicht oder einen abgehalfterten (autoritären) Salonmaoisten
       wie Alain Badiou rhetorisch ins Felde führt, von dem er annehmen kann, dass
       ihn keiner der anwesenden Theaterkritiker*innen hier kennt.
       
       Von einem künftigen Intendanten aus dem alten Volksbühnen-Lager kann man
       wahrscheinlich nicht erwarten, dass er auch die Problemchen anspricht, die
       zu den Krisen unter Castorf führten. Und für die dieser vielleicht auch
       weniger als die Politik kann. Die könnte ja die Laufzeit der Intendanzen
       generell auf zwei fünfjährige Legislaturen begrenzen, mehr Frauen oder auch
       Quereinsteiger berufen, überhaupt geschlechts-, herkunfts-, genre- und
       spartenübergreifender arbeiten lassen. Zu kompliziert für eine
       Pressekonferenz? Oder erleben wir hier die Immunisierung gegen Kritik: Tut
       ja alles der Pollesch schon.
       
       Der 1962 im hessischen Friedberg geborene Pollesch kann für seine eigene
       Praxis tatsächlich vieles beanspruchen. Aber er wird ja sicherlich nicht
       die ganze Volksbühne dominieren. Man denke nur an all die vielen klingenden
       Namen, die durchaus wie Pollesch mit kräftigem Ego ausgestattet sind.
       
       Pollesch wurde berühmt, als er von 2001 bis 2007 die kleine Spielstätte der
       Volksbühne im Prater leitete. Seine Prater-Trilogie und -Saga besaßen
       subkulturellen Charme. Auf der von Bert Neumann ausgestalteten „Wohnbühne“
       inszenierte er oftmals eher im Klubformat, ein Spiel aus Unmittelbarkeit
       und Distanz, das Publikum in nächster Nähe. Er griff zeitgenössische
       Diskursthemen mit Pop- und Glamfaktor auf, bot radikaltheoretische
       Trümmercollagen mit Gesang und opulenten Verkleidungen, die an den früheren
       Fassbinder erinnerten.
       
       ## Dercon hatte als Nachfolger Castorfs unglücklich agiert
       
       Nachdem die Volksbühne unter der Dauerregentschaft Frank Castorfs zunehmend
       erschöpft wirkte, durfte Pollesch schließlich – und mit Erfolg! – auch im
       großen Haus inszenieren. Zuletzt etwa 2015 eine „Oper“ mit dem Titel „Von
       einem, der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte“ unter
       Mitarbeit von Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow mit Lilith Stangenberg und
       noch ein letztes Mal im Bühnenbild Bert Neumanns.
       
       Im Streit über die Castorf-Nachfolge solidarisierte er sich mit der
       Fraktion, die Chris Dercon als Castorf-Nachfolger auf keinen Fall
       anerkennen wollte. Nachdem die Linke Ende 2016 in die Regierungskoalition
       mit SPD und Grünen eintrat, machte ihr Kultursenator Klaus Lederer von
       Anfang an klar, dass er sich von Dercon trennen würde. Im April 2018 löste
       der Senat den mit Dercon geschlossenen Vertrag „im beiderseitigen
       Einverständnis“ auf.
       
       Dercon hatte als Nachfolger Castorfs ab der Spielzeit 2017/18 tatsächlich
       unglücklich agiert. Der belgische Kunstkurator und Theaterwissenschaftler
       kannte (Ost-!)Berlin und den Mythos Volksbühne viel zu wenig. Er wurde
       schnell als eine Art internationale Theaterheuschrecke karikiert. Im alten
       Volksbühnenumfeld sind manche noch heute stolz darauf, dem Fremdling Bier
       ins Gesicht gekippt zu haben.
       
       Ach ja, die Ostalgie. Auch damit wird Pollesch, bald zu tun bekommen. Und
       es dürfte ihn vielleicht gar nicht so gut schmecken.
       
       Eine verunglückte Episode mit Dercon, eine stabilisierende und geglückte
       mit dem jetzigen Interimsintendanten Klaus Dörr später, und nun muss
       Pollesch, der neben Castorf wie kein anderer zuletzt die Volksbühne
       ästhetisch prägte, beweisen, dass da noch mehr geht. Aber Sehnsuchtsorte
       existieren meist nur temporär.
       
       12 Jun 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Fanizadeh
       
       ## TAGS
       
   DIR Berliner Volksbühne
   DIR René Pollesch
   DIR Klaus Lederer
   DIR Nachruf
   DIR Schwerpunkt Utopie nach Corona
   DIR Kultur in Berlin
   DIR Tanz
   DIR Berliner Volksbühne
   DIR Benito Mussolini
   DIR Berliner Volksbühne
   DIR Berliner Volksbühne
   DIR Alexander Scheer
   DIR Berliner Volksbühne
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR René Pollesch ist gestorben: Nichts ist okay
       
       Er war Intendant der Berliner Volksbühne, vor allem aber Autor und
       Regisseur: René Pollesch. Mit 61 Jahren starb der Virtuose des
       Diskurstheaters.
       
   DIR Corona-Talk mit Schirach und Kluge: Das Strahlende und das Schreckliche
       
       Alexander Kluge und Ferdinand von Schirach verabredeten sich zum Reden über
       die Corona-Pandemie. Nun erscheint ihr Dialog „Trotzdem“ als E-Book.
       
   DIR Berlins Kultursenator Klaus Lederer: „Ich mache wohl nicht alles falsch“
       
       Der beliebteste Politiker des Landes über eintrittsfreie Museen, die
       Förderung von Frauen, Kultur als sozialen Kitt und die Kritik der Freien
       Szene.
       
   DIR „Tanz“ von Florentina Holzinger: Kampf der Körper
       
       Die neue Inszenierung der Wiener Choreografin Holzinger geht buchstäblich
       unter die Haut. In ihrem Stück macht sie das Ballett selbst zum Thema.
       
   DIR René Pollesch im Friedrichstadt-Palast: Im Gleichschritt einsam sein
       
       Diskursrevue mit Lasershow: René Pollesch inszeniert im Berliner
       Friedrichstadt-Palast „Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung
       der Welt“.
       
   DIR Zum Tod von Franco Zeffirelli: Die erlösende Kraft des Stars
       
       Barocke Kulissen, gefährliche Nostalgie: Opern- und Filmregisseur Franco
       Zeffirelli ist tot. Er galt als letzter Bewahrer hemmungsloser Kunstwerke.
       
   DIR Neuer Intendant an Berliner Volksbühne: Restaurierung des Biotops Ost
       
       Kultursenator Klaus Lederer ernennt René Pollesch zum neuen
       Volksbühnen-Intendanten ab der Saison 2020/21. Richtig so? Ein
       Wochenkommentar.
       
   DIR „Staub zu Glitzer“-Mitglied zu Pollesch: „Wir wollen kollektive Strukturen“
       
       Die Volksbühne bekommt mit René Pollesch einen neuen Intendanten. Das Haus
       müsse grundlegend umstrukturiert werden, sagt Aktivistin Sarah Waterfeld.
       
   DIR Film zum Ende von Castorfs Volksbühne: Ein Denkmal für die Renitenz
       
       Ein Jahr lang hat Andreas Wilcke Castorf und sein Ensemble begleitet. Um
       jetzt eine Liebeserklärung – was sonst – ins Kino zu bringen.
       
   DIR Neustart an der Berliner Volksbühne: Mehr als ein Lückenfüller
       
       Interimsintendant Klaus Dörr präsentiert sein neues Ensemble und Programm
       für die Volksbühne. Das könnte interessant werden.